Im Paradies sind alle tot

Hany Abu-Assads "Paradise Now" ist ein beklemmender, hervorragend inszenierter Einblick in die Mentalität von Selbstmordattentätern

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Was erlebt und wie denkt ein Selbstmordattentäter in seinen letzten Stunden? Was geht überhaupt in seinem Kopf vor, warum opfert er sein Leben für ein abstraktes Ziel, zudem eines, das er selbst nie erleben wird und das seine Tat letztlich kaum befördern dürfte? Dies sind Kernfragen unserer Zeit: Erst kürzlich erinnerten die Attentate von London daran, dass viele junge Männer, die ihren Weg in den Terror finden, nicht aus "kaputten", sondern aus wohlhabenden, gebildeten, auch sonst "intakten" Verhältnissen stammen. "Paradise Now", der seine Premiere im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale erlebte, zeigt nicht die Opfer, sondern versucht, sich dem Denken junger Palästinenser anzunähern, die als Gotteskrieger zu lebenden Bomben werden. Ihm gelingt dieses schwierige Unterfangen in erstaunlicher Weise. Der Film macht deutlich, dass die Terroristen keine Bestien sind, keine irrationalen Wahnsinnigen, noch nicht einmal in jedem Fall besondere Fanatiker.

Wenn das Bild ganz weiß wird, ist das Paradies erreicht. "The horror, the horror" lauten die letzten Worte in "Apocalypse Now"- und so könnten sie auch in Hany Abu-Assads Film heißen. Dessen Titel spielt keineswegs zufällig an Coppolas Klassiker an, denn im Paradies sind bekanntlich alle Menschen tot. Dem Paradies voraus geht die Vorhölle, und an Orten, die wie Israel und die von ihm besetzten Gebiete von alltäglichem Schrecken, von Tod und Todesdrohung, Erniedrigung und Hass, von der schon zur Gewohnheit gewordenen realen Apokalypse eines Bombenattentats geprägt sind, ist sie beinahe mit dem Leben selbst identisch.

Unter Ohnmächtigen

"Eines Tages werden die Dinge besser sein", meint die junge Frau zum Fahrer ihres Taxis. "Sie sind wohl nicht von hier", antwortet der.

Mit einer Alltagsszene beginnt die merkwürdige Passionsgeschichte von "Paradise Now": Suha (gespielt von der aus u.a. André Techinés "Loin" bekannten Franco-Marokkanerin Lubna Azabal) will die Grenze zwischen Israel und der Westbank überqueren. Demütigend ist die nun folgende Prozedur des Misstrauens, des Wartens, der Durchsuchungen, die Suha routiniert über sich ergehen lassen muss - und gleichwohl von der anderen Seite her verständlich, wenn man sich bewusst macht, dass auch Frauen in dieser Gegend oft als lebende Bomben die Grenze überqueren.

Suhas Vater, das erfährt man bald darauf, ist das, was die Palästinenser "Märtyrer" nennen - gerade aus dieser Erfahrung hat sie selbst dem bewaffneten Widerstand abgeschworen und engagiert sich in einer Menschenrechtsorganisation. Suha ist das erste Gesicht Palästinas, das aus diesem Film haften bleibt: Jung, gebildet und zivilisiert, von prowestlichen Werten geprägt, selbstbewusst. Bald darauf werden uns andere Gesichter begegnen. Das wichtigste gehört Said (Kais Nashef), der zusammen mit seinem Freund Khaled (Ali Suliman) als Mechaniker in einer Autowerkstatt in Nablus arbeitet.

Als Suha ihm ihren Wagen zur Reparatur bringt, ist sofort zu spüren, dass sie einander gefallen. Sie reden gern miteinander, unter anderem über das Kino: Erst einmal sei er in einem gewesen, sagt Said auf ihre Frage - jedoch nicht, um einen Film zu sehen, sondern um es niederzubrennen. Suha und Said könnten ein Liebespaar werden, wäre da nicht von Anfang an Saids seltsames Zögern: Gerade angesichts der Tochter eines berühmten "Widerstandshelden" bricht in ihm wieder die Erinnerung an seinen eigenen Vater hervor. Said schämt sich für ihn, der einst als Kollaborateur von den eigenen Leuten "hingerichtet" wurde. Seitdem lastet die Schande auf der Familie.

