Der letzte Mohikaner der Old-School-Animation

Ein positiver Pessimist: Hayao Miyazaki und sein neuer Film "Howls Moving Castle"

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Grimms Märchen treffen den Ersten Weltkrieg - Schöne Prinzen beenden Kriege, junge Mädchen mit grauen Haaren fliegen davon, die Filme des Japaners Hayao Miyazaki sind sehr oft surreale Illusionsspiele, coming-of-age-Parabeln, in deren Zentrum junge starke Mädchenfiguren stehen. Die Natur und das Übernatürliche sind auch in "Howls Moving Castle" durch keine starre Wand getrennt, doch stärker als in seinen letzten Filmen sind diesmal wieder Miyazakis Wurzeln in der europäischen Kulturgeschichte spürbar.

In grelle Farben explodiert die Welt. Oder sie wird bedeckt von einer unförmig-braunen, todbringenden Masse. Die Gefühle materialisieren sich zu einem Gewimmel aus Maden, das die Körper von Mensch und Tier übersät. Oder zu einer todbringenden Flechte aus schwärendem Schwarz, die immer größer wird, bis sie den ganzen Arm in Besitz genommen hat, und den Leib sich immer häufiger verkrampfen lässt. "Princess Mononoke" ("Prinzessin Mononoke") ist einer der bekanntesten Film von Hayao Miyazaki.

Auch wenn ihn hier immer noch nur wenige kennen: Miyazaki, der unbestrittene Meister der hierzulande noch immer zu unbekannten Gattung der Anime genannten japanischen Zeichentrickfilme ist der wohl wichtigste und populärste Filmemacher Japans, dort bekannter sogar als Takeshi Kitano und geachteter als Akira Kurosawa. Seine ungemein detailreichen, extrem fantasievollen Filme sind der ultimative Gegenentwurf zu aseptischer US-Industrieware wie "Robots" und "Madagascar", und selbst ein Werk wie "Shrek", bei dem sogar manche Möchtegern-Intellektuellen ins Jauchzen kommen und Strichlisten über die zitierten Filme führen, verblasst angesichts der Kraft von Miyazakes Kinoträumen. Sie sind mit einer Eleganz und einen Schönheitssinn animiert, der auch in Japan keinen Vergleich scheuen muss.

Jetzt allmählich wird er auch im Westen entdeckt: "Princess Mononoke" lief vor acht Jahren auf der Berlinale als erster Anime überhaupt im Wettbewerb eines A-Festivals. Und mit seinem nächsten Auftritt, "Spirited Away" (dt. "Chihiros Reise in Zauberland"), der japanischen Antwort auf "Alice im Wunderland" gewann der Japaner 2002 am selben Ort den Goldenen Bären. In seiner japanischen Heimat sorgt Miyazaki regelmäßig für Kassenrekorde, schlägt sogar Filme wie "E.T." oder "Titanic" um Millionen.

Belle Epoque und Flächenbombardements

Nun kommt sein neuer Film, "Howls Moving Castle" (dt. "Das wandelnde Schloss") in die deutschen Kinos. Es ist ein einmaliges Werk, in dem sich Miyazaki einmal mehr als einer der großen Märchenerzähler unserer Tage erweist, als ein Regisseur mit visueller und emotionaler Phantasie, die ihresgleichen sucht.

Die Story, basierend auf einer 20 Jahre alten englischen Novelle, ist diesmal in einem fiktiven europäischen Land in einer nicht weniger fiktiven, recht gefährlichen Belle Epoque angesiedelt - einer Zeit, die aussieht wie Europa um 1900, in der es aber futuristische Flugzeuge und Flächenbombardements gibt. Die Krise wohnt dieser Gesellschaft von Anfang an inne. Schwarze Wolken verdüstern den blauen Himmel. "Blut und Willenskraft" steht auf einem Plakat, und bald beginnt ein grausiger Krieg. Im Zentrum steht aber das junge Hutmacher-Mädchen Sophie. Sie lebt ein langweiliges Leben, doch durch Zufall gerät sie in einen Kampf magischer Wesen und wird von einer bösen Hexe aus dem Niemandsland verzaubert - in eine alte Frau! In dieser Gestalt trifft sie dann auf den gutaussehenden Zauberer Howl, und auf dessen wandelndes Schloss, eine Art organische Riesenmaschine, die auch von der Hexe verwünscht wurde. Sie macht aus der Junggesellenwohnung ein Heim, und wird im Schlaf wieder jung. Doch Howl (dtsch: Hauro) entzieht sich noch. "Wie viele Namen hast Du eigentlich?" fragt sie, und er antwortet, pubertär und dandyhaft in einem: "So viele, wie ich will, um in Freiheit zu leben."

Der überdeutliche Pazifismus der zweiten Hälfte ist auch inhaltlich etwas plump: "Freunde oder Feinde, da gibt es keinen Unterschied. Sie sind doch alle Mörder." Und der Nationalismus etwas naiv: "In der jetzigen Situation müssen Zauberer und Hexen dem Land dienen." Andererseits gibt es mit Madame Suliman eine böse Zauberin, deren Einflüsterungen der König unterliegt. Gegen sie kämpft Hawl für den Frieden - doch erst die Liebe Sophies hilft ihm, auch sein eigenes Geheimnis zu lüften.

Reise in Parallelwelten

Diese oberflächlich gesehen naive Handlung vermischt sich mit Poesie und Geheimnis, Technik und Gewalt, zu einem wilden Patchwork aus europäischer Kulturgeschichte und asiatischer Erfahrung. Das Ergebnis ist eine Fabel für Kinder und Erwachsene, zutiefst humanistisch, lustvoll und mit überbordenden Einfällen erzählt - Kino als tolle Reise in Parallelwelten, als kurioser Hybrid aus Vergangenheit und Zukunft, Geschichte und Utopie, West und Ost.

