Hoffen auf geschichtliche Lerneeffekte

Vor 450 Jahren wurde der "Augsburger Religionsfrieden" ausgehandelt. Der Theologe Bernd Oberdorfer über zivile und (selbst)zerstörerische Tendenzen der Weltreligionen

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Am 25. September 1555 wurde auf dem Reichstag in Augsburg Geschichte geschrieben. An diesem Tag beendeten Kaiser Karl V., vertreten durch König Ferdinand I., und die Reichsstände die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen, die im Umfeld der Reformation zahllosen Menschen das Leben gekostet hatten. Die Vereinbarung sicherte den Reichsständen Religionsfreiheit zu, die allerdings nicht für die einzelnen Untertanen, sondern nur für die jeweiligen Landesherren galt.

Der Grundsatz "cuius regio, eius religio" (In wessen Land ich lebe, dessen Religion muss ich annehmen.) entsprach noch nicht dem, was wir heute unter Bürgerrechten verstehen, und im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), an dessen Ende den Reformierten ebenfalls Gleichberechtigung zuerkannt wurde, zeigte sich - leider nicht zum letzten Mal - die Unfähigkeit der europäischen Mächte, auch in der Praxis dafür zu sorgen, dass "fernerhin niemand, welcher Würde, Standes oder Wesens er auch sei, den anderen befehden, bekriegen, fangen, überziehen, belagern, sondern ein jeder den anderen mit rechter Freundschaft und christlicher Liebe entgegentreten soll." (Augsburger Reichs- und Religionsfrieden, 1555)

Trotzdem gilt die Augsburger Vereinbarung als entscheidender Schritt auf dem Weg zu mehr Toleranz und gegenseitiger Anerkennung. Die Stadt würdigt das 450jährige Jubiläum deshalb mit mehr als 600 Veranstaltungen. Eine der interessanten ist das gegenwärtig laufende wissenschaftliche Symposium (noch bis zum 4.September), das sich dem Thema "Die Ambivalenz des Religiösen. Religionen als Friedensstifter und Gewalterzeuger" widmet.

Konfliktforscher, Theologen, Historiker, Sozialwissenschaftler und Politologen aus dem In- und Ausland sollen hier präzise Definitionen und Lösungsstrategien erarbeiten, die - wenn es nach den kommunalen Veranstaltern geht - "als Beratungsgrundlage in internationalen politischen Konfliktsituationen dienen können."

Der Streit um die Wahrheit nicht beendet

Telepolis sprach vor dem Symposium mit Professor Bernd Oberdorfer. Der Inhaber des Lehrstuhls für Evangelische Theologie/Systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen der Universität Augsburg hat das Treffen zusammen mit dem emeritierten Soziologen Peter Waldmann organisiert.

Der Augsburger Religionsfrieden wurde unter historischen Voraussetzungen geschlossen, die sich vermutlich nicht wiederholen werden. Hat die Konfliktlösungsstrategie von damals trotzdem Modellcharakter?

Bernd Oberdorfer: Modellcharakter wäre vielleicht übertrieben, aber man kann schon sagen, dass sich der Grundgedanke durchgesetzt hat. Er beruht auf der Erkenntnis, dass religiöse oder weltanschauliche Differenzen das bürgerliche Zusammenleben nicht gefährden dürfen. Insofern hatte der Religionsfrieden, der im heutigen Sprachgebrauch eigentlich Konfessionsfrieden genannt werden müsste, epochale Bedeutung, auch wenn es sich nur um den ersten Schritt auf einem langen Weg handelte.

Warum konnten die Vereinbarungen von 1555 den Streit um die "wahre" christliche Lehre nicht dauerhaft beenden?

Bernd Oberdorfer: Die Theologen auf beiden Seiten waren schon damals nicht glücklich über den ausgehandelten Kompromiss. Die Katholiken sahen in den Lutheranern Häretiker, die das Evangelium falsch auslegten, und umgekehrt war es genauso. Der Frieden wurde deshalb vor allem als Verzicht auf eigene Ansprüche erlebt, und damit waren weitere Spannungen vorprogrammiert.