Subtil präsentiert der Regisseur unter der Oberfläche dieser privaten Konfrontation und der Impotenz, die Said fühlt, eine soziale Diagnose: Eine männliche Kultur, die unter den Bedingungen der Ohnmacht existiert und die ihre Identität aus dem Kampf gegen diese spezifische Ohnmachtserfahrung und aus ihrer Bewältigung schöpft. Aus ihr heraus wird der Weg in den Terror verständlich, ohne dass Abu-Assad bei aller Empathie für seine Figuren den Wahnsinn der Tat irgendwie leugnet oder gar verklärt. "Lieber tot sein, als in der Unterlegenheit leben." heißt es einmal.

Als sich Said und Suha das nächste Mal begegnen, haben sich die Dinge bereits entscheidend geändert: Ausgerechnet der geachtete angesehene Lehrer Jamal (Amer Hlehel), der - auch hier setzt der Regisseur konsequent auf Desillusionierung - im Gespräch den Wert der Bildung betont, ist der Kontaktmann der Radikalen. Er hat Said und Khaled gerade die Nachricht überbracht, dass sie von ihrer Organisation für ein Attentat am nächsten Tag vorgesehen wurden.

Das letzte Abendmahl

Der Film folgt nun detailliert den letzten 24 Stunden der beiden jungen Männer. Er zeigt ihren letzten Abend im Kreis der nichts ahnenden Familie, zeigt die kleinen Lügen, die die Tarnung sichern, beschreibt, wie die Aufnahme eines Abschiedsvideos um ein Haar an technischen Pannen scheitert, zeigt wie die zukünftigen "Märtyrer" von ihren Helfern rasiert und gereinigt werden; ein Akt der Initiation und der Vorbereitung auf eine heilige Tat.

Bevor ihnen schließlich eine Sprengstoffweste um den Leib geklebt wird und sie mit versteinerter Miene und in schwarzen Anzügen schon ihrer selbst kaum noch ähnlich die Grenze nach Israel überqueren, gibt es ein gemeinsames Essen - das Abu-Assad visuell analog zu Leonardo da Vincis berühmtem Bild "Das letzte Abendmahl" inszeniert, in dem Said gewagt an die Stelle Jesu gesetzt wird. Diese Fülle christlicher Metaphern in diesem islamischen Zusammenhang ist merkwürdig - vielleicht aber auch nur ein weiteres Beispiel für den bitteren Humor, die auf die Spitze getriebene, dabei mit seismographischer Kühle und Distanz registrierte Absurdität des ganzen Verfahrens.

Anatomie des Terrors

Hany Abu-Assad, 1961 in Israel geboren und daher israelischer Staatsbürger palästinensischer Herkunft, lebt seit seinem 19. Lebensjahr überwiegend in den Niederlanden, deren Staatsangehörigkeit er inzwischen besitzt. Er hat schon in seinen bisherigen zwei Filmen, dem Spielfilm "Rana's Wedding", der in die deutschen Kinos kam, und der beeindruckenden Dokumentation "Ford Transit", der u.a. auf dem Filmfestival von Carthago und in Deutschland beim Dokumentarfilmfest München zu sehen war und die die Arbeit eines der im Grenzgebiet zwischen Israel und der Westbank üblichen Bustaxis beschrieb, eindrucksvoll den absurd-destruktiven Alltag des Lebens in der Besatzung zwischen Terror und Normalität geschildert.

Auch für diesen Film hat der Regisseur umfangreich recherchiert. Er las Protokolle gescheiterter Attentäter und sprach mit israelischen Polizisten, sowie mit Freunden und Hinterbliebenen von Selbstmordattentätern. Hinter aller Fiktion steht ein starker Realitätswillen, ein dokumentarischer Anspruch, der sich auch in den ruhigen, genau gestalteten, abstrakt-analytischen Bildern zeigt.

Die Produktion von "Paradise Now" ist nicht nur dadurch bemerkenswert, dass der Film tatsächlich in den besetzten Gebieten gedreht wurde, zum Teil unter chaotischen und gefährlichen Umständen, bedroht nicht zuletzt von rivalisierenden Palästinenserorganisationen. Finanziert wurde sie als deutsch-französisch-niederländische Koproduktion. Mittlerweile ist der Film in 45 Länder verkauft worden, darunter nach Israel, wo der "Israeli Film Fund" dem Film Verleihförderung zuteil werden ließ.

