Auf dem Weg zur Kanzlerdemokratie

Das Urteil des Bundesverfassungsgericht zu den vorgezogenen Neuwahlen

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Das Raten hat ein Ende. Wochenlang war darüber spekuliert worden, ob das Bundesverfassungsgericht die Neuwahlen doch noch stoppt, wie sich die Mehrheitsverhältnisse unter den Richtern darstellen und ob es zumindest Auflagen für künftige Parlamentsauflösungen gibt. Das am heutigen Vormittag vom Gerichtsvorsitzenden Winfried Hassemer verlesene Urteil ist dagegen denkbar unspektakulär.

Die Klage der beiden Bundestagsabgeordneten Jelena Hoffmann und Werner Schulz gegen die Parlamentsauflösung wird zurückgewiesen; die Neuwahlen können wie geplant am 18.September stattfinden. Das Gericht blieb mit seinen Urteil in der Tradition des Urteils von 1983, das dem Bundeskanzler schon die entscheidende Rolle bei der Parlamentsauflösung zugewiesen hat.

Das aktuelle Urteil hat dieseTendenz noch einmal verstärkt und die Entscheidung des Kanzlers bei der Herstellung parlamentarischer Handlungsfähigkeit quasi der nachträglichen Überprüfung entzogen:

Ob der Kanzler über eine verlässliche parlamentarische Mehrheit verfügt, kann von außen nur teilweise beurteilt werden. Aus den parlamentarischen und politischen Arbeitsbedingungen kann sich ergeben, dass der Öffentlichkeit teilweise verborgen bleibt, wie sich das Verhältnis des Bundeskanzlers zu den seine Politik tragenden Fraktionen entwickelt.

Die Richter konzedieren, dass sich die Regierung nach Außen hin geschlossener zeigen muss, als sie es vielleicht in Wirklichkeit ist. Streitigkeiten innerhalb der Fraktionen können schon die Verlässigkeit der Bundestagsmehrheit gefährden. Selbst den Rücktritt Schröders vom SPD-Vorsitz lange vor der Parlamentsauflösung haben die Richter als mögliches Indiz für einen Streit zwischen Regierungsmehrheit und der Bundesregierung gewertet. Ausdrücklich betont die Richtermehrheit, dass der Kanzler zum Mittel der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage präventiv greifen kann. Es reicht, dass er die Handlungsfähigkeit in der Zukunft für gefährdet sieht.

Damit hat das Gericht die Einwände der Kläger ins Leere laufen lassen, die betonten, dass die Kanzlermehrheit bei zahlreichen Gesetzen gegeben war. Wie weit die Richter das Parlamentsauflösungsrecht des Kanzlers zogen, zeigt sich an folgenden Passus:

Es entspricht auch allgemeiner Erfahrung, dass mit jeder für eine Regierungspartei verlorenen Landtagswahl sich für den Bundeskanzler verstärkter politischer Druck aufbaut, von dem eingeschlagenen politischen Weg abzuweichen, wenn dieser Weg als unpopulär gilt.

So hat das Gericht den beiden Klägern eine Niederlage in mehrfacher Hinsicht beschert. Hoffmann und Schulz hatten gehofft, dass Karlsruhe wenigstens für die Zukunft klare Kriterien für eine Parlamentsauflösung festlegen wird, wenn schon die angelaufenen Wahlen nicht gestoppt werden. Doch stattdessen hat das höchste Gericht jetzt das Instrument einer unechten Vertrauensfrage des Kanzlers bekräftigt. Schon wurde von Politikern und Staatsrechtlern geäußert, dass damit die Diskussion über ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments obsolet geworden sei.

Gerade in dieser Frage zeigt sich die unterschiedliche Gewichtung der Verfassungsorgane. Während eine Selbstauflösung des Parlaments auch eine selbstherrliche Regierung unter Druck setzen kann, übt hingegen eine fingierte Vertrauensfrage disziplinierende Wirkung auf die Abgeordneten aus. Wenn schon eine Diskussion in der SPD-Fraktion über die Agenda 2010 dem Kanzler als Grund für einen befürchteten Verlust der Handlungsfähigkeit der Regierung herhalten kann, müssen sich Abgeordnete künftig fragen, ob sie eher ihrem Parteiprogramm oder der Regierung verpflichtet sind. Beides klafft bekanntlich meist auseinander.

Die Befürchtung vor der Entmachtung des Parlaments äußert der Richter Joachim Jentsch in einem Sondervotum:

Würde man dem Bundeskanzler unter Hinweis auf seine Einschätzungsprärogative zugestehen, auch in Situationen wie der vorliegenden die Vertrauensfrage zu stellen, so käme dies dem parlamentarischen Selbstauflösungsrecht sehr nahe.

Damit verwischt er die Problematik zwischen dem Recht des Parlaments und dem des Kanzlers allerdings auch. Ebenfalls ein abweichendes Sondervotum gab die Richterin Gertrude Lübbe-Wolff ab, die allerdings in der Sache mit der Mehrheit stimmte. Sie vergleicht die Vertrauensfrage des Kanzlers mit einem Jawort am Traualtar.

Die Vertrauensfrage könne nur vom Parlament selbst beantwortet werden und entzieht sich jeder nachträglichen Prüfung. Das Gericht baue nur eine Kontrollfassade auf, während es tatsächlich durch das Urteil faktisch nicht mehr in die Lage komme, eine Entscheidung des Bundeskanzlers korrigieren zu können. Daher solle das Gericht seine Kontrollfunktion in dieser Frage ehrlicherweise ganz aufgeben.

Beide Kläger äußerten sich in ersten Stellungnahmen enttäuscht, dass das Gericht den Weg in die Kanzlerdemokratie weiter geebnet hat. Doch ansonsten gehen sie jetzt getrennte Wege. Während Hoffmann betonte, dass Urteil bestätigte noch mal die Richtung ihrer Entscheidung, nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren, bemüht sich Schulz um ein Direktmandat in Berlin-Pankow. Da er nicht über eine Landesliste abgesichert ist, hat er allerdings im Wahlkreis von Wolfgang Thierse wenig Chancen.

Ansonsten wurde das Urteil parteiübergreifend positiv aufgenommen und gleichzeitig für Wahlkampfzwecke benutzt. Bundeskanzler Schröder sieht jetzt gute Aussichten, eine Mehrheit zur Fortführung seiner Reformen zu bekommen, aus den Oppositionsparteien hieß es dagegen, das Urteil diene der Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Das ist nach diese Lesart dann geschehen, wenn die von Schröder begonnenen Reformen verstärkt mit anderen Personal vorangetrieben werden.