Nuklearstreit um Venezuela

Iran in Südamerika? Nun will auch Caracas in die Atomwirtschaft einsteigen

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Seit mit Hugo Chávez in Venezuela Anfang 1999 eine linke Regierung angetreten ist, hat sich in dem Konflikt zwischen Washington und Caracas beinahe eine Routine eingestellt. Jeder Attacke einer Seite folgt automatisch die Replik der anderen. Als in Argentinien Anfang vergangener Woche bekannt wurde, dass Caracas den Kauf eines Atomkraftwerkes in dem südamerikanischen Land erwägt, konnte der venezolanische Vizepräsident José Vicente Rangel daher ohne große Probleme den weiteren Verlauf der Debatte vorhersagen: “Diese Meldung wird nun sicher in einen militärischen Kontext gestellt werden”, sagte der Politiker im Hinblick auf die Gegner seiner Regierung. Und ebenso kam es.

Anfang dieser Woche zitierte die konservative US-Tageszeitung Washington Times einen Regierungsbeamten, “der die Entwicklung in Lateinamerika verfolgt”. Nach Angaben dieses Informanten macht sich in der Bush-Regierung die Angst breit, “dass Venezuela nun den ersten Schritt auf einem langen Weg hin zur nuklearen Bewaffnung macht”. Wenige Tage zuvor hatte der radikal-evangelistische TV-Prediger und Freund der Präsidentenfamilie, Pat Robertson, in einem CNN-Interview gar vor einem nuklearen Erstschlag Venezuelas gegen die USA gewarnt. Zudem wusste Robertson zu berichten, dass der venezolanische Staatschef umgerechnet 1,2 Millionen US-Dollar an den Al-Qaida-Anführer Osama Bin Laden gesandt habe. Vizepräsident Rangel erklärte Robertson, der die venezolanische Regierung schon im August massiv angegriffen und zur Tötung von Chavez aufgerufen hatte, daraufhin kurzerhand zu einem „Fall für die Psychiatrie“.

Glaubt man der Darstellung der Washington Times, verfolgt die US-Regierung im Konflikt mit dem südamerikanischen Land offenbar eine Strategie, die dem Vorgehen im Konflikt mit Iran ähnelt. Auch bei Venezuela wird der beabsichtigte Aufbau einer nuklearen Energieversorgung mit militärischen Plänen gleichgesetzt. Diese Argumentation versucht die Bush-Regierung dadurch zu untermauern, dass Hugo Chávez, als er die Pläne zum Aufbau eines Atomkraftwerkes im Mai dieses Jahres erstmals öffentlich machte (Venezuela will auch Atomenergie), Teheran als möglichen Partner nannte. “Chávez will alles haben”, ließ die Washington-Post-Redaktion den anonymen Regierungsbeamten nun erklären: “Und er hat das Geld dazu. Er will Kampfjets. Er will einen eigenen Satelliten im Weltall.” Der Sinn eines solchen Diskurses ist leicht zu durchschauen: Bei Chávez handele es sich um einen größenwahnsinnigen Autokraten, der auf schätzungsweise 77,7 Milliarden Barrel Öl sitzt. Drängt es sich da nicht auf, das die venezolanische Atombombe als nächstes folgt?

Venezuelas Nachbarn scheinen diese Frage zumindest abschlägig zu beantworten. In Südamerika wurde die Ankündigung Venezuelas zum Bau eines Atomreaktors nüchtern aufgenommen. Sowohl Argentinien als auch Brasilien haben bestätigt, dass Caracas bei ihnen Interesse für den Kauf der entsprechenden Technik angemeldet hat. Wie ein Berater des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio “Lula” da Silva erklärte, prüfe sein Land bereits die Möglichkeit einer Kooperation mit Venezuela auf diesem Gebiet. Ein eventuelles Abkommen würde als natürliche Fortführung der bisherigen bilateralen Kontakte im Erdölgeschäft betrachten. Auch für Argentinien wäre der Verkauf von Reaktortechnik an Venezuela nichts Neues. Buenos Aires hat entsprechende Geschäfte bereits mit Algerien, Australien, Ägypten und Kuba abgeschlossen. Dass Havanna seit über vier Jahrzehnten zu den Intimfeinden Washingtons zählt, störte die Argentinier nicht weiter.

Dieser südamerikanische Pragmatismus ist nachvollziehbar. Venezuela wird aller Voraussicht nach in wenigen Wochen dem Freihandelsabkommen MERCOSUR als Vollmitglied neben Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay beitreten. Das belegt, dass die Regierung Chávez alles andere als isoliert ist. Washington aber bleibt den Beleg für offensive militärische Programme des südamerikanischen Landes schuldig. Mehr noch: Anfang des Jahres hat Venezuela seine verteidigungspolitischen Richtlinien novelliert (Kriegsvorbereitungen in Venezuela). Im Kern der Neuorientierung stand dabei keineswegs eine aggressive Strategie, wie der Informant der Washington Post mit der Prognose eines möglichen venezolanischen Atomwaffenprogramms glauben machen wollte. Ganz im Gegenteil richten sich die venezolanischen Streitkräfte mit der neuen Verteidigungspolitik auf einen “Krieg gegen einen numerisch und technologisch überlegenen Gegner” im eigenen Land ein; auf eine Intervention also.

Vizepräsident Rangel bezeichnete die Kritik an den Atomenergieplänen seines Landes daher als “heuchlerisch”. Staaten, die über Atomenergie verfügten, wollten diese Technik Entwicklungsstaaten mit dem Argument vorenthalten, dass sie unter Umständen auch für militärische Programme genutzt werden könnte. Auch in Venezuela reichten die Erdölvorräte nicht ewig. “Zudem muss verhindert werden, dass die Welt von nur einer Energiequelle abhängt”, so Rangel. Mögliche Alternativen zu Erdöl seien Wind- und Sonnenenergie „und natürlich auch Atomkraft”. Im Interview mit der brasilianischen Tageszeitung O Estado do São Paulo antwortete Hugo Chávez derweil auf die politischen Vorwürfe aus Washington: “Die Atomenergie wird von uns auf jeden Fall zu friedlichen Zwecken genutzt.“ Chávez weiter: “Wir waren es nicht, die Atombomben gebaut haben, und wir waren es nicht, die Atombomben eingesetzt haben. Denken Sie nur an Hiroschima und Nagasaki.”