Das Paradies ist eine Prostituierte

Im globalen Süden entsteht die russische Parallelgesellschaft – Szenen eines vermeintlichen Kulturkriegs

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Das Muster ist wohlbekannt. Erst kommen sie als Urlauber, finden alles angenehmer als zu Hause – vor allem alles so angenehm günstig. In der nächsten Saison kehren sie zurück, bleiben wieder für zwei Wochen, beginnen Ferienwohnungen und –häuser zu kaufen, später nisten sie sich in der Fremde für immer ein. Auf diese Weise entstanden englische, holländische und deutsche Traumsiedlungen im globalen Süden. Dabei haben die Dauerurlauber in den seltensten Fällen eine andere Beziehung zu ihrer neuen Heimat als die gewöhnlichen Touristen: Sie leben in einer Parallelgesellschaft. Nach dem europäischen Vorbild zieht nun der russische Trek gen Süden. Die Bestürzung, die darüber beispielsweise in Deutschland laut wird, spricht Bände über die blinden Flecken der westlichen Paradiese. Immerhin tritt mit der "russischen Invasion" zu Tage, dass sie käuflich sind – und dabei spottbillig, schmutzig und laut. Die verhassten „Russen“ sind allerdings etwas mehr als ein Spiegel der Deutschen.

Vor mehr als dreißig Jahren reagierte "Stern" auf die Expansionsbewegung europäischer Touristen mit einer bissigen Titelstory. Die deutsche Wochenzeitschrift titelte damals "Die Weißen kommen!" und stellte Urlauber, die im globalen Süden hausieren gingen, als schamlose Hinterwäldler dar. Die Geschichte zeichnete zwar den Einfall der Deutschen in Afrika nach, die Berichte hätten aber auch in der Türkei entstehen können, wo Urlauber aus Westdeutschland vor allem in Alanya den Himmel auf Erden finden sollten – heute leben in der türkischen Kleinstadt mehr als zehntausend Deutsche. Busse mit deutschen Urlaubern werden dort bisweilen auch außerhalb der Saison wie am Fließband abgeladen.

Die Türken nahmen die Nachfrage bald als Chance wahr. Alanya und andere Orte wuchsen im Windschatten des touristischen Booms zu Städten heran. Viele Ortsansässige lernten Deutsch. Straßenschilder, Hotelnamen und Supermärkte – all das ist den Besuchern aus dem kalten Norden angepasst worden.

Überhaupt scheint die gesamte Urbanisierung die Ansprüche der "anderen" berücksichtigt zu haben. Nicht zuletzt die Spielregeln in der heranwachsenden Stadt wurden ihren Erwartungen angepasst. Beispielsweise dürfen in Alanya umherlaufende Hunde und Katzen heute nicht mehr erschossen werden. Es heißt, die Deutschen seien ziemlich empfindlich mit ihren Haustieren.

Die Hyänen des Tourismus

Als letzte Woche "Stern" die Ausgabe "Die Russen kommen" herausbrachte, suchte man vergeblich nach Verweisen auf die Ausgabe von vor dreißig Jahren. Was bald allenthalben ausverkauft sein sollte, kam ebenfalls ohne eine kritische Selbstreflexion aus. In einem mittlerweile typischen Boulevardstil wurden "die Russen" als das Verderben schlechthin portraitiert. Während die Reportage aus dem Jahr 1973 vergleichsweise seriös und nachdenklich war, polterte der neue Titelbericht entlang rassistischer Bahnen wie ein gehirnamputierter Quentin Tarantino-Film, der das Kinogedächtnis aller erdenklicher Alien- und Fremdenhassreferenzen beraubt.

Welche Vorurteile haben wir gegenüber Russen bzw. ehemaligen Ostblocklern im Allgemeinen? Was stört uns an Fremden und Andersdenkenden, Andersfühlenden sowie Anderssozialisierten? Wer nach den ersten Paragrafen noch gedacht haben mag, dass es sich bei der bauchgesteuerten Beantwortung dieser Fragen um Satire oder grobschlächtige Ironie handelt, wurde bald eines Besseren belehrt. Der Artikel endet als ernstgemeinte Anklageschrift und verzweifelter Hilferuf mit den Worten: "Oh Herr im Urlaubshimmel! Welche Prüfungen hältst du noch für uns bereit?"

Nach der Naturkatastrophe im Indischen Ozean und wiederholten Terroranschlägen in Touristenzentren nun auch schlechte Sitten am Strand, geschmackloses Aussehen und das Auftreten in Horden – kurz: die Invasion "der Russen". Die Weltmeister im Reisen, wie ein Soziologe die Deutschen nennt, kommen nicht zur Ruhe. Ständig verdunkelt sich das Paradies aufs Neue, wiederholt herrscht Krisenstimmung im globalen Süden. Die Entwicklung hat mit den "Russen" einen gemeinsamen Nenner und einen Sündenbock zugleich. Tatsächlich versteht es die Wochenzeitschrift, "die Russen" als Bindeglied zu nutzen, um alle genannten Probleme in einen Zusammenhang zu stellen:

Russen gelten als unerschütterlich und krisenresistent. Attentate schrecken sie nicht, Naturkatastrophen sind ihnen wurscht.

Die letzte Tsunami-Welle in Südostasien sei kaum abgeflossen, da sollen im "kalten Mütterchen Russland schon die Düsen der Ferienflieger warm" gelaufen sein. Urlaub in den vielen intakt gebliebenen Hotels, etwa im thailändischen Phuket, sei monatelang "allein an Russen zu verramschen" gewesen. Schließlich wird eine Animateurin zitiert: "Wenn es billig ist, haben die Russen niemals Angst".