Der Streit um die Wahrheit ist ja auch heute noch nicht beendet. Die christlichen Kirchen haben nur mittlerweile gelernt, ihn nicht mehr mit politischen oder gar militärischen Mitteln auszutragen. Im Laufe der Zeit ist es gelungen, Gemeinsamkeiten zu entdecken und Unterschiede zu akzeptieren.

Friedensstifter können selbstverständlich auch Brandstifter sein

Das Symposium soll die "Ambivalenz des Religiösen" thematisieren. Geht es da wirklich um zwei verschiedene Bereiche? Immerhin waren die spätberufenen Friedensstifter des 16. Jahrhunderts annähernd mit denjenigen identisch, die zuvor Krieg und Gewalt gepredigt hatten.

Bernd Oberdorfer: Es wurde immer wieder behauptet, dass es den ganzen Streit ohne Luther gar nicht gegeben hätte, aber das ist eine müßige Diskussion. Luther selbst war davon überzeugt, dass das Bekennen der Wahrheit Leiden erzeugt. Er hat sein Bemühen oft in einem apokalyptischen Kontext betrachtet und zumeist sehr defensiv agiert. Trotzdem können Friedensstifter selbstverständlich auch Brandstifter sein. Es ist doch so, dass alle Religionen den Frieden predigen, aber schon die Frage, wie denn der wahre Frieden aussehen soll, kann wieder Stoff zu neuen Konflikten liefern.

Im Rahmen des Symposiums kommt Alessandro Stradellas Oratorium "San Giovanni Battista" aus dem Jahr 1675 zur Aufführung. Die Hauptfigur, Johannes der Täufer, entspricht in diesem Werk den Vorstellungen des italienischen Reformkatholizismus, könnte aus heutiger Sicht und mit leichten Veränderungen aber auch als muslimischer Fundamentalist durchgehen. Ist die Gewaltbereitschaft innerhalb der Weltreligionen zeit- und grenzenlos?

Bernd Oberdorfer: Das kann man so pauschal nicht sagen. Die Geschichte zeigt uns, dass beispielsweise die frühen Christen sehr defensiv waren. Sie gehörten meist Schichten an, die sozial marginalisiert und zu aggressiver Selbstdurchsetzung daher gar nicht in der Lage waren. Aber als Christen dann in bestimmte Machtpositionen kamen, versuchten sie sofort, ihrer Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Es bedurfte eines jahrhunderte-, um nicht zu sagen: jahrtausendelangen Lernprozesses, um zu der Erkentnnis zu gelangen, dass die Anwendung von Zwang in einem inneren Widerspruch zu der Botschaft steht, die verkündet werden soll.

Gewaltbereitschaft kann sich natürlich auch aus einer Unterdrückungssituation entwickeln, deshalb muss immer geklärt werden, wie die jeweilige Bedrohungslage ist und welche Ängste sich in einer bestimmten historischen Situation entwickeln. Wir haben eine Reihe von Islamexperten zu dem Symposium eingeladen, um genau diese Fragen in der aktuellen weltpolitischen Lage zu diskutieren. Außerdem wäre es natürlich interessant zu ermitteln, inwieweit auch im Islam geschichtliche Lerneffekte zum Tragen kommen.

Vermischung der Motive

Wie beurteilen Sie die gegenwärtigen Konflikte - die weltweiten Terroranschläge, den Krieg im Irak, die schwelenden Krisenherde in Afghanistan, Israel usw.? Ist Religion hier Konfliktursache oder nur ein Aspekt der ideologischen und medialen Auseinandersetzung?

Bernd Oberdorfer: Nehmen Sie das Beispiel Nordirland. Dort haben die Kirchen Gewalt praktisch ausnahmslos abgelehnt. Trotzdem ließen sich die Terroristen nicht davon abhalten, im Namen der Religion Bomben zu werfen. Sie hatten aber nicht nur religiöse Motive, sondern es gab zusätzlich ökonomische, soziale und kulturelle Konflikte, die sich miteinander vermischten.

