Israel droht mit Militärinvasion im Gazastreifen

Mindestens 23 Palästinenser starben. Autonomiebehörde macht sich noch unbeliebter bei Bevölkerung

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Weniger als zwei Wochen nach dem israelischen Abzug aus dem Gazastreifen (Abschlussparty) und dem optimistischen Beginn internationaler Aufbauhilfe steht das Gebiet wieder vor einer Militärinvasion. Diese Entwicklung begann am Freitag im Flüchtlingslager Dschabalia, als zwei Explosionen inmitten einer Hamas-Parade 19 Palästinenser zerriss. Auch Kinder sind unter den Opfern. 85 Menschen wurden verwundet. Am frühen Samstagmorgen schossen darauf hin mehrere palästinensische Organisationen aus dem Gazastreifen 26 Raketen auf Israel ab und verletzten dort fünf Menschen. Seither flog die israelische Luftwaffe mehrere Angriffe. Am Samstagnachmittag starben vier Palästinenser durch den Raketenbeschuss aus unbemannten Drohnen in Gaza. In der Nacht zum Sonntag wurden Wohnhäuser in Khan Junis und Gaza-Stadt getroffen. Mindestens 27 Palästinenser wurden verletzt, darunter viele Kleinkinder. Im Westjordanland nahmen israelische Soldaten in der Nacht zum Sonntag 207 Palästinenser fest, denen zumeist Engagement für die Hamas und den Islamischen Dschihad vorgeworfen wird.

„Ich habe angeordnet, dass es keine Beschränkungen in der Wahl der Mittel bei den Schlägen gegen die Terroristen, gegen ihr Material und ihre Verstecke gibt“, erklärte Israels Ministerpräsident Ariel Scharon auf der wöchentlichen Kabinettssitzung am Sonntag, Sein Verteidigungsminister Schaul Mofas kündigte eine „vernichtende Antwort“ auf den Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen an. „Es wird eine harte und komplizierte Operation gegen die palästinensischen Parteien“, so Mofas. „Sie wird lange dauern und wie ein Erdbeben sein.“ Israel stationierte Panzereinheiten am Nordrand des Gebiets. Bereits in der vergangenen Woche wurde in Israel über die Einrichtung einer Pufferzone zum Gazastreifen diskutiert. Der palästinensische Ministerpräsident Ahmad Kureia und die Europäische Union forderten Israel auf, die Lage zu deeskalieren und die Luftschläge einzustellen.

Als Zeichen der Anteilnahme blieben am Wochenende Geschäfte und öffentliche Einrichtungen im Großteil des Westjordanlands geschlossen. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) beschuldigte in einer Stellungnahme die Hamas, selbst für den Tod der 19 Menschen auf ihrer Parade verantwortlich zu sein. Innenminister Naser Jusef forderte die islamistische Bewegung auf, „die Verantwortung für diese Explosionen zu schultern, anstatt andere zu beschimpfen“. Auch Israel bezeichnete den Vorfall als „Arbeitsunfall“, also als vorzeitige Detonation eines Sprengsatzes. Manche wollen anderes beobachtet haben: „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie zwei Raketen angeflogen kamen“, erklärte aber der Politikstudent Saleh Hamad gegenüber Telepolis die Explosionen im Lager Dschabalia vom Freitag. „Und mittlerweile gibt es dazu auch Fernsehbilder.“ Auf einer Pressekonferenz am Samstag in Gaza präsentierte Nisar Rajan aus dem Hamas-Führungsgremium ein Teil der Steuerungseinrichtung einer angeblich israelischen Rakete, das im Körper eines Toten gefunden wurde.

