Homo compositus - Besondere Merkmale: keine

Überlegungen, wie sich der Bundestag oder alle 601 Abgeordnete in einem Bild visualisieren ließen

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Am 18.09.2005 finden in Deutschland die Wahlen zum 16. Bundestag statt. Der derzeit noch amtierende 15. Bundestag wurde vom Bundespräsidenten aufgelöst. Von den 601 Sitzen wurden 197 von Frauen und 404 von Männern besetzt. Diese Zahlen vermitteln rein quantitativ den als Wortbild personifizierten Begriff "Bundestag". Unsere auf einer Pars-pro-toto- Konstellation basierende Realitätskonstruktion gestattet es nicht, eine omnipotente Vorstellung des Körpers "Bundestag" als handelnde Instanz hervorzubringen. Einzelne Personen mit ihrer individuellen, oft durch ihr Medienauftreten bestimmten Präsenz vermitteln uns ein in Partikel aufgelöstes Bild des Ganzen.

Bundesweit werben die Parteien um die Aufmerksamkeit der Wähler. Themenplakate als auch Plakate der Kandidaten besetzen massiv den öffentlichen Raum. Durch die uniforme "Corporate Identity" und das bildgestalterische Gesamtkonzept der jeweiligen Parteien blicken die Gesichter der Kanditaten. Doch nicht nur Kandidat, Programm und Partei sprechen den Betrachter an. Die Plakate erzählen noch eine andere Geschichte, die Geschichte ihres Entstehungsprozesses. Und der, so erinnert uns Marshall McLuhan, ist maßgeblich an der Konstruktion der uns erreichenden Botschaft beteiligt.

Mathematisches Mittel von 7 Plakaten der Linken

Auch wenn es sich bei den Plakaten um ein Printmedium handelt, sind sie doch offensichtlich digital erstellt. Dies wird nicht nur bildästhetisch in der Art der Kollage deutlich, sondern auch innerhalb der Plakatserien. Das den digitalen Medienobjekten innewohnende Prinzip der Modularität1 der Medienebenen bedingt deren Selektierbarkeit und Editierbarkeit. So werden die Fotos der Kandidaten und Slogans ausgetauscht, ohne die Gesamtkomposition zu verändern.

Diese für die Massenproduktion geeigneten Erstellungsmethoden führen zu einer Standardisierung der Bilder, als müssten sie einer Industrienorm entsprechen. Die Frage ist nun, ob diese Standardisierung die Kandidaten stärker hervortreten lässt oder das mentale Metabild der Plakate die Individuen in den Hintergrund drängt. Ein solches Metabild würde subtil suggerieren, dass Personen und Programm wie deren Foto-Wahlkampf-Avatare austauschbar sind, ohne eine Konsequenz für das Gesamtkonzept, sei es nun ästhetisch oder politisch.

Mathematisches Mittel von 14 Themenplakaten der Grünen

Individualität und Standardisierung

Nicht nur in unserer Pop-, sondern auch in der Hochkultur, Forschung und Wissenschaft ist die Tendenz der Ablösung der literarischen Welt durch die der technischen Bilder deutlich spürbar. 1992 verkündet William J. Mitchell den Pictorial Turn und betont damit die Verschiebung vom Text zum Bild in der Konstruktion unserer nun wörtlich zu nehmenden Weltbilder.

Bevor technische Bilder durch den Privatgebrauch ein Massenphänomen wurden, zeichneten Autoren wie etwa Marcel Proust, James Joyce oder Robert Musil über individuelle Lebensschilderungen ein literarisches Gesellschaftsportrait. Ein diesem Konzept entgegen gesetztes, aber ebenso mentales Gesellschaftsbild wird auch durch die Jahrbücher des Statistischen Bundesamtes geprägt. Die Entindividualisierung hilft, ein Metabild zu entwerfen, in dem über Angaben wie Körpergröße, Gewicht, Verdienst, Konsumverhalten und Todesursachen prototypische Muster deutlich werden.

