"Zeigt her Eure Namen"

Pseudonyme können lebenswichtig sein: Wenn der elektronische Pranger zu Lynchjustiz anregt

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Geht es um Anonymität und Datensparsamkeit, gibt es in Diskussionen oft genug das Argument: „Wer zu seiner Meinung/seinen Taten steht, versteckt sich nicht". Eine kurzsichtige Meinung, die nicht berücksichtigt, dass (freiwillige) öffentliche Preisgabe von Daten eine hohe Toleranz innerhalb der Gesellschaft voraussetzt.

Im realen Leben außerhalb des Internet gehören Pseudonymität und Anonymität noch immer zu völlig normalen Bestandteilen des Lebens. Sie werden aber als so selbstverständlich angesehen, dass sie gar nicht als solche Beispiele empfunden werden. Der Hinweis "Name ist der Redaktion bekannt" bei Berichterstattung oder Leserbriefen, die Nutzung eines Künstlernamens als Schriftsteller, Sänger oder sonstiger Künstler – all das sind Beispiele hierfür.

Dennoch wird in Diskussionen im Internet noch immer die Meinung vertreten, dass Anonymität nur etwas für Feiglinge oder Kriminelle sei. Im Forum unter Pseudonym aufzutreten wird als anrüchig empfunden, im Usenet ist dieser Zwang zum Outen des Realnamens noch ausgeprägter. Dabei übersehen die Kritiker der Pseudonyme, dass es für die angewandte informationelle Selbstbestimmung gute Gründe gibt.

Pseudo- oder anonym?

Die Nutzung eines Pseudonyms im Internet bedeutet nicht zwangsläufig Anonymität. Dies wird oft gleichgesetzt. Wer sich aber beispielsweise hier in den Foren zur Diskussion registriert, gibt seinen Realnamen an – dies wird durch die Teilnahmebedingungen vorgeschrieben. Das heißt, dass das Pseudonym zwar davor schützt, dass jeder andere Forenteilnehmer den eigenen Namen kennt, nicht aber Anonymität, da zumindest Heise Online der tatsächliche Name bekannt ist. Diese Praxis bedeutet für den Teilnehmer informationelle Selbstbestimmung da er selbst bestimmen kann, wer seinen Realnamen erfährt – es steht ihm frei, diesen für alle sichtbar zu veröffentlichen oder aber nur dem Heise-Verlag mitzuteilen.

Auch im realen Leben nutzen wir tagtäglich diese Form der Selbstbestimmung, indem wir nicht jedem sämtliche unserer Daten anvertrauen. Gehen wir in eine Bäckerei, um Brot zu kaufen, werden wir üblicherweise nicht mal unseren Namen nennen. Erst recht nicht, wenn wir in eine Apotheke gehen, um Kondome zu kaufen. Niemand würde deshalb gleich annehmen, wir stünden nicht zu unseren Taten und würden mit Brot oder Kondom etwas nicht öffentlich Vertretbares vorhaben.

Abgesehen vom prinzipiellen Problem der Anonymität im Internet: Wird eine Meinung dadurch erst ernstzunehmend, dass sie mit einem Realnamen versehen ist?

Als Erstes muss hierbei beachtet werden, dass der vermeintliche Realname ja auch ein Pseudonym sein kann. Falsche Identitäten im Internet zu kreieren, dürfte wenig Schwierigkeiten bereiten. Finden sich zum angegebenen Namen genug Links, ggf. noch ein paar nach Versehen aussehende Outings, ist man schnell bereit, den Namen als tatsächlichen Namen anzuerkennen. Dazu kommt, dass es schlichtweg Gründe dafür gibt, seine Identität geheimzuhalten. Die gleichen Gründe kann man auch als Argument gegen zu schnelle Preisgabe von Daten im Internet nutzen – egal ob diese Preisgabe nun freiwillig oder gezwungen erfolgt.

Datenveröffentlichung mit tödlichen Folgen

Wie sich erzwungene Datenveröffentlichung im Internet auswirkt, zeigt sich zur Zeit im US-Staat Washington in Bellingham. Michael Anthony Mullen sah sich veranlaßt, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen, und tötete zwei Menschen, die wegen Vergewaltigung von Kindern vorbestraft waren. Die beiden Männer waren auf freiem Fuß, galten als Täter mit hohem Wiederholungspotential. Mullen, der die Tat gestand, kündigte weitere Morde an, er hatte sich eine eigene Liste mit Tätern erstellt, welche seine Opfer werden sollten. An die Daten heranzukommen war einfach, da die Sicherheit der Öffentlichkeit, so die dortige Meinung, vorgeht. Eine Veröffentlichung der Daten bedeutet somit zwar eine Gefährdung der Vorbestraften, diese wird aber im Sinne der Rechteabwägung in Kauf genommen.

"Megan's Law" ermöglicht beispielsweise eine solche Datenveröffentlichung – die Namen und Adressen von verurteilten Sexualstraftätern können so von jedem eingesehen werden. Egal ob derjenige seine Strafe verbüßt hat, eine Wiederholungsgefahr besteht oder nicht – die Datenbank (ähnliche gibt es in vielen Bundesstaaten und auch übergreifend für die ganze USA) zeigt jeweils seine letzte Adresse. Eine Praxis, die umstritten ist.

