Der Merkel-Faktor

Von der „Fahrerstochter“ an die Spitze der Republik

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Hätte vor zehn Jahren irgendein politischer Beobachter, Journalist oder Soziologe die Prognose abgegeben, dass Angela Merkel spätestens 2005 Bundeskanzlerin wird, hätte er bei sowohl bei Fachkollegen als auch in der Öffentlichkeit im besten Falle Stirnrunzeln ernten können, viel eher aber völliges Unverständnis oder sogar Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit. Diese graue Kugelmaus, Papa Kohls Mädchen, die triste Unscheinbare aus dem Osten? Nie und nimmer! Was nur einmal mehr zeigt, wie wenig Leitartikler, professionelle Lallbacken und andere Experten, die um die Deutungshoheit im öffentlichen Diskurs ringen, vom eigentlichen politischen Geschäft sowie von den Qualifikationen verstehen, die erforderlich sind, um in dieser Institution nach oben kommen.

Pressekonferenz der Partei- und Fraktionsvorsitzenden Angela Merkel am 10.10. mit der Ankündigung, dass Präsidium und Bundesvorstand den Beginn der Koalitionsverhandlungen beschlossen haben (Foto: CDU)

Wie schafft man im Haifischbecken der Macht - vorbei an scheinbar souveränen Pottwalen wie Kohl, an smarten altgedienten Intriganten und beutegierigen Jungräubern von Merz bis Koch und zuletzt an einem leibhaftigen weißen Fernsehhai vom Kaliber Schröder – ganz nach oben zu schwimmen und als Queen Angie I. dem Meer zu entsteigen? Das war auch für mich, als Mitglied der oben zitierten Expertenrunde, ein großes Mysterium, bis mir heute der Kollege S. eine Anekdote aus dem Leben der Angela M. berichtete, die das Rätsel um die wunderbaren Fähigkeiten der künftigen Kanzlerin zumindest teilweise lüftet. Er hatte sie beim Mittagessen von einer weiteren Kollegin gehört, die gerade die Biographie der Templiner Pfarrerstochter recherchiert. Da es sich beim Ort des Mittagessens um die Kantine einer hochmögenden Anstalt der ARD handelte, die bekanntlich immer nur die Wahrheit sagt, gebe ich die Geschichte ohne weitere Quellenrecherche wieder – doch scheint sie so aufschlussreich für das Mysterium des Merkel-Faktors, dass sie nur wahr sein kann:

Die junge und ehrgeizige Angela hatte schon früh bemerkt, dass Pfarrer in der DDR kein angesehener Beruf und die Herkunft aus einem Pfarrhaus dem sozialen Aufstieg eher hinderlich war. Deshalb hatte sie sich angewöhnt, wenn sie nach dem Beruf ihres Vaters gefragt wurde, immer etwas undeutlich zu nuscheln und das Wort in die Länge zu ziehen. So wurde aus dem „Pfarrer“ ein im Arbeiter- und Bauernstaat politisch absolut korrekter Beruf: „Fahrer“.

Inwieweit dieser Kniff im Sinne des Pfarrhauses als erlaubte Notlüge oder als Todsünde zu werten ist, können nur Theologen beurteilen, doch er gibt einen deutlichen Hinweis auf die verborgenen Qualifikationen, die den erstaunlichen Aufstieg Merkels ausmachen: ein hohes Potential an sozialer Intelligenz, Vernetzungs- und Anpassungsfähigkeit. Denn vom Pfarrer auf den Fahrer muss man nicht nur erst mal kommen - also wortgewandt und klug sein -, man muss es dann auch performance-mäßig bringen und dabei so doppeldeutig und unfassbar bleiben wie Teilchen und Welle, die frau als Quantenphysikerin gerade studiert.

Ideale Voraussetzungen also für ein Geschäft, in dem nicht das Lügen bestraft wird, sondern nur das Sich-Erwischen-Lassen: die Politik. Unsere nächste Bundeskanzlerin scheint über Fähigkeiten zu verfügen, die bis dato noch kaum zur Kenntnis genommen worden sind. Das macht, angesichts der kommenden Schrecken einer „Schrökel“-Koalition, immerhin einen Funken Hoffnung. Die CDU freilich sollte ihre ohnehin völlig unpassende und deprimierende Angie-Hymne schleunigst auswechseln: Die ruppigen „Rolling Stones“ waren der stromlinien-bewussten Aufsteigerin zu gewagt, wenn sie als Teenie davon träumte, mal so etwas wie Nachfolgerin von Ulbricht und Honnecker zu werden. Mehr als die „Beatles“ war da an Pop-Opposition einfach nicht drin. Insofern ist für die erste „Fahrerstochter“ an der Spitze der Bundesrepublik dringend eine neue Erkennungsmelodie fällig: „Baby, you can drive my car“.