Molekularer Vier-Takt-Motor

Chemische Energie betreibt organischen Propeller

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Ein Team von Chemikern aus Groningen ist eine weitere Sprosse in der Entwicklung molekularer Motoren gelungen. Die neueste Nanomaschine wird mit chemischer Energie angetrieben. Es handelt sich um einen Kleinstrotoren, der gezielt in eine bestimmte Richtung dreht. Dabei griffen die Forscher in die Trickkiste der Stereochemie.

Seit vielen Jahren überlegen Wissenschaftler, wie Medikamente im menschlichen Körper gezielter dosiert werden können. Hilfe bieten die so genannten „molekularen Motoren“ – eine Neuigkeit auf dem Gebiet der Nanotechnologie. Die Forschergruppe um den Organischen Chemiker Ben L. Feringa von der Universität Groningen hatte bereits im Jahr 1999 den weltweit ersten Molekülmotor gebaut. Dieser wurde mit Sonnenlicht angetrieben, das er als eine Art Propeller in Rotationsenergie verwandelte. Dabei nutzten die Forscher in geeigneten organischen Molekülen die freie Drehbarkeit um die Einfachachse einer kovalenten Bindung zwischen zwei Kohlenstoffatomen.

Wie das Magazin Science (Band 310, Seite 80, Oktober 2005) berichtet, gelang nun den Chemikern die Konstruktion eines Modells, das statt mit Licht per chemischer Energie betrieben wird. Prinzipiell rotiert auch hier in einem organischen Molekül die eine Hälfte um volle 360 Grad, während die andere stehen bleibt. Als Ausgangssubstanz verwendeten Feringa und sein Team die komplexe Verbindung mit dem wissenschaftlich korrekten Namen 1-(4-methoxybenzyloxy)-6H-naphth[2,1-c]chromen-6-on. Dahinter verbirgt sich ein Molekül, das aus zwei Einheiten besteht: ein Zweiringsystem ähnlich dem Naphthalin und einem Phenolderivat mit einer weiteren funktionellen Gruppe. Beide Teile sind über eine Brücke aus zwei Kohlenstoffatomen miteinander verknüpft. Diese Bindung erweist sich als die Drehachse innerhalb des Moleküls.

Die Arbeitsgruppe von Prof. Feringa (Pollard, Fletcher, Dumur) (Bild: Universität Groningen)

Ähnlich seinem großem Vorbild, dem Ottomotor, arbeitet dieser Kleinstapparat im Vier-Takt-Modus: Die niederländischen Forscher haben seine Arbeitsweise als Kreislauf konzipiert, der durch vier charakteristische Schritte gekennzeichnet ist. Im ersten und im dritten spaltet ein passendes, reduktives Agens im Startmolekül den Lactonring auf – darunter versteht der Chemiker einen zyklischen Ester. Die Folge: Aus dem Racemat (hier ein Stoffgemisch zweier Stereoisomere, die sich aufgrund gehinderter Rotation um Einfachbindungen unterscheiden) entsteht die entsprechende Spezies, die bewirkt, dass sich der bewegliche Teil des Moleküls um 90 Grad weiterdreht, im Uhrzeigersinn. Wie beim Adenosintriphosphat (ATP) liefert die aufgebrochene chemische Bindung viel Energie.

Ein genauerer Blick auf den ersten Schritt zeigt, auf welche Weise der Prozess durch Chemikalien gesteuert wird: Das oben genannte Startmolekül liegt als Racemat vor, wobei sich beide einzelne Formen im Gleichgewicht befinden. Zwar hindert die Lactonbrücke, dass der betreffende Molekülteil um die Drehachse rotiert. Aber der Angriff von borhaltigen Reduktionsmitteln öffnet den Lactonring, favorisiert nur eines der beiden Stereoisomere, die für den weiteren Drehprozess gewünschte Spezies. An der geöffneten Stelle entstehen zunächst eine Alkohol- und eine Phenolgruppe. Diese wird mit Allylbromid, einem Kohlenwasserstoff, maskiert. Während die Hydroxylgruppe des Alkohols zur Carbonsäure oxidiert wird.

Auch der zweite und vierte Schritt werden von Agenzien gesteuert: Gezielt gelingt es, die aus der aufgebrochenen Lactonbrücke entstandenen funktionellen Gruppen von ihren chemischen „Masken“ zu befreien, damit wieder ein zyklischer Ester entstehen kann. Dabei dreht sich der bewegliche Teil des Moleküls um weitere 90 Grad in die jeweils nächste Position. Zurück kann er nicht, da er dabei räumlich von der gegenüberliegenden Säuregruppe am Naphthalinsystem gehindert wird. Nachdem sich nach dem vierten Schritt der Lactonring wieder ausbildet, ist der Kreis einmal durchlaufen, ein Arbeitsvorgang aus den vier Takten komplett.

Feringa als geschickter Stereochemiker

In der wissenschaftlichen Welt gilt Feringa als geschickter Stereochemiker, dem es immer wieder gelingt, räumliche Effekte für Synthesen gewitzt zu nutzen. Allerdings räumt er ein, seine neue molekulare Minimaschine genüge den Anforderungen des chemischen Alltags noch nicht so wie ihr mit Sonnenlicht betriebener Vorgänger. „Jedoch hat dieser rotierende Motor gezeigt, dass eine um 360 Grad in eine Richtung rotierende, mit chemischer Energie betriebene Maschine machbar ist “, freut sich der Wissenschaftler.

Der Stereochemiker Ben L. Feringa (Bild: Universität Groningen)

Etwas kritischer sieht es der amerikanische Forscher Jay Siegel, zur Zeit an der Universität von Zürich. Er glaubt, es sei schwierig, mikroskopisch kleine Geräte und Apparaturen noch kleiner zu machen, bei gleicher Wirkungsweise auf Nanogröße zu reduzieren. Siegel befürchtet, die Brownsche Molekularbewegung mache in solchen Bereichen alle Vorhersagen, ein Molekül bewege sich in eine konkrete Richtung, zunichte. Trotzdem hat die Gruppe um Ben Feringa eindrucksvoll bewiesen, dass es gelingen kann, mit stereochemischen Kunstgriffen im Ansatz gewünschte Ergebnisse zu erzielen.

Der holländische Naturwissenschaftler sieht mannigfaltige Anwendungen dieser neuen Art der Technik: Er möchte eines Tages vieler seiner Kleinstmaschinen zu einer Art „Windmühlenpark im Nanoformat“ kombinieren. In dieser Formation könnten sie beispielsweise als eine Pumpe agieren und Flüssigkeiten transportieren. Außerdem erhofft sich Feringa, seine Propeller-Motörchen seien eines Tages in der Lage, gezielt in den menschlichen Körper einzugreifen, um schwere Krankheiten einzudämmen und gar zu heilen.