Der stumme Sieg

Die größte und mächtigste Opposition, die je in Syrien heranreifte

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Ein Besuch in der wichtigsten Autorität für sunnitische Syrer, die die Mehrheit der Muslime im Land ausmachen. Als moderat präsentiert sie sich selbst. Doch moderat im Sinne von was?

Salah Kaftaro ist ein gewitzter Mann. Füllig, mit Straßenanzug, gestutztem Kinnbärtchen und Handy am Ohr. Der Leiter der größten privaten Institution für Islamwissenschaften des Landes und Sohn des verstorbenen Großmuftis von Syrien lässt sich von ausländischen Zeitschriften schon einmal mit entblößtem Oberkörper im hauseigenen Swimmingpool fotografieren. In seinem palastartigen Büro schüttelt der PR-Profi herzlich westliche Frauenhände - anders als seine Mitarbeiter, die die Hand zum traditionellen Gruß auf die Brust legen -, signalisiert: Berührungsängste gibt's nicht.

Die größte Sorge: Das eigene Image

Vor über 30 Jahren gründete sein Vater, Scheich Ahmed Kaftaro, die private Abu Nour Foundation. Eine mittlerweile 18.000 m2 ausladende und neun Stockwerke aufstrebende Instanz im Zentrum von Damaskus, die neben einer Moschee drei Islamschulen, zwei Sharia-Institute, Übersetzungsabteilungen, Schlafsäle und Kantine umfasst. Mehr als 7000 Studenten sind hier eingeschrieben, davon 6000 Syrer und 1000 Studenten aus über 60 Nationen, vorwiegend Malaysier, Indonesier und Nordafrikaner.

Neben Islamerziehung ermöglicht sie auch Nichtarabern das Studium der Sprache. In die Schlagzeilen geriet die Foundation 2003 als der US-Amerikaner James Yee, Westpoint-Absolvent und moslemischer Geistlicher im Guantanamo Bay Gefangenenlager, der Spionage beschuldigt wurde. Dass der Major letztlich in allen Punkten freigesprochen wurde, zog weit weniger Medieninteresse auf sich als seine religiöse Erziehung Mitte der 90er Jahre - an der Abu Nour Foundation. Das ohnehin der Terrorismusförderung verdächtigte Regime zog die Notbremse und schloss im März 2004 alle Ausländer vom Religionsstudium an privaten Landeseinrichtungen aus. Knapp ein Jahr später hob es das Verbot zwar wieder auf, doch Kaftaro ist immer noch um Schadensbegrenzung bemüht.

Der in Abu Nour ("Vater des Lichts") gelehrte Islam predige nichts als Dialog. Mehr als einmal fällt dieser Satz - ebenso wie der vom falschen Bild, das schlecht gesonnene, zumindest schlecht informierte westliche Medien zeichnen. "Debattiere mit anderen in der besten Weise" lautet denn auch das Motto von Abu Nour. Eine Bildkorrektur gegenüber dem Westen, eine Mahnung an die eigenen Reihen, denn es sei einfach ein falsches Koran-Verständnis, das sich da in den Köpfen von Bin Laden & Co. festgesetzt habe. Zum Thema Jihad, Shura oder Frauen.

Wenn wir hören, dass ein Muslim seine Frau daran hindert, das Haus zu verlassen und dies mit Allahs Worten begründen will, halten wir das Beispiel jener Muslimin dagegen, die sich öffentlich gegen Omar Ibn-al-Khattab, den zweiten Kalifen der Sunniten, erhob, als der behauptete, dass ein Mann seiner Braut nicht mehr als 1000 Diram Mitgift zahlen dürfe. Laut Koran, so die Frau, gäbe es diese Einschränkung nicht und al-Khattab gab ihr Recht.

Dialog, wo möglich

Ist das nun beweiskräftig im Hinblick auf Frauenrechte, gar Geschlechtergleichstellung im Islam? Die Frage liegt auf der Zunge - doch zu spät: die Führung über die blitzblanken Flure der Foundation beginnt. Geschäftig lotst der Führer in die Klassenzimmer der jungen Mädchen. 470 lernen hier, von der 7. bis zur 11. Klasse. Die jüngsten sind 12 Jahre, ihr weißes Kopftuch eine Selbstverständlichkeit. Insgesamt übersteigt der Frauenanteil mit sechzig Prozent den der Männer. Offensichtlich treibt es immer mehr Eltern, aber auch Heranwachsende aus eigenem Wunsch zu einer religiösen Erziehung.

Die erste Station ist die Informatik- und Computerklasse. Dank eines Übereinkommens mit der japanischen Botschaft verfügt die Abu Nour Foundation über mehr als hundert Workstations. Auf sie ist Kaftaro besonders stolz, preist sie im Kontext seiner säkularen Studien an, die 35 Prozent seines Lehrplans ausmachen. Er schätze es nicht, wenn die "Leute den Kopf nur voller Religion haben", daher habe er moderne Wissenschaften ins Programm aufgenommen. Das ist fortschrittlich, aber irgendwie denkt der Westler bei dem Wort "säkular" doch an anderes. Reform des Glaubensverständnisses etwa - zumal wenn die Schüler erklärtermaßen darauf vorbereitet werden sollen, den Islam weltweit zu lehren. Auch als Imame in Europa. Wie steht es beispielsweise um ihr Verhältnis zur Evolutionstheorie? Kaftaro verweist auf die praktizierenden Ärzte, die hier Islamerziehung als Zusatzstudium betreiben und kommt in Bausch und Bogen auf die hundert Workstations zurück.