Überdenkt man diese beiden Konzepte im Zuge des Pictorial Turn, wird schnell deutlich, dass die am weitesten verbreitete Methode der Auslagerung einer Individualität die der fotografischen oder filmischen ist. Sucht man etwa in der Google-Bilderdatenbank Begriffe wie "Familie", "Frau", "Baby" oder "Opa", bekommt man den Zugang zu einer Vielzahl individueller Erinnerungen an verschiedene Etappen eines Lebens. Da es unserer Wahrnehmung eigen ist, ähnliche Eindrucke zusammenzufassen, Chaos zu strukturieren und zu abstrahieren, bilden sich in der Summe aller Bilder Muster, Muster von Familien, Frauen, Babys und Großvätern. Blickt man nicht auf seinen Bildschirm, sondern auf die unzähligen Wahlplakate, beginnen sich die Eindrücke ähnlich zu überlagern. Die Plakate finden sich auch auf den Webseiten der angetretenen Parteien. In der direkten Gegenüberstellung wird das Phänomen deutlicher.

Diese in Datenbanken ausgelagerten simultan zur Verfügung stehenden Bilder öffnen das Tor zu einer kulturellen Praxis, die es erlaubt, Muster nicht nur mental, sondern technisch zu generieren. So ist es nicht nur möglich, die Metastrukturen der Wahlplakate herauszuarbeiten, sondern auch die darauf abgebildeten Personen zu vereinheitlichen.

Mathematisches Mittel von Fotos der 601 Abgeordneten (197 Frauen und 404 Männer) des 15. Bundestages, 2005

Auf den Webseiten des deutschen Bundestages finden sich Abbildungen aller 601 Abgeordneten. Bildet man aus allen Gesichtern das statistische Mittel, erhält man nicht nur das Meta-Gesicht der deutschen Bundespolitiker, sondern man erhält erstmals über farbige Diagramme und Infotafeln hinaus eine grafische, personifizierte Entsprechung des Wortbildes "Bundestag".

Je nach der verwendeten Methode ergeben sich verschiedene Ergebnisse. Werden alle Bilder nur mathematisch gemittelt, wird das Metabild verschwommen und unpersönlich. Richtet man jedoch alle Gesichter an den Blickachsen aus, wird man von einem lächelnden Gesicht begrüßt.

Mathematisches Mittel von Fotos der 601 Abgeordneten des 15. Bundestages nach der Synchronisation der Augen

Fotorealismus und verkehrte Wirklichkeit

Bereits im 19. Jahrhundert entwickelte der Anthropologe Sir Francis Galton eine Methode, in der aus mehreren Fotografien ein Durchschnittsgesicht erzeugt werden konnte. Dazu wurden Fotos von Gesichtern übereinander positioniert. Die Augen bildeten dabei die Synchronisationspunkte.

Sir Francis Galton - Das Kompositions-Portrait einer Familie beinhaltet die Gesichter des Vaters, der Mutter, zweier Söhne und zweier Töchter

Galton erhoffte so Prototypen wie etwa die des Gewaltverbrechers oder einer Prostituierten ermitteln zu können. Alle erreichten Ergebnisse erwiesen sich jedoch als nicht repräsentativ, da sich individuelle Verhaltensmuster nicht in einer intersubjektiven äußeren Erscheinung niederschlagen. Die Technik führte dennoch zu Ergebnissen.

Nancy Burson - Das Bild zeigt den Durchschnitt der Gesichter von Jane Fonda, Jacqueline Bisset, Diane Keaton, Brooke Shields und Meryl Streep, 1982

Da auffiel, dass die entstehenden Gesichter aufgrund der sich bildenden Symmetrie attraktiver waren als die der Individuen, wurden diese Technik des Kompositions- Portraits bis in die 1980er Jahre in der Schönheitsforschung verwendet und dann von der Morphingtechnologie abgelöst.

Beautycheck: Ein aus 64 Gesichtern gemorphtes durchschittliches Frauengesicht

Auch wenn es beim Metabild des Bundestages nicht um Attraktivität geht, so hilft es doch, eine Anschauung zu gewinnen, sei es die vom Prototypen eines Abgeordneten oder die Erkenntnis, dass der Bundestag zum überwiegenden Teil männlich ist.

