Menschenrechte bis 2074 ausgesetzt

ExxonMobil: nachhaltige Wirtschaftspolitik im Tschad und in Kamerun

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Die Zeiten, da sich internationale Großkonzerne ohne Rücksicht auf humanitäre, soziale, kulturelle oder ökologische Aspekte im Haifischbecken der Weltwirtschaft tummeln konnten, sind noch lange nicht vorbei. Trotzdem stehen die Abteilungen für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit vor völlig neuen Herausforderungen, denn ihre Adressaten geben sich mit einfachen Antworten und verspäteten Erklärungen nicht mehr so leicht zufrieden wie in den Jahren allgemeiner Arglosigkeit. Die Nachhilfe kritischer Medien und zahlreiche Betriebsunfälle des Turbokapitalismus haben ihren Teil dazu beigetragen, dass der sensibilisierte Weltbürger des frühen 21. Jahrhunderts Problembewusstsein verlangt – auch und gerade von Unternehmen, die den gesamten Globus zum Spielball ihrer geschäftlichen Aktivitäten machen möchten.

Die so Geforderten haben den Fehdehandschuh der Selbsttäuschung aufgenommen und produzieren seit Jahren ausführliche ethische Richtlinien, interessante Dossiers über Eigenverantwortung oder einen dickleibigen "Corporate Citizenship Report". Ein solcher verlässt in regelmäßigen Abständen auch die Denkfabriken des US-amerikanischen Öl-Giganten ExxonMobil. Dessen Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzender Lee R. Raymond, der das Unternehmen Ende 2005 verlassen möchte, nachdem im ersten Halbjahr bereits rekordverdächtige 170,6 Milliarden Dollar Umsatz verzeichnet wurden, interpretierte die gesamten Unternehmensleistungen im "Corporate Citizenship Report 2003" als Erfüllung gesellschaftlicher Verpflichtungen.

Nach den Prognosen der Fachwelt wird sich der Weltenergiebedarf bis 2020 um etwa 40 Prozent erhöhen. Die Deckung dieses Bedarfs wird nach Berechnungen der Internationalen Energieagentur jährliche Investitionen in Höhe von 200 Milliarden US-Dollar für die Erschließung neuer Öl- und Erdgasvorkommen erfordern. Als verantwortungsbewusstes Energieunternehmen sind wir der Überzeugung, dass uns als Teil der Gesellschaft die Aufgabe zufällt, unseren Beitrag zur Deckung dieses Bedarfs auf ökonomisch, ökologisch und sozial verantwortliche Weise zu leisten.

Lee R. Raymond

Das klingt gut und nimmt in der Ausgabe des Jahres 2004 geradezu hymnische Formen an.

Wir geloben als Bürger, die höchsten ethischen Standards einzuhalten, die entsprechenden Gesetze und Regularien zu beachten, lokale und nationale Kulturen zu respektieren, und die Arbeitsprozesse ebenso sicher wie umweltverträglich zu gestalten.

Corporate Citizenship Report 2004

Unter diesen Umständen kann es niemanden verwundern, dass sich eines der wichtigsten Vorhaben von ExxonMobil in der öffentlichen Darstellung wie ein Projekt zur Entwicklungshilfe ausnimmt. Seit 2003 fördert der Konzern zusammen mit Chevron-Texaco und der malaysischen Gesellschaft Petronas Erdöl im Süden des Tschad. Über eine 1.070 Kilometer lange Pipeline wird das Öl anschließend bis zur Atlantikküste des Nachbarstaates Kamerun transportiert. Die finanziellen Mittel für die rund 4 Milliarden Dollar teure Investition kamen nicht nur von den beteiligten Unternehmen, sondern auch von der Weltbank, die sich online in der Beantwortung "Häufig gestellter Fragen" zu diesem Projekt versucht, und von verschiedenen Exportkreditagenturen und privaten Kreditinstituten.

Vereinbarungen werden über nationales Recht gestellt

ExxonMobil hat eine gesonderte Internetseite geschaltet, um die segensreichen Auswirkungen der eigenen Aktivitäten möglichst umfassend darzustellen. Neben der Schaffung von Arbeitsplätzen und Impulsen für die Gesamtwirtschaft verweist der Konzern auf Fortschritte im Gesundheits- und Bildungswesen, diverse Umwelt- und großzügige Entschädigungsprogramme, regelmäßige Konsultationen der Bevölkerung und eine Reihe hochmoderner Sicherheitsaspekte.