in der Bibliothek

Ein Zimmer weiter zitieren Teenager im Chor rechtsrelevante Verse des Koran. Eine Sommersprossige kichert ungeniert über den fremden Besuch, das lockert die Stimmung - auf beiden Seiten. Prompt folgt die Zurechtweisung durch die Lehrerin mitsamt der Anweisung, auch ja alle Fragen zu beantworten. Fragen, welche Fragen? Lehrstoff? Lebensziele? Robbie Williams? Nur zu gerne würde man loslegen, auch auf die Gefahr hin, in Fettnäpfchen zu treten, doch angesichts der angeordneten Formation weißer Kopftücher kriecht eine Befangenheit hoch, die Kaftaro eben noch erfolgreich weglächeln konnte. Keine leichte Sache, dieser Dialogversuch. Im Männer-Trakt gerät er dann ganz ins Stocken.

Dem Führer widerstrebt es sichtlich, eine Frau, zumal ohne Kopftuch, dorthin zu geleiten, aber wo bliebe dann das von Kaftaro hoch gehaltene Bild vom Austausch. Hat denn hier keine ein zweites Kopftuch dabei, hektisiert er herum. Es wird peinlich, abwinken, nein, eigentlich müsse dieser Gang wirklich nicht sein. Kurz entschlossen drückt er den obersten Knopf im Fahrstuhl, hinauf zu den Ausländern, denen man soviel Affront wohl eher als den Einheimischen zumuten kann. Die meisten von ihnen leben umsonst in der Foundation, erhalten Essen und Lehrmaterial für einen Obolus.

Möglich machen dies die großzügigen Spenden der Damaszener Bürger, die vor allem der Ansar Charitable Society zugute kommen, die Scheich Ahmad Kaftaro 1955 gründete. Heute unterstützt sie an die tausend Waisenkinder. Die Fahrstuhltür öffnet sich, hin zu einer riesigen Halle mit Gebetsteppich. Trotz des Angebots des Führers, weiterzugehen, endet der Besuch blitzschnell mit der Überzeugung, in dieser Welt absolut nichts zu suchen zu haben. Junge Männer, die aufgescheucht davonhuschen, um dann doch neugierig hinter Fenstern hervorzulugen. Am gegenüber liegenden Ende des Flurs ein Nordafrikaner, der kerzengerade und entrückt "Quraat" übt, die hohe, durchreglementierte Kunst der Koranrezitation. Jede Silbenbetonung ein Sakrament. Das Gefühl, auf dem Weg zum Dialog ein Sakrileg begangen zu haben, setzt sich fest.

"Keiner außer Mohammad kann einen islamischen Staat errichten"

Zurück in der prächtigen, vom Privatmann Aaref al-Trakji gestifteten Bibliothek, die an diesem Tag nur von Frauen besucht wird. Die strenge Trennung der Geschlechter bedeute nicht, dass sie nicht auf "natürliche Weise" miteinander verkehren, erklärt der Führer unvermittelt. Natürlich nach welchen Kriterien? Aus westlicher Sicht herrscht hier alles, außer Natürlichkeit. Aber ist das relevant, gar "richtig"?

Das Regime selbst befürwortete diese Entwicklung nie. Weniger wegen Fragen der "Natürlichkeit", als wegen der anti-säkularen Ausrichtung. Eine stumme Volksfront, die ihre Religion demonstrativ lebt und gegen die die "säkularen" Machtinhaber machtlos sind. Daher lassen sie gewähren, unter gewissen Voraussetzungen. Dazu gehört vor allem die "Unterstützung der nationalen Einheit", dem Lieblingsschutzschild des Regimes vor Separatismus. Ebenso entscheidend: Der Verzicht auf jedes politische Programm.

Zwar darf Kaftaro gelassen den baldigen Untergang der Nahost-Diktaturen prophezeien ("Wenn die Regime dieser Region weiter regieren wollen, müssen sie Freiheit und Demokratie unterstützen", denn: "Wir leben in dieser Welt, deren bestfunktionierendes System die Demokratie ist - also, warum sollten wir uns nicht anpassen?"). Doch gehört in Syrien Regimekritik dieser Art mittlerweile zum guten Ton. Zwei Dinge bleiben dabei aus: Verantwortliche werden nie beim Namen genannt, als läge die Schuld bei einer nie ausfindig zu machenden Gewalt. Noch wird je ein ernsthaftes Gegenprogramm erarbeitet.

Innerhalb dieses "Murren-nicht-Machen"-Rahmens darf die gewaltfreie, aber extrem konservative Massenbewegung - die größte und mächtigste Opposition, die je in Syrien heranreifte - ungestört wachsen. Wohin ist unklar und auch, ob im Falle eines Regimesturzes, ihr politisches Dementi nicht Gerede von gestern wäre - wenngleich eine breite Trendwende zum Extremismus sehr unwahrscheinlich ist.

Verändert hat sie das Land jetzt schon, hin zu einer Islamisierung der syrischen Moderne, auch wenn PR-Manager Kaftaro nur zu gerne die Modernisierung seines Islam unterstreicht. So überreicht er zum Abschied ein Magazin aus den Vereinigten Emiraten mit einer großen Reportage über die Foundation. Auf dem Titelblatt fährt sich ein Emiraten-Starlett im Madonna-Look durchs Haar. "Sie sehen, wir spielen bereits in der Liga der arabischen Beautys mit", schmunzelt Kaftaro. Ob bei Regime, Ultrakonservativen oder westlichen Medien - der Mann weiß, wie man bei Laune hält.