Kampf um Wählerstimmen

Unabhängig davon, ob die 19 Toten vom Freitag von der Hamas selbstverschuldet sind oder Israel verantwortlich ist, so haben beide Szenarien bereits Niederschlag in der palästinensischen Innenpolitik gefunden. „Die Leute sind jetzt natürlich sehr wütend auf die Autonomiebehörde“, so Saleh Hamad weiter. „Auch weil noch kein Offizieller den Tatort besuchte. Es heißt, dass die Behörde der Hamas die Schuld gibt, um den guten Ruf der Bewegung zu untergraben und bei den Parlamentswahlen im Januar besser zu punkten.“ Jetzt gelte die PA allerdings umso mehr als „Handlanger Israels“.

Die palästinensischen bewaffneten Gruppen sehen den Abzug Israels aus dem Gazastreifen als Erfolg ihrer Anschläge. Eine Ansicht, die 60 Prozent der Palästinenser laut einer Umfrage der Universität Nablus vom letzten Sonntag unterstützen. Allen voran die Hamas-Bewegung, die sich derzeit in der schwierigen Umwandlung zur politischen Partei befindet. Zudem finden Diskussionen um die Anerkennung Israels statt. „Historisch gesehen gehört ganz Palästina den Palästinensern“, so Muhammad Ghasal, Hamas-Kader aus Nablus. „Aber wir reden jetzt über die Realität, über politische Lösungen.“ Laut mehreren Umfragen wird die Hamas in den Parlamentswahlen vom Januar etwa ein Drittel der Stimmen einfahren, gleichauf mit der Fatah-Bewegung. Hamas ist sogar bereit, Ministerposten und damit Regierungsverantwortung zu übernehmen.

Die PA, sprich: die Fatah-Führung, will den Abzug stattdessen als Frucht ihrer Verhandlungstätigkeit verbuchen. Bei einem nach den Ereignissen vom Freitag stark geschrumpften „Festival der Freiheit und Unabhängigkeit“ am Samstag betonte der palästinensische Präsident Mahmud Abbas in Ramallah die Notwendigkeit zu weiteren israelischen Rückzügen. „Der Abzug wird erst vollständig sein, wenn die Besatzung der palästinensischen Gebiete im Westjordanland und Ost-Jerusalem endet und ein unabhängiger Staat in den Grenzen von 1967 gegründet ist.“ Abbas wandte sich erneut gegen das „Sicherheits-Chaos“ in den von ihm verwalteten Gebieten. Unkontrollierter Waffenbesitz müsse bekämpft, „militärische Paraden in Wohngebieten müssen aufhören“. Auch Abbas machte die Hamas für die 19 Todesfälle verantwortlich.

Abtrennung des Jordantals

Viele Palästinenser sehen sich von der als korrupt angesehenen Behörde allerdings nicht mehr repräsentiert, einschließlich der Basis der Fatah-Bewegung, die die PA dominiert. Zudem erfahren große Teile der Bevölkerung des Westjordanlands keine Vorteile aus einer Unterstützung der Autonomiebehörde. Am Wochenende riegelte Israel die besetzten Gebiete wieder einmal ab. Die Nachricht an sich ist wenig bedeutsam, da die besetzten Gebiete bereits seit Jahren abgeriegelt sind. Allerdings unterscheidet Israel zum ersten Mal „Westjordanland, Jordantal und Gazastreifen“. Israel will das Jordantal vom Rest des Westjordanlands trennen und behalten. Zusammen mit dem geplanten Verlauf der israelischen Sperranlagen wird so bereits die territoriale Form eines späteren palästinensischen Staats erkennbar: Gazastreifen und das Hochland des Westjordanlands.

Die Autonomiebehörde hat kein Mittel, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Ein Grund, weshalb viele ihre Umstrukturierung anstreben. Ihre Führer widersetzen sich dem jedoch mit aller Kraft. Deshalb entkam der Fatah-Kader Hani Al-Hassan letzten Dienstag in Nablus nur knapp einem Attentat der parteieigenen Aksa-Brigaden. Und bereits am 7. September wurde der reformunwillige ehemalige Geheimdienstchef Musa Arafat in Gaza erschossen.