Ich glaube nicht, dass es sich bei der Religion um ein reines Überbau-Phänomen handelt. Man kann nicht immer sagen: ‚In Wahrheit geht es um Öl oder Geld oder Land!‚ Das ist zu einfach, denn tatsächlich verschlingen sich die verschiedenen Motive ineinander und steigern sich gegenseitig. Ähnliches scheint im Moment zu geschehen. Viele islamisch geprägte Gesellschaften oder muslimische Gruppen fühlen sich in die Defensive gedrängt und verspüren einen Impuls, sich gegen die in ihren Augen christlich-jüdisch dominierte Zivilisationskultur zu wehren. Hier geht es schon um reale Probleme und nicht nur um ideologische oder mediale Inszenierung.

Zustand vollkommen konfliktfreier Koexistenz ist unrealistisch

Vertreter aller Weltreligionen haben sich deutlich zum Frieden und zum interkulturellen Dialog bekannt. Aber reicht das aus, damit die Glaubensgemeinschaften in dieser schwierigen Lage als Mahner, Vermittler und Friedensstifter wirken können?

Bernd Oberdorfer: Dass alle für den Frieden sind, versteht sich ja von selbst. Die Frage ist nur: Was versteht man genau darunter? Mit Blick auf den Islam kann man nur hoffen, dass sich die Interpretationen des Koran durchsetzen, die eine friedliche Verkündigung favorisieren. Der entscheidende Test wird sicher der Umgang mit den Nicht-Moslems sein.

Für den Westen kommt es entscheidend darauf an, in den islamischen Ländern nicht den Eindruck zu erwecken, dass die einheimische Kultur überdeckt oder zerstört werden soll. Wie der Kopftuchstreit gezeigt hat, ist das außerordentlich schwierig und erfordert viel Fingerspitzengefühl. Was die einen als Befreiung der Frau feiern, ist für die anderen nur eine neue Variante kultureller Enteignung.

Welche Rolle spielt das Judentum in dieser Entwicklung, oder lässt sich die Politik des Staates Israel nur noch unter säkularen Gesichtspunkten betrachten?

Bernd Oberdorfer: Nein, durchaus nicht. Die Situation in Israel ist aber komplex. Israel ist ein säkularer Staat mit religiösen Grundlagen. Beides ist wichtig. Nicht von ungefähr müssen israelische Regierungen ja zumeist aus Koalitionen gebildet werden, in denen weltliche und streng orthodoxe Parteien gezwungen sind, gemeinsam Politik zu machen. Allerdings vermischen Gegner des Staates Israel ihre Kritik an Israel häufig mit Kritik an "den Juden"; das ist problematisch, ja unangemessen. Was die "Ambivalenz des Religiösen" betrifft, teilt das Judentum mit Christentum und Islam den strengen Monotheismus und erhebt Wahrheitsansprüche. Jedoch ist das Judentum keine Missionsreligion, deshalb wird auch keine offensive Verkündigung betrieben. Inwieweit freilich das "gelobte Land" Israel aus religiösen Gründen militärisch verteidigt werden darf, ist bekanntlich im Judentum selbst umstritten. Hier liegt natürlich einiges Konfliktpotenzial.

Glauben Sie, dass die "Ambivalenz des Religiösen" irgendwann aufgelöst werden kann, und wäre das überhaupt wünschenswert?

Bernd Oberdorfer: Wohl kaum, jedenfalls nicht solange die Geschichte fortdauert. Aber ein Zustand vollkommen konfliktfreier Koexistenz ist ohnehin unrealistisch. Er widerspricht dem Wahrheitsanspruch der Weltreligionen, der nicht relativ ist. Die Menschen müssen nur lernen, zwischen der Nicht-Relativität des Gottes, den sie verkünden, und ihrer eigenen Relativität zu unterscheiden. Sie müssen ihren Wahrheitsanspruch argumentativ und durch ein exemplarisches Leben dokumentieren und nicht durch die Diskriminierung Anderer.

Wir können darauf hoffen und darauf hinarbeiten, dass dies den Religionen immer besser gelingt. Hier wie überhaupt gilt aber: Eine gänzlich konfliktfreie Lebensführung zu erwarten, wäre naiv. Ein Leben ohne Konflikt wäre auch eine langweilige und letztlich inhumane Angelegenheit. Es kommt eben darauf an, wie man mit Konflikten umgeht.