"Paradise Now" ist ein überfälliger Betrag des palästinensischen Kinos zum Terror in Nahost sowie zur Frage der politischen Gewalt und zur Anatomie des Terrors. Vor zwei Jahren hatte sich der Filmemacher Elia Sueiman in seinem vielbeachteten Film "Göttliche Intervention" noch auf die Ebene einer allzu das Skurrile betonenden, lakonischen und bei allem politisch Plakativen letztlich unpolitischen Komödie zurückgezogen, deren Szenen an Jacques Tati, Takeshi Kitano und den Georgier Ottar Iosseliani erinnerten. Doch schon das Schicksal dieses Films erinnerte an das Schicksal der palästinensischen Nation, ihres schwierigen Kampfes um Anerkennung.

2004 verweigerte die Oscar-Academy "of Motion Picture and Sciences" dem Film die Zulassung zur Bewerbung um den Titel des "Best Foreign Film" mit der Begründung, Palästina fehle die Anerkennung der UNO - eine absurde Entscheidung angesichts einer Situation, in der gerade Film ein Mittel ist, um den Ungehörten eine Stimme zu geben. Ungeachtet solcher Entscheidungen ist in Palästina ein waches und lebendiges Kino gewachsen - wie jetzt Abu-Assads Film beweist.

Zwischen allen Fronten

An seinen drei paradigmatischen Hauptcharakteren und verschiedenen Nebenfiguren gelingt "Paradise Now", ohne je zum Thesenfilm zu werden, eine eindrückliche, facettenreiche Innenansicht palästinensischer Befindlichkeit. Er leuchtet mit den persönlichen Motiven auch die sozialen Hintergründe genau aus. Elegant und klug bewegt sich der Film durch ein politisches Minenfeld, wird den Positionen gerade in ihrer Vielfalt und Ambivalenz gerecht; ohne Terrorismus je zu verklären, beschreibt er die Wirklichkeit, wie sie ist aus Sicht der Menschen. Subtil in seinen Mitteln, aber überaus klar in der Aussage, ist der Film dabei eine deutliche und mutige Kritik an der menschenverachtenden und für die politische Position der Palästinenser verheerenden Ideologie der Hamas und anderer religiöser Fundamentalisten.

Das Szenario nimmt eine weitere beklemmende Wendung, als Khaled und Said ihren Auftrag nicht ausführen können, und mit mehreren Kilo Sprengstoff um den Bauch zurückkehren. Zum dritten - und nicht zum letzten - Mal überquert der Film die Grenze. Von ihren Genossen als Verräter oder Feiglinge verdächtig, in Gefahr von den Israelis entdeckt zu werden, zudem von Selbstzweifeln gequält, stehen Khalid und Said zwischen allen Fronten.

Bei alldem bleibt über den ganzen Film viel Raum, die Gedanken der beiden kennen zu lernen. Auch Suha ist die Situation inzwischen klar geworden. Sie argumentiert mit den beiden, versucht, sie von einem zweiten Versuch einer Selbstmordaktion abzuhalten. In diesen Passagen untersucht "Paradise Now" sensibel und offen die verschiedenen palästinensischen Auffassungen und Argumente über Nutzen und Nachteil von Selbstmordattentaten.

Triumph des Todes

Said zweifelt zwar von Anfang an an Sinn und Notwendigkeit der "Aktion", doch ist er innerlich von der Schmach seiner Familie gefangen genommen, so dass ihm ein Aussteigen unmöglich scheint. Noch einmal schreckt er, durch den Anblick eines kleinen Mädchens für Sekunden aus seiner traumatisiert-fanatischen Trance herausgerissen, im letzten Moment davor zurück, einen Bus zu besteigen und seine Sprengladung zu zünden. Doch am Ende wird er sich in die Luft sprengen.

Khaled ist der rationalere der beiden - daher den Argumenten der fundamentalistischen Radikalen, aber auch eigenen Zweifeln und Suhas Mahnungen zugänglicher. Während sich Said verhärtet, wird Khalid zum Helden skeptischer Rationalität, der sich im entscheidenden Moment dem Märtyrertod und damit auch dem sozialen Druck verweigert. Er will das Leben nicht länger nur als Apokalypse und den Tod als Paradies zu sehen. Wenn Said diesen Weg nicht gehen kann, dann ist, daran lässt der Film nicht den geringsten Zweifel, dieser Triumph des Todes eine Niederlage und ein Zeichen der Schwäche.