William Turner - Rain Steam and Speed - The Great Western Railway, Öl auf Leinwand, 1844

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In ihrer formellen Qualität sind die entstandenen Bilder Hybride. So besitzen die Bilder fotorealistische Eigenschaften, die jedoch nur substanziell sind, nicht jedoch vordergründig wahrnehmbar werden. Der nahe liegende Verdacht, Fotos und der von ihnen erwartete Realismus würden untrennbar einander anhaften, kann nicht bestätigt werden. In der wahrnehmbaren Qualität der Metabilder finden sich erstaunlicherweise eher Parallelen zu Gemälden, die entweder als non finito oder metaphysisches Bild à la William Turner angelegt sind.

Digitales Metabild aus 40 Fotos von Personen vor dem Eiffelturm in Paris, 2005

Der Begriff des Fotorealismus muss somit einmal mehr überdacht werden. In der Tradition der in der Wahrnehmung hybriden Portraits könnte man eine Umkehrung der Ansätze von Chuck Close finden. Close versuchte nach eigenen Aussagen, in seinen Bildern nicht die Personen zu portraitieren, sondern die Fotografien von Personen. Ähnliche Ansätze verfolgten andere Künstler der Realismusbewegung, so auch der Deutsche Gerhard Richter. Das digitale Metabild hingegen überwindet die durch den linsenbasierten Aufzeichnungsprozess bedingte Ästhetik und hebt eine Vorstellung von einer Person über deren Abbildung.

Chuck Close - Big Self-Portrait, Acryl auf Leinwand, 1967-68

Customization

Sollten die zuvor formulierten Thesen nur annähernd zu halten sein, so unterläge das durch die Plakatierung generierte mentale Bild der zur Wahl antretenden Parteien und ihrer Vertreter - mehr als beabsichtigt - den Prinzipien digitaler Bildgestaltung und den Produktionsmethoden der Grafikbüros. Die durch das Metadesign verursachte Standardisierung der Visualität in Verbindung mit der Massenproduktion bewirkt eine Entindividualisierung der Personen.

Verglichen mit uniformierten Einheiten, wie etwa Soldaten oder Balletttänzerinnen, denen aufgrund ihres genormten Äußeren eine ähnliche Symptomatik inne wohnt, täte den Plakaten eine Choreographie gut, ein höheres System, das die Posen des Einzelnen in ein Gesamtbild fügt. Darüber hinaus zeigen die Erfahrungen mit den modernen Bilderstürmern auch ein Verlangen nach einer Beteiligung der Betrachter an der Erscheinung der Plakate. Es geht dabei nicht immer um die Entwürdigung der abgebildeten Personen. Angemalte Schurrbärte, Brillen und Ohrringe zeugen vielmehr von dem Willen, das Bild nach den individuellen Maßstäben der Betrachter anzupassen. Customization ist hier das Zauberwort.

Gestürmte Wahlplakate

Wenn schon die digitalen Prinzipien mit in die Gestaltung der Plakate einwirken, so könnte man doch über Konzepte nachdenken, in denen der Betrachter im postmodernen Sinn vom Benutzer zum Autor wird. Vorstellbar wäre ein visuelles Wahlplakat-Wikipedia, in dem individuelle Wünsche und Meinungen geäußert werden können und dennoch in der Summe aller Einträge ein schlüssiges Metabild der Gesellschaft entsteht. Das Plakat stünde in seiner Funktion als Avatar des Kandidaten, der als Vertreter des Volkes sein Wahlprogramm mit den Wünschen an der Basis abgleichen könnte. Das Metadesign wäre dann nicht mehr für die Konzeption von Schablonen für austauschbare Gesichter und Texte zuständig, sondern für die Festlegung von Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Schaffung kultureller Werte möglich ist.

Aber bevor Wahlkampfplakat-Utopien im Universum der technischen Bilder möglich werden, vergehen wohl noch einige Wahlkämpfe. Und so werden wir periodisch auf Bilder schauen, die im Gedächtnis bleiben wie die Titelseiten der Fernsehillustrierten.

Literaturhinweise