Eine Reihe von Nicht-Regierungsorganisationen beurteilen die Lage seit geraumer Zeit anders. Die "Arbeitsgruppe Erdölprojekt-Tschad-Kamerun" kritisiert die Aktivitäten der ausländischen Investoren seit vielen Jahren und wirft ihnen offen Betrug vor:

Im Jahr 2003 rechnete das Konsortium im Schnitt 18 US-Dollar pro Barrel ab. Geförderte 50 Millionen Barrel Rohöl ergaben einen Umsatz von 900 Millionen Dollar. Davon erhielt der Tschad 70 Millionen Dollar als Royalties, real also kaum 8%.

Arbeitsgruppe Erdölprojekt-Tschad-Kamerun

Amnesty international konzentriert sich in einem aktuellen Bericht vor allem auf die Situation der Menschenrechte. Diese spielten in beiden Ländern ohnehin nur eine untergeordnete Rolle und seien – im Fall des Tschad durch die brutalen Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und bewaffneten Rebellen, im Fall Kamerun durch die skrupellosen Herrschaftsmethoden des seit 23 Jahren amtierenden Präsidenten Paul Biya – permanenten Verstößen in Form von Folterungen, illegalen Inhaftierungen, Mord oder "Verschwindenlassen" ausgesetzt.

Die Menschenrechtsorganisation protestiert gegen den bis in die 70er Jahre des 21. Jahrhunderts gültigen Vertrag, der die Vereinbarungen zwischen den Fördergesellschaften und den beiden Regierungen über nationales Recht stelle. Im Fall einer "Zuwiderhandlung" sind die Staaten zu Schadenersatzzahlungen verpflichtet, und das gilt offenbar auch dann, wenn diese "Zuwiderhandlung" im Schutz oder in der Durchsetzung von Menschenrechten besteht.

Amnestys Experte für wirtschaftliche Beziehungen, Mathias John, weist auf Nachfrage von Telepolis darauf hin, dass die Verträge nun erstmals einer Prüfung unter besonderer Berücksichtigung der Menschenrechtslage unterzogen worden seien und das Ergebnis nur als "erschreckend" bezeichnet werden könne.

Die Vereinbarungen machen die unmittelbar Betroffenen zu Bürgern 2. Klasse. Sie haben praktisch keine Möglichkeit, sich gegen massive Einschränkungen ihrer Lebensbedürfnisse zu wehren und das gilt auch für die Regierungen Kameruns und des Tschad. Dabei tangiert das Pipeline-Projekt sämtliche Menschenrechte von der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bis zu sozialen oder ökologischen Fragen, von denen etwa ganze Fischerdörfer an der Küste Kameruns betroffen sind. Die Ausgleichszahlungen für vorgenommene Enteignungen sind nicht ausreichend, und früher wurden auch Gegner des Projekts massiv unter Druck gesetzt. Über solche Vorfälle liegen uns aktuell allerdings keine Erkenntnisse vor.

Mathias John

John kritisiert auch die Rolle der Weltbank, die bei ihrer Analyse einen wesentlichen Bereich unberücksichtigt gelassen habe.

Die Weltbank hat viele Berechnungen angestellt, die zum großen Teil von uns auch gar nicht beanstandet werden. Aber das Thema Menschenrechte ist dabei auf der Strecke geblieben.

Die positiven Effekte, die ExxonMobil auf der Homepage zu den unmittelbaren Folgen des eigenen Engagements rechnet, werden von dem amnesty-Vertreter – mit wenigen Ausnahmen , zu denen beispielsweise der Streit um die Angemessenheit der Entschädigung zählt - zunächst nicht bestritten. Er fordert allerdings deutlich mehr Transparenz, damit die Öffentlichkeit die Behauptungen auch nachprüfen kann.

Wenn die Konzerne so viel Positives bewirken, habe ich natürlich nichts dagegen. Aber dann können sie sich ja auch einer unabhängigen Untersuchung stellen und die Ergebnisse anschließend veröffentlichen. Außerdem ergeben solche Verpflichtungen wenig Sinn, wenn es keinerlei Sanktionsmöglichkeiten gibt. Sollte es ExxonMobil und den anderen wirklich ernst sein, dann können sie das am besten beweisen, indem sie einer Änderung der Verträge zustimmen und ihrer Verantwortung für die Menschenrechte tatsächlich nachkommen.

Ein diskussionswürdiger Vorschlag, der bei den Angesprochenen allerdings auf wenig Gegenliebe stoßen dürfte. Schließlich sind ExxonMobil & Co. der Meinung, ihrer Rechenschaftspflicht durch jede Ausgabe eines "Corporate Citizenship Report" umfassend nachgekommen zu sein.