Ebenso fand Michael Anthony Mullen die Daten seiner Opfer Hank Adolph Eisses und Victor M. Vazquez – und eines dritten, der den Anschlag überlebte – im öffentlich zugänglichen Washington State Sex Offender Information Center, das im Tatort Bellingham lediglich die zwei letzten Ziffern der Hausnummer aus-xt.

In diesem Fall handelt es sich um eine erzwungene Datenveröffentlichung, doch das Beispiel zeigt die Folgen, die ein nachlässiger Umgang mit Daten zeigt, wenn nicht gleichzeitig auch die Gesellschaft bereit ist, mit diesen Daten sorgsam umzugehen. Gerade in Bezug auf Sexualstraftäter ist aber die Abneigung, um nicht zu sagen, der Hass in der Gesellschaft sehr hoch, speziell wenn es um sexuelle Straftaten geht, welche mit Kindern zu tun haben.

Einfach mal (den Falschen) denunzieren

Geht es hier noch um Daten von Kriminellen, so finden sich genug, die eine solche Praxis trotz der Gefahr für die Verurteilten gutheißen. Was ist aber, wenn es um keine Kriminellen geht, nicht um Taten sondern vielmehr um Meinungen? Wenn diese Meinungen schnell fehlinterpretiert werden oder aber schlichtweg angefeindet werden? Das Thema "Kinderschutz" zieht von jeher auch den Missbrauch mit dem Missbrauch an. Egal ob es sich um dubiose Kinderschutzverbände handelt, die mittels Callcenter um Mitglieder werben oder schlichtweg um Menschen, die sich durch den vermeintlichen Kinderschutz profilieren wollen und dafür auch schon einmal strafbare Methoden anwenden.

In Deutschland hat sich z.B. in den letzten Jahren der in Münster ansässige Verein Carechild e.V. als ein solcher Verein gezeigt. Der Vorsitzende, Gabriel Gawlik, schreckte in seinem "Kampf gegen Kinderpornographie, Nekrophilie und Sodomie" weder vor Drohungen zurück noch vor Denunziationen, die auch schon einmal den Falschen trafen:

Bei der Diskussion im Bildungsportal Ysilon wurde Herr Gawlik auf den Artikel Gefährliche Doktorspiele“ des Journalisten Erik Möller aufmerksam gemacht. Er ist, trotz intensiven Nachfragens, in den Diskussionen einer Stellungnahme zu den Aversionstherapien an Kindern in den USA ausgewichen. Wenig später hat er im Internet über Erik Möller recherchiert und ist auf einen weiteren Artikel von ihm gestoßen. Es ist nicht klar, aus welchen Gründen Herr Gawlik einen Hass auf Erik Möller pflegt. Auf jeden Fall unterlief ihm bei seinen Recherchen ein Fehler und er hielt Jörg Kantel, den Betreiber des Weblogs Schockwellenreiter, für Erik Möller. Er denunzierte darauf Herrn Kantel bei seinem Arbeitgeber. Dieser leitete die E-Mail von Herrn Gawlik an Herrn Kantel weiter, der diesen Vorfall im Internet unter der Überschrift „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant“ dokumentierte.

Nicht wenige Poster in Foren des Heise-Verlags erlebten ebenfalls persönliche Angriffe, kamen auf "Schwarze Listen" des Vereines oder wurden verleumdet. Der Vorsitzende des Vereines wurde schließlich wegen Verleumdung verurteilt, eine Änderung seines Verhaltens ist bisher jedoch nicht zu vermerken.

Carechild e.V. ist ein Beispiel dafür, dass Pseudonymität im Internet nichts mit Feigheit zu tun hat. Das, was sich die Angegriffenen zuschulde hatten kommen lassen, war die Anwendung der freien Meinungsäußerung. Doch die abweichende Meinung des "Kinderschützers" reichte, um jene Repressalien auszusetzen, die von ihm als "Kinderfickersympathisanten" bezeichnet wurden. Wer bisher in solchen Diskussionen sein Pseudonym wahrte, tat gut daran, er ersparte sich viel. Gerade, wenn es um heikle Themen wie Kinderpornographie, Terrorismus, Todesstrafe etc. geht, sind viele Menschen innerhalb der Gesellschaft nicht bereit, sich argumentativ mit anderen auseinanderzusetzen, sondern greifen auch schon einmal zu kriminellen Methoden, um "ihre Wahrheit" zu verteidigen.

Nicht selten wird argumentiert, dass dies eben der Preis ist, den Kritiker zahlen müssen, wenn sie sich "zu weit aus dem Fenster lehnen". Wer so argumentiert, sollte allerdings mal darüber nachdenken, warum die Polizei anonyme Tipps ermöglicht und diejenigen, die Hinweise über Straftaten geben, nicht mit bundesweit angebrachten DIN-A-0-Postern als "Tippgeber/Held des Monats" vorstellt. Gerade die Strafverfolgung hat sowohl den Nutzen von Anonymität als natürlich auch ihre Schattenseiten erkannt.

Nicht nur im Internet bedeutet die Möglichkeit, seine Meinung auch anonym vertreten zu dürfen, das Recht auf freie Meinungsäußerung anwenden zu können ohne gleichzeitig Repressionen befürchten zu müssen. Da nicht davon auszugehen ist, dass irgendwann eine "vollkommene Gesellschaft" entsteht, in der alle Menschen tolerant, offen für Argumente und bereit sind, die eigene Meinung stets kritisch zu hinterfragen und auf kriminelle Methoden verzichten, ist diese Möglichkeit wichtiger denn je.