"Das Absurdeste des Absurden"

Spaniens "Aufklärung" der Anschläge vom 11.März 2004 wird immer seltsamer

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Es ist nicht verwunderlich, dass man in Spanien die Tageszeitung El Mundo versucht mundtot zu machen, die immer neue Details über die Anschläge in Madrid am 11. März 2004 offenbart. Nun hat die Zeitung veröffentlicht, dass die Polizei glaubt, einer ihrer Beamten habe beim Bombenbau direkt mitgewirkt. Zudem hatten die Sicherheitskräfte die Telefone von einem Teil der Attentäter noch am Tag der Anschläge angezapft. Doch ausgerechnet am Tag nach den Anschlägen wurde beantragt, währen der fieberhaften Ermittlungen, die Telefonüberwachung auszusetzen. Diese Daten stammen aus den Akten des Ermittlungsrichters, der sie unter Strafandrohung zurückhaben will. Für den 12. September wurde der El Mundo Direktor vor den Nationalen Gerichtshof zitiert.

Die spanischen Sicherheitsbehörden und die Justiz müssen einiges befürchten, weshalb sie derzeit heftig gegen die Tageszeitung El Mundo vorgehen. Am 12. September muss der El Mundo Direktor Pedro J. Ramírez vor dem Richter Pedro López Jiménez am Nationalen Gerichtshof antreten. Er hatte sich geweigert, die Dokumente des Ermittlungsrichters des Sondergerichts Juan del Olmo herauszugeben auf die sich die Berichte stützen. Der von der sozialistischen Regierung gedeckte Richter, der auch schon mal Zeitungen schließen lässt, und über Jahre die Beweise für sein Vorgehen schuldig bleibt (vgl. Baskische Zeitung und Website geschlossen), hatte sich nach massiver Kritik an seinem Vorgehen gegen El Mundo von dem Fall entbinden lassen (vgl. Nationaler Gerichtshof geht gegen große spanische Zeitung vor).

Erneut hat die Zeitung Verstrickungen der Sicherheitskräfte in die Anschläge offen gelegt. Die lassen einem die Haare zu Berge stehen und zeigen an, wie untätig Del Olmo bleibt. Zum Beispiel lässt er den Nationalpolizisten Maussili Kalaji nicht verhaften, den Palästinenser mit syrischem Pass, der als politischer Flüchtling ins Land kam und 1984 die spanische Staatsbürgerschaft erhielt (vgl. Nationalpolizist in Madrider Anschläge verwickelt) - der hatte offenbar nicht nur ermöglicht, dass die eingesetzten Handys bei den Anschlägen zur Zündung der Bomben benutzt werden konnten. Mit Bezug auf die Ermittlungsakten schrieb El Mundo, dass die Polizei davon ausgeht, dass Kalaji sogar am Bombenbau direkt beteiligt war, die vier Vorortzüge in die Luft jagten und 192 Menschen das Leben raubten (vgl. Blutiger Wahlkampf in Spanien).

Die Zeitung zitiert einen Bericht der Zentralen Informationseinheit der Polizei (UCI). "Wer", so hebt der Bericht vom 20. Mai in Fettschrift hervor, "hat die Kabel an den Vibrator der Handys gelötet, um sie mit den Detonatoren zu verbinden". Natürlich hätte das auch einer der anderen Terroristen tun können, "aber bei ihnen wurden keine Werkzeuge dafür gefunden". Kalaji habe dafür das "notwendige Wissen und den Terroristen blieb nur wenig Zeit" zwischen dem "Kauf und der Freischaltung am 3. und 8. März und den Anschlägen am 11." Neben der Tatsache, dass Kalaji mit mutmaßlichen Attentätern befreundet ist und sogar Dokumente von ihm in einer der Wohnungen gefunden wurden, die zur Vorbereitung des Massakers benutzt worden seien, steuerte die UCI weitere Daten bei. Betont werde seine militärische Ausbildung und sein Auftreten als religiöser Moslem, welches mit dem eines "radikalen Islamisten korrespondiere". Schon nachdem die Verwicklungen Kalajis in die Anschläge öffentlich wurden, hatte die Polizei den Ermittlungsrichter gedrängt, den Nationalpolizisten zu verhaften. Das ist bis heute nicht geschehen, obwohl Del Olmo weitere Details kannte, die El Mundo nun veröffentlichte.

Beteiligte am Massaker noch am Anschlagstag abgehört

Doch das ist nur ein Teil der neuesten Besonderheiten, die sich zu den anderen über die Verwicklungen der Sicherheitskräfte in die Anschläge reihen. Wie bereits berichtet, hatten deren Spitzel den Sprengstoff besorgt und an die Islamisten geliefert (vgl. Von Spitzeln, Terroristen und dem schweren Geschäft der Aufklärung, und der Geheimdienst CNI hatte Kontakte bis in den Kreis der Attentäter (vgl. Dubiose Verbindungen).