Der "Stern" geht nicht soweit, aber unter dem Strich erscheinen die „Russen“ im Spiegel der Medien wie die Aasgeier und Hyänen des Tourismus. Sie sind dort anzutreffen, wo das Paradies vom morbiden Geruch des Untergangs umweht wird. Sie machen Urlaub an Orten, die der Tourismus als Schrottplatz, Abfallhaufen oder Schlachtfeld hervorbringt. Doch neben Ruinen sind ihnen angeblich auch die "Lieblingsstrände der Deutschen" zu Kopf gestiegen. Vor allem die Urlaubsorte an der türkischen Riviera. Wie passt das zusammen?

Rusissche Fantasien im globalen Süden, die nach und nach wahr werden (Kremlin Palace an der türkischen Riviera)

Symptome einer tiefgreifenden Krise

Man könnte argumentieren, dass "die Russen" keine Unterscheidungen treffen können zwischen faulem und frischem Fleisch. Dass sie alles nehmen, wie es kommt, dass sie keine Grenzen kennen und dass sich Deutschland gerade deshalb so aufregt, weil das Gebaren "der Russen" ihre Urlaubsorte zu Schrottplätzen, Abfallhaufen oder Schlachtfeldern des Tourismus degradiert. Die Fotos, die der "Stern" auf dem Cover abgedruckt hat, deuten darauf hin: Ekel und Empörung treten angesichts der Tatsache zu Tage, dass "die Russen" wie Tiere die Urlaubsparadiese samt ihren Stränden, Hotels und der Aufmerksamkeit lokaler Dienstleister erobern. Die Frage drängt sich auf, ob der Ekel und die Empörung deshalb so groß sind, weil "die Russen" mit ihrer Erscheinung an Kapitel der touristischen Expansion erinnern, die längst zu den Akten gelegt worden sind. Etwa an die Zeit, als der "Stern" titelte: "Die Weissen kommen!".

Bei genauerer Betrachtung erscheint die "Invasion der Russen" wie ein Echo der Zeit, als die Deutschen im globalen Süden die erste Welle der Germanisierung einleiteten und regelrechte Kolonien entstehen ließen. Wird Mallorca heute nicht als südlichstes Bundesland gehandelt? Ungern wird man sich an seine eigenen Gehversuche im Paradies erinnern. Noch größeres Unbehagen dürfte jedoch eine Einsicht verursachen, die sich in diesem Zusammenhang unweigerlich auftut. Stets ist von deutschen Stränden die Rede, von deutschen Hotels und Straßen, die jetzt russische Namen erhalten – aber das Paradies ist eine Prostituierte: Es hält nichts von Treueversprechen, gefühlsbedingten Besitzansprüchen und Eifersucht. Es ist käuflich und orientiert sich am Konsumverhalten der Kundschaft. Wer zahlt, wird bedient. Und die erste Mittelschicht Russlands nach dem Zusammenfall des Ostblocks hat Geld und will es ausgeben.

Wenn jetzt an der türkischen Riviera Hotels im Zuckerbäckerstil gebaut werden, dann sind das erste Ikonen einer im Entstehen begriffenen Parallelgesellschaft, die im Zeichen der russischen Nation steht. Wenn vor dreißig Jahren neben den Deutschen auch Platz für die Briten, Franzosen und Belgier blieb, so wird auch heute der Boden im globalen Süden für die russischen Enklaven ausreichen. Die sich derzeit bietenden Szenen des Aufruhrs sind demnach auch Szenen eines Ausdifferenzierungsprozesses, in dem über Terrain, Status und Prestige gestritten wird. Die Unruhe, die angesichts der "russischen Invasion" aufkommt, hat aber noch einen ganz anderen Grund - und der ist auch die eigentliche Antwort auf die Frage, wie "die Russen" in den Massenmedien als Bindeglied zwischen türkischer Riviera und den Schrottplätzen des Tourismus in Erscheinung treten können.

"Die Russen" sind die neusten Platzhalter in einem Diskurs über die Krise der perfekten Gegenwelt. Terror, Krieg und Naturkatastrophen dienen normalerweise dazu, diese Krise zu verhandeln. Im Sommerloch dürfen es dann auch schon Orte sein, die in der Aufmerksamkeitsökonomie nicht als Hot Spots gehandelt werden. Aber Frieden herrscht auch dort nicht. Der "Stern" spricht von einem Kampf der Kulturen. Mit seiner geladenen Titelstory setzt er auch alles daran, diesen Eindruck zu erwecken. Doch handelt es sich wirklich um einen Zusammenprall der Zivilisationen? Der Vergleich zu der Titelgeschichte von vor dreißig Jahren legt nahe, dass der Konflikt einen anderen Charakter hat. Gestern "Weisse gegen Schwarze", heute "Deutsche gegen Russen". Anders gesagt: Gestern ein Clash of Civilizations, heute ein Clash within Civilization.

Der sensationslüsterne Fokus auf den Konflikt-Aspekt verstellt den Blick auf die Feinmechanik, die dieser Verschiebung zu Grunde liegt. Und damit den Blick auf Lösungen aus der besagten Krise. Immerhin lässt eine nüchterne Betrachtung der Situation im globalen Süden erkennbar werden, dass die Krise des Paradieses nicht auf irgendwelche Aliens, sondern auf Reibungen innerhalb der touristischen Expansion zurückzuführen ist.