Falsch gewählt: Warum eine Stimme schädlich sein kann

Die SPD fordert dazu auf, die CDU zu wählen und die CDU bittet ihre Anhänger dazu, sie nicht zu wählen: In Dresden könnte dies auf Grund von Fehlern im deutschen Wahlsystem Wirklichkeit werden

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Im Land der Ingenieurskunst wird nichts dem Zufall überlassen. Dies gilt erst recht bei einem Herzstück der Demokratie: der Wahl. Komplizierte Verfahren mit Namen wie d'Hondt oder Hare/Niemeyer, Wählerfreiheiten wie das berüchtigte Panaschieren und Kumulieren erwecken den Eindruck, dass an alles gedacht wurde. Doch in Wirklichkeit hat das deutsche Wahlrecht diverse bekannte Systemfehler (siehe auch: Kaputte Wahlen). Einer davon könnte den schon knappen CDU/CSU-Vorsprung vor der SPD nach der letzten Bundestagswahl gerade dann verringern, wenn sie bei der Nachwahl in Dresden gut abschneidet.

Grafik: Tagesschau, modifiziert von Harald Taglinger

Das Problem liegt in einem Phänomen des deutschen Wahlrechts, das zwar jeder schon einmal gehört, aber nicht unbedingt verstanden hat: Das Überhangmandat. Es entsteht aus unterschiedlichen Wählerverhalten bei der Abgabe ihrer Erst- und Zweitstimme. Während die Erststimme einen örtlichen Kandidaten wählt, wird mit der Zweitstimme die grundsätzliche Sitzverteilung im Bundestag bestimmt. Die Zweitstimme ist also die wichtigere Stimme, obwohl bei Umfragen immer wieder herauskommt, dass große Teile der Bevölkerung die genau umgekehrte Annahme treffen. Bösen Zungen zufolge ein Missverständnis, von dem die FDP ("Zweitstimme FDP!") seit Jahrzehnten profitiert.

Wer nun entsprechend dem oft propagierten Modell mit seiner Erststimme z.B. die CDU und mit der Zweitstimme die FDP wählt, bildet damit die Grundlage für das Entstehen von Überhangmandaten: Denn ein mit einer Mehrheit der Erststimmen gewählter Direktkandidat zieht auf jeden Fall in den Bundestag ein. Dies bleibt auch so, wenn sich bei der Auswertung der Zweitstimmen herausstellt, dass der fraglichen Partei weniger Sitze als gewählte Direktkandidaten zustehen. Die so zusätzlich ergatterten Mandate bleiben der entsprechenden Partei ohne Ausgleich für die anderen Parteien erhalten, der Bundestag wächst entsprechend. Dies ist zwar eigentlich ungerecht, doch nach Meinung des Bundesverfassungsgerichtes in einer Entscheidung von 1997 dennoch verfassungskonform.

Manchmal sind es erst die Überhangmandate, die einer Partei zu einer Mehrheit verhelfen. So konnte nach der Bundestagswahl 1994 Helmut Kohl nur dank 12 Überhangmandaten der CDU/CSU zum Kanzler gewählt werden. Selbst mit diesen Überhangmandaten wurde nämlich nur eine Stimme mehr als unbedingt notwendig erzielt. Joschka Fischer bezeichnete Kohl anschließend mit böser Zunge als Überhangkanzler. Doch auch Gerhard Schröder profitierte bereits von Überhangmandaten, diesmal von denen der SPD. Bei der Vertrauensfrage 2001 wurden zwei Stimmen mehr als notwendig erzielt - bei 10 Überhangmandaten.

Und auch nach der aktuellen Bundestagswahl sind die Mehrheitsverhältnisse alles andere als eindeutig. 225 Sitzen der CDU/CSU stehen 222 Sitze der SPD entgegen. Doch diese Mehrheit von 3 Sitzen ist alles andere als sicher. Der Blick fällt nach Dresden: Im dortigen Wahlkreis 160 wird nach dem Tod der NPD-Kandidatin Kerstin Lorenz erst am 2. Oktober nachgewählt. Für sie tritt dann als Direktkandidat der NPD Franz Schönhuber an. Bei der Bundestagswahl 2002 hatte die CDU dort 49.638 Zweitstimmen erzielt. Doch diesmal wären schon 41.227 Stimmen zuviel für die CDU. Denn sollte dies geschehen, würde aus einem Überhangmandat ein regulär erzieltes Mandat. Für Cajus Julius Caesar - der Mann heißt wirklich so - , Listenplatz 34 der NRW-CDU, wäre der Bundestagsstuhl damit verloren.

Wahlkreis 160 Dresden I

Das Resultat dieses "negativen Stimmgewichtes" wäre für die CDU/CSU durchaus brisant, ergäbe das Resultat doch eine Sitzverteilung von 224 Sitzen der CDU/CSU gegenüber 223 Sitzen der SPD. Die schon dünne Mehrheit wäre auf einen Sitz geschrumpft. Und niemand garantiert, dass es dabei bleibt: Wenn ein über ein Überhangmandat in den Bundestag eingezogener Parlamentarier wegfällt (z.B. durch Tod), fällt sein Sitz ersatzlos weg. So entschied es das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 1998 und erzwang so eine Änderung der vorherigen Praxis. In den letzten beiden Legislaturperioden trat dieser Fall bereits insgesamt fünf Mal auf. Gut möglich also, dass die CDU/CSU ihre Mehrheit später noch verlieren würde.

Wer jetzt schon am deutschen Wahlrecht zweifelt, dem sei versichert: Es geht noch komplizierter. So kann zum Beispiel ein Wahlergebnis in einem Bundesland zu Verschiebungen von Stimmen zwischen zwei anderen Bundesländern führen. Und noch weitere Webfehler sind enthalten: Von Sperrklauselparadoxien über Ausgleichsparadoxien bis zu Direktmandatsparadoxien haben die Macher der Webseite wahlrecht.de eine umfangreiche Referenz verschiedenster Fehler im System ausgemacht. Spätestens nach dem Studium dieser zum Teil schwer verständlichen Sonderfälle leidet wohl endgültig das Vertrauen in eines: die deutsche Gründlichkeit.