Interessant sind nun auch die Berichte von El Mundo über "das Absurdeste des Absurden". Mit Bezug auf die Ermittlungsakten schreibt sie, die Polizei habe Beteiligte am Massaker noch am Anschlagstag abgehört. Das Absurde ist, dass in der hektischsten Phase der Ermittlungen, am Tag nach den Anschlägen, die Polizei beim zuständigen Richter beantragt hat, die Abhörmaßnahme aufzuheben. Zu den Belauschten gehörte Jamal Ahmidan und Otmar el Gnaoui. Die Polizei hatte zum Beispiel Telefonate vom 28. und 29. Februar aufgenommen, in denen Ahmidan Gnaoui anweist, wie der Sprengstoff nach Madrid gebracht werden soll. An der Beteiligung von Ahmidan an dem Massaker bestehen kaum Zweifel. Er jagte sich kurz nach den Anschlägen mit anderen Islamisten in Madrid selbst in die Luft, als die Polizei die Wohnung umstellt hatte (vgl. Al-Qaida bietet Europa Waffenruhe an).

Wieso die Polizei die Abhörmaßnahmen ausgerechnet am Tag nach den Anschlägen einstellen wollte, gibt, neben den vielen Merkwürdigkeiten, Raum für düstere Vermutungen. Die gehen weit darüber hinaus, dass die damals regierende Volkspartei (PP) versuchte, der baskischen Untergrundorganisation ETA die Anschläge in die Schuhe zu schieben. Gegen besseres Wissen, wie das dürftige Ergebnis der parlamentarischen Untersuchungskommission zeigte (vgl. Verbindungen zwischen den Attentätern in London und Madrid?).

Verstrickung von Mitgliedern der regierenden Sozialisten

Daran war vor allem die Verhinderungsstrategie der jetzt regierenden Sozialisten (PSOE) schuld. Die PSOE versucht offenbar zu verbergen, wie tief Parteimitglieder in die Anschläge verwickelt sind. Schließlich ist nicht nur einer der Geheimdienstler, der Kontakt in den Kreis der Attentäter hatte, führendes Mitglied der Partei, sondern auch einer der mutmaßlichen Drahtzieher. Denn auch Mohannad Almallah war PSOE-Mitglied. Er wurde erst geschasst, als er im März zum zweiten Mal wegen der Anschläge verhaftet wurde. So stellt die Zeitung El Pais, die der PSOE nahe steht, mit Bezug auf Del Olmos Akten fest:

Ohne die Brüder Almallah hätte es den 11. März nicht gegeben.

Berichte von El Mundo darüber, dass die Frau von Mohannad ein Jahr vor den Anschlägen die Polizei detailliert davor gewarnt hatte, waren der Auslöser für Del Olmos Vorgehen gegen die Zeitung.

Bruder eines Verdächtigen in London verhaftet

Als Anekdote bleibt festzuhalten, dass dessen Bruder Moutaz im März in London verhaftet wurde. Dort sind bekanntlich kürzlich weitere Anschläge verübt worden (vgl. Hat der Krieg gegen den Terror versagt?). Ein Londoner Gericht hat dessen Auslieferung nach Spanien aber zunächst gestoppt. Zu Recht hat dessen Anwalt Mark Summers auf das Risiko hingewiesen hat, sein Mandant könnte in Spanien gefoltert werden. Summers legte dafür einen Bericht von Human Rights Watch vor, wonach die in Spanien übliche Kontaktsperre für Folterungen benutzt wird (vgl. Isolationshaft ermöglicht Menschenrechtsverstöße.

Dass die Polizei die Wohnungen der Brüder vor den Anschlägen unter Beobachtung hatte, verwundert nun genauso wenig, wie die Tatsache, dass der Nationalpolizist Kalaji hier ein und aus ging und ein guter Freund der Brüder ist. Auch die Wohnung von Abdelmajid Fakhet gehörte zu den überwachten Zielen, der sich später mit Jamal Ahmidan in die Luft gejagt hat. Doch all die Überwachung hat offenbar nichts zu Tage gefördert. Oder doch?

Inzwischen hat auch der Präsident der Untersuchungskommission Paulino Rivero eingeräumt, man müsse die Untersuchungen wieder aufnehmen, wenn sich herausstellte, das Beamte bei der Befragung vor dem Ausschuss gelogen hätten. In einem internen Bericht hatten die Guardia Civil aus der Region Asturien, von hier stammte der Sprengstoff, dem Chef der Unidad Central Operativa (UCO) vorgeworfen, vor der Kommission "Unwahrheiten" erzählt zu haben und die Kommission in einer "besonderen Weise betrogen" zu haben.

In dem 12seitigen Bericht wird erklärt, man habe die Informationen des Spitzels Rafael Zuheir (Rafa Zouhier) "unterbewertet". Über Zuheir wurde der Sprengstoff an die Islamisten vermittelt, den Spitzel der Nationalpolizei besorgt hatten (vgl. Alles aufgeklärt – trotzdem geht es weiter). Der UCO-Chef Félix Hernando wird beschuldigt, nicht die nötigen Untersuchungen angestellt zu haben. Der hatte vor dem Ausschuss erklärt, dies hätte die Guardia Civil in Asturien übernehmen müssen und nicht die UCO. Es habe sich um die Kompetenz der UCO gehandelt, für die Zuheir tätig war. Dass die Guardia Civil Beamten vor der Kommission gelogen haben, lässt sich nicht nur aus den abgehörten Telefonaten ableiten. Vor der Kommission haben sie stets behauptet, nichts von dem Sprengstoffdeal gewusst zu haben. Doch, so berichtete die Zeitung El Pais am 4. August, der Spitzel wurde insgesamt mit 2.770 Euro entlohnt. 170 davon erhielt er für seine Fahrten nach Asturien.