"Jeder sollte die Chance haben, ein Computerspiel zu gewinnen"

Game Convention Developer's Conference 2005 Teil 2: Computerspiele für Frauen über 45

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Noch immer ist die überwiegende Zahl der Spieler männlich, drehen sich die Spielkonzepte um Kampf, Action und Strategie in immer komplexeren und realistischeren Spielewelten. Dass es hier aber auch entgegengesetzte Entwicklungen gibt, mit der Absicht, Zielgruppen zu erschließen, die bislang noch nicht spielten, konnte Jessica Turns, Director of Partner Development Trymedia Systems, in ihrem Vortrag zur Veröffentlichung und Verbreitung (Distribution) von Casual Games zeigen.

Im Vergleich zu ihren großen Brüdern, den Core Games, die mittlerweile vornehmlich auf DVD vertrieben werden, sind Casual Games nur 5 bis 10 MB groß und enthalten 10-30 Stunden Gameplay. Der Markt der Casual Games weist eine exponentielle Wachstumsrate auf: Die Spielerzahlen verdoppeln sich alle ein bis zwei Jahre und allein in den USA werden bis 2008 Umsätze in der Höhe von zwei Milliarden US-Dollar erwartet.

Anders als PC und Konsolenspiele, die (noch) vorwiegend über den Einzelhandel vertrieben werden, werden Casual Games von Portalen wie Yahoo Games, MSN Games, AOL Games, Nickolodeon Online oder auch spezifischen Webauftritten wie Big Fish Games heruntergeladen.

Jessica Turns, Partner Development Trymedia Systems (Bild: Karin Wehn)

Um potenzielle Kunden zum Kauf zu bewegen, wird meist die bewährte „hook and bait“-Strategie (wörtlich: Haken und Köder) angewandt: Der interessierte Spieler wird mit einem „free game“ gelockt, darf das Spiel 60 min lang testen, im Idealfall lang genug, dass er „anbeißt“, danach wird er zur Kasse gebeten. Von den so heruntergeladenen Spielen werden zwar nur ca. 1-2 Prozent tatsächlich verkauft (zwischen 5000 und 20000-mal), aber sie verkaufen sich längere Zeit und zu einem höheren Preis als PC- oder Konsolen-Spiele.

Daneben gibt es auch Seiten, die Spiele auf einer Abo-Basis anbieten. Wieder andere Casual Games werden umsonst vertrieben, und ihre Entwicklung und ihr Hosting durch Werbung finanziert.

Der typische Preis für ein Online-PC Spiel liegt bei 14,95 US-Dollar. Interessanterweise gibt es Hinweise darauf, dass Spiele, deren Preis angehoben wurde, sich auf einmal besser verkaufen als zu dem billigeren Preis zuvor. Casual Games-Spieler sind eher bereit, regelmäßig kleinere Summen zu zahlen, kommen dann aber durchschnittlich auf die beträchlichte Summe von 70 US-Dollar pro Monat, die sie bereit sind, für das Zocken auszugeben.

Immersive Spielwelten mit einfachen Spielprinzipien

Jessica Turns betonte mehrfach, dass Casual Games vor allem intuitiv spielbar, einfach zu bekommen und „Fun, fun, fun“ sein sollten, um erfolgreich zu sein. Auch sollte die Spielerklärung nicht mehr als einen Bildschirm betragen. Dies begründete sie unter anderem mit den unterschiedlichen Zielgruppen, die Core Games und Casual Games spielen.

„Ein Casual Gamer ist jemand, der sich selbst nicht als Gamer betrachtet, und der sich nicht dafür interessiert, Spiele-Titel zu kaufen, die über den Einzelhandel vertrieben werden wie z. B. Halo oder Warcraft III. Casual Gamers lesen keine Spiele-Zeitschriften, sie reden selten mit ihren Freunden über das Spielen und Spielen hat für sie keine vorrangige Bedeutung. Casual Gamers sind durchschnittlich 45 Jahre alt, weiblich und verheiratet – weisen also eine fast entgegengesetzte Demographie auf als die klassischen Gamer-Zielgruppen“. Jessica Turns.

Während Core Gamers überwiegend männlich, über 35 Jahre alt sind und 80 Prozent von ihnen aus den USA stammen, werden Casual Games überwiegend von Frauen über 45 Jahren gespielt, die über ein geringeres Einkommen als Core Gamers verfügen, von denen aber auch nur 50 Prozent aus den USA stammen. „Connectivity“ und „portability“ sind die Schlagworte der Zukunft: Turns prognostiziert wie viele andere, dass bald überall und immer gespielt wird.

Sie warnte auch davor, dass bei Casual Games die gängigen Marketingstrategien von Core Games nicht funktionieren würden. Weder einen „Hype“ um aktuelle Spiele in Computerspielzeitschriften zu kreieren, wäre erfolgreich, noch wären Spiele auf Basis von Lizenzen (z. B. Harry Potter) oder zu schwieriges Gameplay sinnvoll. Stattdessen sollte das Gameplay von Casual Games mindestens zweimal so einfach sein wie das von Core Games, so ihr Rat.