"Ich habe meine Mitarbeiter aufgefordert, Naturalismus unbedingt zu vermeiden." sagt Miyazaki im Gespräch, "Wir erzählen von mysteriösen Dingen, also müssen auch die Bilder mysteriös werden."

Das Kino Miazakis ist großes Spektakel und gleichzeitig fein ziselierte Poesie. Im Grunde genommen Kino pur: berstend vor fantastischen Einfällen, Verzauberung total. Bei uns wurde der 1941 geborene Filmemacher zuerst in den 70er Jahren durch die Kinder-TV-Serie "Heidi" bekannt. Seit 1979 dreht er Kinofilme, die sich von Anfang an durch einen besonderen Stil auszeichnen. Dieser ist universell und doch unverwechselbar japanisch: In seiner kaleidoskopischen Erzählweise, in seiner Vorliebe für "starke" Frauen, im Bestreben, einen modernen Mythos zu erzählen, schließlich auch in ihrem Ende, das eine friedliche Harmonie der Gegensätze herstellt, die keinesfalls zuckersüße Versöhnung bedeutet, die zwar auch kitschig ist, aber offener und viel melancholischer, als jedes schlichte Happy End westlicher Filme.

Miyazakis Filme leben von ihrer einmaligen Atmosphäre, einen singulären Blick auf die Welt - und vom Mut, scheinbar Unvereinbares doch miteinander zu verschmelzen. "Lupin III: Castle of Cagliostro" (1979), ist eine atemlose Abenteuergeschichte a la Indiana Jones. Miyazakis Durchbruch kam 1984 mit "Nausicaa of the Valley of the Wind" - der erste von vielen Filmen, in denen starke Frauen bzw. Mädchen im Zentrum stehen, und die eine ökologische Botschaft enthalten. Der 1992 entstandene philosophische Abenteuerfilm "Porco Rosso" schließlich handelt vom faschistischen Italien gegen Ende der 20er-Jahre.

Ohne zuckersüße Versöhnung

"Ich habe eine immense Menge Bilder und Landschaften im Kopf." Fragt man ihn nach Einflüssen, erhält man eine überraschende Antwort: "Mein Vater war ein leidenschaftlicher Kinogänger. Schon als kleines Kind nahm er mich in die Filme von Ozu mit, von Vittorio De Sica und von Andrzej Wajda. Ich erinnere mich auch an Bresson's "Tagebuch eines Landpfarrers" - an all das erinnere ich mich viel besser, als an Action und Western-Filme. Unübersehbar ist in seinen Filmen auch der Einfluss europäischer Literatur, besonders der phantastischen Romane von Jonathan Swift, Lewis Carroll und Jules Verne. Die im Kinderfilm immer wieder üblichen einfachen Lösungen sind nicht sein Art. Ohne dass Miyazakis Geschichten in billige Moralpredigten münden, vermeidet er doch umgekehrt auch jeden Zynismus.

Bemerkenswert ist, was dieser Regisseur, der sich einen "positiven Pessimist" nennt, aber alle seine Werke als "Kinderfilme" bezeichnet, seinen jungen Zuschauern zutraut: "Kinder können mit Gewalt besser umgehen, als Erwachsene es oft glauben. Angst und Schrecken gehören ebenso wie Freude und Trauer zur Erlebniswelt eines Kindes. Wenn man angeregt wird, mit diesen Emotionen umzugehen, in einer Geschichte, die all diese Elemente gewichtet, wird man keinen Schaden nehmen." So geht es in allen seinen Filmen auch um Verletzungen und Verluste. Doch melancholische Gefühle gleicht Miyazaki durch seine Fabulierkunst, durch den Facettenreichtum des Geschehens und durch die Bildgewalt seiner Filme wieder aus.

Und obwohl Miyazaki und sein Studio Ghibli natürlich mit den neuesten Errungenschaften der Computer-Technik vertraut sind, entstehen immer noch 90 Prozent des Films am Zeichentisch. Während Disney nun Dreamworks und Fox nachgefolgt ist und die traditionelle Animationstechnik zugunsten computergenerierter 3-D-Figuren aufgegeben hat, ist Miyazaki der letzte Mohikaner der Old-School-Animation.

Miazakis Filme sind großes Spektakel und gleichzeitig fein ziselierte Poesie. Im Grunde genommen Kino pur: berstend vor fantastischen Einfällen, Verzauberung total. Dabei ist Miyazaki universell und doch unverwechselbar japanisch: In seiner kaleidoskopischen Erzählweise, in seiner Vorliebe für "starke" Frauen, im Bestreben, einen modernen Mythos zu erzählen, schließlich auch in ihrem Ende, das eine friedliche Harmonie der Gegensätze herstellt, die keinesfalls zuckersüße Versöhnung bedeutet, die zwar auch kitschig ist, aber offener und viel melancholischer, als jedes schlichte Happy End westlicher Filme. Miyazakis Filme leben von ihrer einmaligen Atmosphäre, einen singulären Blick auf die Welt - und vom Mut, scheinbar Unvereinbares doch miteinander zu verschmelzen. Seine Bilder atmen ungeahnte Tiefe, Zartheit und Emotion. Und das Wort Anime bekommt seine Herkunft aus der Anima, der Seele zurück. Miyazaki ist der Maler des Kinos.

Beim diesjährigen Filmfestival von Venedig (31.8.-11.9.) wird Hayao Miyazaki für sein Lebenswerk ausgezeichnet.