Die deregulierte Katastrophe

Der Hurrikan enthüllt die dunklen Seiten der amerikanischen Supermacht

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Die Todeszahlen gehen in die Tausende, so die Schätzungen von gestern abend. Das wahre Ausmaß der Katastrophe, die der Wirbelsturm Katrina an der amerikanischen Golf-Küste (Golf von Mexiko) und vor allem in New Orleans angerichtet hat, ist weiter unklar. New Orleans ist eine Geisterstadt, so die New York Times heute. Versprengte liefern sich Schießereien mit dem Army Corps of Engineers: "Es gibt keine Erklärung dafür, nur die ernüchternden Fakten". Etwa 500.000 Menschen wurden zu einer Diaspora mit biblischen Dimensionen verurteilt. Zum unfassbaren Skandal wurde die Katastrophe durch das tagelange Ausbleiben elementarster Überlebens-Hilfe.

Noch immer ist völlig unklar, wo sie in Zukunft untergebracht werden sollen. Die gigantische Hilfsmaschinerie läuft gerade erst an, beinahe eine Woche nach Beginn der Katastrophe. Auch die Hilfe von der EU, der Nato und dem benachbarten Canada wird jetzt angenommen. 42 000 Menschen wurden am Wochenende evakuiert. 17.000 Soldaten, darunter 7.000 aus Eliteeinheiten, sind von Präsident Bush in die Region geschickt worden. In den nächsten Tagen soll die Zahl der Hilfstruppen bei 54.000 liegen. Erschwert werden die Hilfs-und Rettungsaktionen auch durch ausgebrochene Feuer: Mehr als 60 Brände wurden in New Orleans registriert, die meisten in einem Viertel an der Küste, wo besonders viele Lagerhallen stehen. Die Feuerwehr kann kaum dagegen ankämpfen, weil ihr - absurderweise in einer Überschwemmungsregion - Wasser fehlt.

Davon abgesehen, dass diese vorläufigen Zahlen sich noch ändern werden – hoffentlich zum Positiven - , geben sie die Realität doch nur stenographisch wieder. Sie sagen wenig über die Verzweiflung und den Schock aus, den das Desaster ausgelöst hat. Andere Chiffren, wie der Vergleich mit Filmen ("Mad Max", "Land of the Dead", "The Snake") oder das drastische Bild von der "Dritten Welt", die sich jetzt in den USA gezeigt hat, mögen dem Drama, den anarchischen Zuständen und den öffentlichen Wahrnehmungslücken, welche Katrina gnadenlos offen gelegt hat, näher kommen. Doch gibt es vor allem ungelöste Fragen und nüchterne Fakten, mit denen sich zuvorderst die amerikanische Regierung, die amerikanische Bevölkerung, doch im Gefolge der Ereignisse auch Europa mit anderen, neuen Bildern vor Augen konfrontiert sieht:

Zuallererst natürlich die Frage, wie es möglich war, dass die Rettungsmaschinerie erst so spät in Gang kam, in einem Land, welches "Management" und "Professionalismus", wenn nicht erfunden, dann doch als Supercodes in den letzten Jahren maßgeblich verbreitet hat? Warum konnte das im Gefolge der Anschläge vom 11. September neu geschaffene und vermeintlich nach modernstem Wissenstand organisierte Heimatschutzministerium derart versagen?

Zum anderen haben die Bilder aus den Katastrophengebieten weltweit einen Schock ausgelöst. Das hypermoderne Amerika tat sich erschütternd schwer, in der Notlage zu agieren und den Verzweifelten schnellstmögliche Hilfe zu liefern. Zugleich enthüllte sich plötzlich die andere Seite, die arme, dem Glamour abgewandte Seite der reichen Superpower. Es ist oft genug erwähnt worden: Es waren vorwiegend Farbige und immer die Ärmsten, die in beschämenden Situationen zu sehen waren. Wobei ein Teil der tendenziösen Berichterstattung, die Bilder von Farbigen, die sich holten, was die Kaufhäuser (und die Apotheken) hergaben, mit dem Etikett des "Kriminellen“ belegte, während Weiße die "Mundraub" begangen als Verzweifelte markiert, "gebrandet" wurden. Wie rassistisch ist das weiße Establishment an den maßgeblichen Stellen der amerikanischen Politik und der Medien am Anfang des 21.Jahrhunderts? Sieht so der Preis aus, den man zahlt, wenn man Politik macht, die zahlungsunfähige Bevölkerungsgruppen, die für die Konsum und Zielgruppen orientierte Wirtschaft eine zu vernachlässigende Größe sind, von ihren Prioritäten ausspart?

Gut möglich, dass die Hilfsaktionen, die im Moment anspringen, zeigen, wozu die USA gerade in Extremsituationen auch imstande sind und eine Welle an Solidarität in Gang setzen, die den bohrenden Fragen, die der so genannten Zwei-Klassengesellschaft und den noch immer existenten rassistischen Merkmalen der Gesellschaft, zumindest eine Zeitlang etwas Versöhnliches entgegensetzt. George Bush wird zumindest diesen Moment nicht verpassen. Aber bestimmte Fragen werden damit nicht verstummen.

Wie sehr ist das Ausbleiben von notwendiger Hilfe dem ökonomischen Trend geschuldet, möglichst viel der Privatinitiative des einzelnen Bürgers zu überlassen? Privatinitiativen hatten keine Chance gegen das Chaos, das Katrina ausgelöst hat, und es gab keine staatlich organisierte Hilfe, die hier einspringen hätte können. Führen Privatisierung und Deregulierung im großen Maßstab unweigerlich zu Chaos und Anarchie, sobald Menschen durch Notsituationen in den Naturzustand zurückgeführt werden?