Hardcore-Gamer, deren Spielfertigkeiten olympiareife Züge annehmen, genießen in der Spieler-Szene schon lange hohes Ansehen. Bei aller Bewunderung für das Können mancher Spieler und der Komplexität, die die Spiele den Spielern abverlangen, wird oft übersehen, dass ein solches Gameplay nur einem Teil der Spieler-Gemeinschaft gerecht wird. Wie schon die Casual Games zeigen, haben nicht alle Spieler hohe ehrgeizige Ziele, sondern suchen viele eher den zwanglosen Zeitvertreib. Für jene ist das nach Rekorden strebende Gaming kein Erfolgserlebnis, sondern schlichtweg Frustration.

Den Spieler ruhig mal übers Ohr hauen

Dies war Anlass für Peter Molyneux, der auf der GCDC Lionhead’s kurz vor der Veröffentlichung stehende Spiele wie The Movies und Black & White 2 vorstellte, zu fordern, dass jeder Spieler eine Chance haben sollte, ein Spiel durchspielen zu können, um ein Erfolgserlebnis zu haben. Sein Credo waren Einfachheit auf allen Ebenen und immersive Spielewelten. Rockstar’s GTA-Serie als Vorbild nehmend, die dem Spieler eine bis dahin unbekannte Freiheit beim Erforschen der Spielewelt, der Wahl der Fahrzeuge, dem Abarbeiten der Missionen vs. der freien Bewegung durch das Spiel erlaubt, forderte er, dem Spieler ein Problem zu setzen, aber diesem zu erlauben, es auf seine eigene Art und Weise zu lösen.

Die künstliche Intelligenz der Spiele sei mittlerweile genug vorangeschritten, dass Spiele auf den Spieler reagieren können, indem sie ihren Schwierigkeitsgrad vom Spielertyp abhängig machen. Natürlich, so Molyneux, dürfte das Spiel gegenüber dem Spieler dafür auch ruhig mal cheaten, indem es bspw. die Stärke der Herausforderungen etwas drosselt, wenn der Spieler über längere Zeit hinweg keinen Erfolg erzielt hat, oder einen besonders guten Spieler vor besonders schwere Aufgaben stellt. Dies könnte dazu führen, dass bei einer gleichzeitig stattfindenden Partie im Multiplayer-Modus die Spieler je nach Fähigkeiten mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden zu kämpfen haben.

Molineux forderte Einfachheit auch beim Erlernen und Spielen des Spiels. Damit geht er konform mit einem schon länger existierenden Trend weg von Handbüchern und langen Tutorials zu Beginn eines Spiels. Auch bei The Movies, einem Simulationsspiel, bei dem der Spieler in die Rolle eines Filmproduzenten schlüpft (Screenshots siehe NextGen versetzt die Branche in Aufbruchsstimmung), beginnt der Spieler sofort zu spielen. Die Navigation wurde komplett ins Spiel integriert, so dass keine störenden Menüleisten Teile des Bildschirms be- und verdecken. Pop-Up-Menüs, Sprechblasen und Sternchen vermitteln dem Spieler notwendiges Wissen an der Stelle, an der er es braucht.

Games und Emotions

Auch wenn die Frage noch nicht hinreichend beantwortet ist, ob es sinnvoll ist, Film- und Computerspiele miteinander zu vergleichen, und es gute Argumente für die eine wie für die andere Seite gibt, so gibt es doch nach wie vor Anzeichen, dass die Beschäftigung mit Film befruchtend sein kann für die Produktion von Computerspielen. Während bislang unter Spielekritikern und -designern die Meinung weit verbreitet war, dass die Immersion und Identifikation mit fiktionalen Charakteren dem Kinofilm vorbehalten sei, wird diese Annahme zunehmend brüchig, wird hier möglicherweise eine der letzten heiligen Kühe geschlachtet.

David Freeman (Bild: Karin Wehn)

Dies zeigte der charismatische Vortrag des Drehbuch-Consultants David Freeman, einem Grenzgänger zwischen Kino, Fernsehen und Computerspielen, der u. a. als Consultant der Simpsons oder der X-Files bekannt geworden war. Freeman ermittelte 34 visuelle und narrative Kategorien und Techniken, mit denen Spiele emotionaler gestaltet werden könnten, die er unter dem Begriff „Emotioneering“ zusammen fasste.

Darunter zählen u.a. Techniken wie einzelne Non-Player-Characters (NPCs) oder auch ganze Gruppen mehrdimensionaler zu gestalten und ihnen emotionale Tiefe zu verleihen, neue Facetten und mehr Tiefe in die Beziehung zwischen Spieler und NPC zu bringen, den Spieler in emotional komplexe Momente und Situationen zu versetzen, ebenso sowie den Spieler im Verlauf des Spiels einen emotionalen Wandel erfahren zu lassen.

A story without emotion is like eating cardboard

David Freeman

Einerseits demonstrieren Computerspiele einen Trend zu immer mehr Detail und immer Realismus – gleichzeitig ist aber auch das Bedürfnis nach Einfachheit und Unkomplexität ständig präsent. Wie bei anderen Medien zeigt sich, dass neben dem Spektakel auch immer kleine einfache Formen Bestand haben und haben werden.