Der "Cindy"-Faktor

Die Mutter eines gefallenen Soldaten, unterbeschäftigte Presseleute und ein "unerhört lang" urlaubender Präsident bescheren der amerikanischen Friedensbewegung neuen Aufwind

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Die simple Frage der 48-jährigen Cindy Sheehan schlägt seit dem 6. August, als sie ihre Mahnwache unweit der Bush-Ranch im texanischen Crawford aufschlug, bis in die abgelegensten Ortschaften der USA hinein hohe Wellen: "Warum musste mein Sohn im Irak sterben?".

Cindy Sheehan will US-Präsident George Bush diese Frage direkt stellen. Zu diesem Zweck hat sie mit ein paar dutzend Friedensaktivisten Zelte im Staub der Prärie aufgeschlagen. Und das Echo in Fernsehen, Printmedien und Internet sucht seinesgleichen. Nimmt man allein die "Google"-Nennungen zur Grundlage, so hat die "Peace Mom" innerhalb weniger Wochen mitten im Sommerloch den Bekanntheitsgrad von First Lady Laura Bush oder Condoleezza Rice mit 4,38 Millionen Hits übertroffen.

Zwar finden sich darunter nicht immer Stimmen, die mit Sheehan und ihrer Forderung übereinstimmen, die USA müssten sich schleunigst aus dem Irak zurückziehen, etwa das Sprachrohr der Neokonservativen, der "Weekly Standard", der vor dem Erfolg der "liberalen Weinerlichkeit" warnt.

Neue Galionsfigur für US-Friedensbewegung

Doch Sheehan gilt der US-Friedensbewegung zurecht als neue Galionsfigur. Am vergangenen Mittwoch fanden sich in den USA mehr als 1600 Solidaritätsmahnwachen für sie zusammen, unterstützt und mitorganisiert von Gruppierungen wie "Moveon.Org", "True Majority" und "Democracy for America". Innerhalb der Friedensbewegung ist der verheerende Frust, den die Bush-Wahl im Spätherbst letzten Jahres hervorgebracht hatte, wie weggeblasen.

Im Medienmainstream wird offen spekuliert, ob der "Cindy-Faktor" der "tipping point" sein könnte, der in der Öffentlichkeit den Anfang vom Ende des Irakkriegs einleiten wird. Nach wie vor weigert sich Bush selbst gegen Stimmen aus dem Republikanerlager, der Frau mit der zerbrechlichen Stimme Rede und Antwort zu stehen. Dass der Cindy Sheehan für das Weiße Haus zu einer PR-Peinlichkeit und zu einem Politikum ersten Grades geworden ist, wurde am Dienstag deutlich, als Bush als erste Frage der Presse bei einem Ausflug zu den Republikanern im Bundesstaat Idaho auf Sheehan angesprochen wurde:

Well, ja, ich traf Cindy Sheehan. Ich unterstütze ihr Recht zu protestieren sehr. Es gibt eine Menge Leute, die protestieren, und eine Menge Ansichten über den Irak-Krieg. Wie Sie wissen, waren am letzten Wochenende in Crawford Leute aus beiden Lagern bzw. solche, die alle möglichen Ansichten in dieser Angelegenheit vertreten, um ihre Meinung kundzutun.
Ich habe den Deputy Chief of Staff, Hagin, und den nationalen Sicherheitsberater Hadley zu einem Treffen mit Frau Sheehan geschickt. Sie hat ihre Meinung gesagt, die nicht die meine ist. Ich bin davon überzeugt, dass ein sofortiger Rückzug aus dem Irak ein Fehler wäre. Ich glaube, dass diejenigen, die für einen solchen Rückzug - nicht nur aus dem Irak sondern aus dem "Middle East" eintreten, für eine Politik sind, welche die Vereinigten Staaten schwächen würden.
Ich halte also ihr Recht auf Protest für wertvoll und ich verstehe ihre Ängste. Ich habe mich mit vielen Familien getroffen. Sie repräsentiert nicht die Sicht vieler, die ich getroffen habe. Und ich werde mich weiterhin mit Familien treffen.

Unterbeschäftigte Presseleute

Sheehans 24-jähriger Sohn Casey, ein Fahrzeugmechaniker, war am 4. April 2004 bei den Kämpfen um den Bagdader Stadtteil Sadr City getötet worden. Ihm zum Gedenken heisst die Zeltstadt an der einzigen Zufahrtsstrasse zur Bush-Ranch denn auch Camp Casey.

Die öffentlich vorgetragene Trauer der Soldatenmutter wäre dem Weissen Haus nicht der Rede wert gewesen, wären da nicht die unterbeschäftigten Presseleute. Sie müssen fünf Wochen in Crawford ausharren und Bush bei seinen Ausflügen hinterherreisen. Bush verbringt dort seinen unerhört langen Urlaub abseits von Washington. Der Durchschnittsamerikaner muss sich mit drei Wochen Freizeit pro Jahr begnügen. Und den Präsidenten beim Holzfällen und Mountainbikefahren zu zeigen - das liefert längst keinen Stoff mehr.

Doch eine uramerikanische "Mom", die mit ihrem Ansinnen "I want to speak to Mister President" seit die Strapazen von Sonnenbrand und Durst auf sich nimmt und noch dazu wegen des Todes ihres Sohnes die "human story" schlechthin verkörpert, kommt den Medien wie gerufen. Die Öffentlichkeit, zunehmend beunruhigt über die täglich eintreffenden Todeszahlen aus dem Irak, konzentriert sich deshalb auf die Mutter und ihren toten Sohn.

Sheehan lässt die Verratsvorwürfe der rechten Kommentatoren in Talkradios, auf Fernsehsendern und in Internet-Blogs bislang erfolgreich an ihrer stoischen Haltung abprallen. Halten Cindy Sheehan und ihre Unterstützer in Crawford deshalb wenige Wochen durch, so wird die neu konstituierte Bewegung noch mehr Auftrieb erhalten. Denn bis zur traurig-magischen Zahl von 2000 getöteten GIs ist es nicht mehr weit, und Anfang September, nach Abschluss der Schulsommerferien, werden verängstigte und verärgerte Eltern ihren Unmut über die Militärrekrutierer an Colleges und High Schools ausdrücken.

Beides sind Momente, die die Massenmedien in Ton und Bild nicht übergehen werden. Und weiter: Sheehan und die organisierte Friedensbewegung wissen, wie die US-amerikanische Kulturindustrie funktioniert. Die naiv wirkende Soldatenmutter lässt sich von der millionenschweren PR-Firma Fenton Communications beraten.

Es dürfte darüberhinaus derzeit in den USA keinen Journalisten geben, der die Webseite "www.meetwithcindy.org" in den vergangenen Tagen nicht besucht hat. Unterdessen gehen die Mobilisierungsbemühungen der Friedensbewegung für ein Antikriegswochenende in Washington vom 24. bis 26. September weiter. Es koennte die groesste Friedenskundgebung der amerikanischen Geschichte werden.