Ein Schulterzucken geht durch das Land

Wahlkampfzeiten sind Zeiten der aufgeheizten Leere. Was macht das gegenwärtige Gezerre so besonders virtuell?

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Gerhard Schröder warnt auf seinem Wahlparteitag vor sozialer Kälte - also vor sich selbst. Angela Merkel vergleicht die kommende Wahl mit der von 1949; für so rückwärtgewandt hatte man sie bisher gar nicht gehalten. Aber das ist noch nichts gegen ihren Finanzexperten Paul Kirchhof.

Der darf probehalber hinter Bismarck zurückfallen und die Abschaffung der Rente planen. Jürgen Trittin treibt währenddessen die Sorge um das Gedeihen von Siemens um. Otto Schily, der Herr der tausend Augen, hofft noch auf Weiterbeschäftigung als Innenminister einer großen Koalition und weiht neue Überwachungszentralen (vgl. "Jeden Bahnhof erfassen") ein.

Eine Branche mit Zukunft, wie er wohl weiß. Mit der Linkspartei fährt die Presse Schlitten (vgl. Gefährlicher Luxus), und sie freut sich, dass sie mitrodeln darf. Ihre Anhänger kleben derweil Plakate, auf denen ihr großer Kandidat Lafontaine behauptet, dass nichts so mächtig ist wie eine zeitgemäße Idee. Damit meint er sich selbst, denn andere Ideen hatte er noch nie. Die Gewerkschaften drohen für den Fall, dass eine CDU-geführte Regierung ihre geplanten Sozialmassaker wahr macht, schon einmal mit Klassenkampf.

Das ist eine Sache, mit der sie in den letzten sechzig Jahren vor allem in Berührung kamen, indem sie sie verhinderten, und deswegen wirkt die Drohung auch ein wenig surreal.

Dieser ganze Affenzirkus weist eine beeindruckende nihilistische Konsequenz auf. Stammt sie daher, dass das Vakuum zum Bewusstsein seiner selbst gekommen ist? Dass die Akteure sich nur noch unter Einsatz verschreibungspflichtiger Medikamente davon abhalten können, laut in die Fernsehkameras zu lachen, erstens über sich selbst, zweitens über die Zuschauer? Dass keiner mehr irgend etwas von dem glaubt, was er öffentlich von sich gibt? Selbst diejenigen scheinen dieser Wahl zu misstrauen, die am meisten von ihr zu erwarten haben - kommt das daher, dass sie offensichtlich durch Manipulation "notwendig" wurde? Dass sie nun so streng nach Volkskammerwahl riecht und so deutlich zugibt, ein pseudodemokratisches Legitimationsritual zu sein?

Neues Leergut

Das Wahlvolk begegnet der Irrealität dieser Wahl jedenfalls mit großer Gleichgültigkeit. Sicher, es gibt die armen Lichter, die erklären, dass "dieser Merz doch wirklich Recht hat", und denen der Begriff vom "Friedenskanzler Schröder" über die Lippen geht. Zu den Wahlparteitagen kommen die Mitglieder und Anhänger noch (was für ein Ekel eigentlich schon diesen beiden Begriffen anhaftet). Aber die breite Masse weiß diesmal noch weniger als sonst, was sie mit dem Wahlgetöse anfangen soll. Je lauter die Wahlkämpfer auf die Hupe drücken, desto öfter zucken ihre potenziellen Wähler mit den Schultern. Bei einigen geht die große Gleichgültigkeit auf die Einsicht zurück, dass sie ohnehin keine Wahl haben.

Manche sind angenervt davon, dass sie jetzt schon wieder Waschmittel einkaufen und sich zwischen Dash und Persil entscheiden sollen, obwohl die alte Packung doch noch für ein Jahr gereicht hätte. Den meisten ist eh alles scheißegal. So richtig verdenken kann man es ihnen nicht, wenn Wahlen im Wesentlichen Annahmestellen sind, bei denen man im Austausch für zurückgebrachte Pfandflaschen neues Leergut erhält. Drinnen, im Supermarkt, macht die Wirtschaft Kasse, gleichgültig, ob draußen grünes, braunes oder weißes Glas hin und her verschoben wird. Wer unter diesen Umständen gern wählt, hat seine Wahlberechtigung eigentlich gar nicht verdient, weil er dem Lego-Alter noch nicht entwachsen ist.

Abhilfe? Auch so ein veraltetes Konzept, Abhilfe. Natürlich könnte man den argentinischen Weg gehen und jede Politikerrede mit: "¡Que se vayan todos! ("Sie sollen alle abhauen!)" kommentieren.

Aber die Deutschen, immer bereit, etwas Schlechtes durch etwas noch Schlechteres zu ersetzen, würden nach dem Verschwinden der Sachwalter nur auf die Idee verfallen, dass doch einer regieren muss, und den starken Mann herbeisehnen, der alles mal so richtig aufräumt, sie eingeschlossen. Das ist dann auch der letzte, vollkommen negative Sinn des überaus bescheidenen Selbstlobs, mit dem sich unsere Demokratie so gerne bedenkt: das Nichts ist immer noch besser als ein Etwas, von dem man in Deutschland bis zu dem schlimmsten denkbaren Schrecken alles befürchten kann. Die Antwort darauf muss natürlich ein politischer Stoizismus sein: den Unsinn ertragen, bis sich vielleicht doch die Chance auf ein besseres Etwas ergibt.