Die Befreiung von der Erbsünde

Ein Gespräch mit Gerburg Treusch-Dieter über die Neurowissenschaften im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Religion

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In der aktuellen Debatte um die Hirnforschung werden nur selten kulturgeschichtliche Hintergründe beleuchtet. Die Kulturwissenschaftlerin Gerburg Treusch-Dieter erläutert im Gespräch mit Telepolis die religiösen und historischen Wurzeln der Frage nach dem "freien Willen" (Nicht der Mensch mordet, sondern sein Gehirn). Ausgehend von der Konstruktion der christlichen Erbsünde beschreibt sie den Anschluss der Neurowissenschaften an die aufklärerische Religionskritik und wirft die Frage auf, ob priesterliche Positionen heute mit den Mitteln der modernen Wissenschaft fortgeführt werden.

In welcher kulturhistorischen Tradition steht die Behauptung verschiedener Hirnforscher, der freie Wille sei eine Illusion, die Natur des Gehirns determiniere unser Verhalten?

Gerburg Treusch-Dieter: Die Diskussion um den "freien Willen" steht im Abendland in der Tradition der christlichen Religion, die von ihrer alttestamentlichen Wurzel her die Frage des freien Willens so formuliert, dass sie einen grundlegenden Widerspruch etabliert: Wie kann ein Wesen, das sich offensichtlich selber zeugt, dem unterworfen werden, dass es von einem Gott geschaffen ist, dessen Willen es gehorchen soll?

Diese Widersprüchlichkeit wurde in der Erbsünde folgendermaßen konstruiert: Der Mensch, der sich selbst zeugt, geschlechtlich zeugt, gilt als sündig und unfrei; aber da er gleichzeitig auch von Gott geschaffen wird, ist er frei, diesen Naturzustand zu verändern und zwar mittels der Religion und indem er sich selbst auf die entscheidende Instanz Gott ausrichtet. Ich finde, das ist eine interessante Konstruktion, denn da ist eine Selbsttranszendierung drin: Ich kann mich mit Hilfe der Religion aus Determinierungen lösen. In der Konstruktion der Erbsünde ist also der Versuch gemacht, Abhängigkeiten, die uns sozusagen "von Natur aus" gegeben sind, zu transzendieren, indem ein Bezug zum Gegenpunkt der Religion vorliegt, die mir eine Freiheit im Umgang mit mir selbst erlaubt.

Diese Freiheit ist allerdings gleichzeitig wiederum ein Unterworfensein. Denn der Mensch soll sich ja an demjenigen orientieren, der ihm diese Freiheit gegeben hat - also an Gott, sprich dem Schöpfer, der ihn erschaffen hat. Und dieses Paradox ist nicht aufzulösen. Diese komplizierte Dialektik, die sehr vielgesichtig ist und von Augustinus als dem ersten, der eine konsequente Interpretation der christlichen Morallehre vornimmt, ausformuliert wird, diese komplizierte Dialektik wird in der Hirnforschung mit einem Handstreich aufgelöst. Wenn uns das Gehirn eine Ich-Instanz nur vorgaukelt, dann wird damit die Konstruktion des freien Willens, wie sie in der Erbsünde vorliegt, abgeschafft. Denn die basiert ja auf der Möglichkeit des "Ich weiß, was gut und böse ist". Das ist der grundlegende Witz an der Sache.

Wenn die Hirnforschung behauptet, menschliches Verhalten sei durch Hirnprozesse vorherbestimmt, will sie uns also eigentlich von dem Freiheitsversprechen befreien, das in der Erbsünde angelegt ist?

Gerburg Treusch-Dieter: Ja, in diesem Punkt steht die Hirnforschung in einer aufklärerischen Tradition. Die Aufklärung hat sich als Religionskritik grundlegend gewehrt gegen diese Dialektik der Erbsünde. Ein halb freier, halb unfreier Wille, was soll das? Entweder er vermag alles. Das wäre die idealistische Position. Oder es wird umgekehrt durch die materialistische Aufklärung der Determinismus der Natur eingeführt. Die Natur wird also gegen den Schöpfer gesetzt. Wir berufen uns einfach auf das, was in der Schöpfung immer schon geleugnet wurde, die Natur.

Und diese Determinierung durch die Natur, die der Mensch aber in den Griff bekommen kann, wird dann als neues Freiheitsversprechen aufgebaut?

Gerburg Treusch-Dieter: Es scheint eine Befreiung aus der dialektischen Verstrickung der Erbsünde zu sein, die Determinierung der Natur dagegen ins Feld zu führen. Die Bestrebungen der Neurowissenschaften stehen also in einer größeren Tradition der modernen Naturwissenschaft, die in gewisser Weise die Gegenschöpferin einführt, was der Tendenz nach auch zu Darwins Untersuchungen führt.

Darwin ist ein materialistischer Aufklärer und es hat keinerlei Sinn, ihn in der Weise zu verketzern, als ob er aufs Neue durch einen Determinismus der Evolution das Böse gebracht habe. Die Natur ist bei ihm nicht determiniert, die Evolution ist unabgeschlossen. Indem die Natur von ihm und anderen Vertretern der Aufklärung als Gegenschöpferin aufgerufen wird, erscheint es als Freiheit, dass man durch sie sowohl determiniert als auch nicht determiniert ist: Unendlich in der eigenen Endlichkeit. Man beruft sich auf die Natur und fängt an, sie zu untersuchen, den Menschen dadurch zu begründen, ihm eine eigene Herkunft zu geben. Das Ganze hat sich dann aber umgedreht: Darwin, der Kämpfer gegen Thron und Altar, erscheint als derjenige, der den Menschen aufs Neue in den Abgrund seiner eigenen Hölle gestoßen habe. Eine Verkehrung, die man im Blick behalten muss.

Der blinde Fleck der Hirnforschung

Wie verändert sich die Rolle des Geschlechts im Zuge dieser aufklärerischen Selbstvergöttlichung des Menschen?

Gerburg Treusch-Dieter: Das Geschlecht war der Bezugspunkt für den Menschen der Erbsünde in seiner Naturabhängigkeit. Indem er sich Gott als dem Gegenpol zuwandte, der ihm die Freiheit gibt, musste er sich auch von seinem Geschlecht lösen. Im Zuge der Aufklärung gibt es dann einen Paradigmenwechsel vom Geschlecht zum Gehirn. Da der Mensch nun sein eigener Schöpfer ist, beansprucht er das göttliche Gehirn, das ihn innerhalb der Dialektik der Erbsünde geschaffen hat, für sich selbst. Das moderne Subjekt beansprucht die objektive Vernunft Gottes nun als subjektive Vernunft. Damit verbindet sich die Ablösung von dieser ganzen geschlechtsgebundenen Erbsündekonstruktion. Dass die subjektive Vernunft aber wieder eine objektive Qualität bekommen soll, ist ja klar, sie könnte sonst nicht gesetzgebend sein. Dieses Problem versuchen Hirnforscher wie Franz Joseph Gall bereits schon Anfang des 19. Jahrhunderts zu lösen, indem sie das Gehirn vermessen. Der Mensch beansprucht nun für sich selbst, das Gehirn seiner Welt zu sein, das heißt, das göttliche Gehirn zu übernehmen. Das ist das Entscheidende.

In der aktuellen Debatte um die Hirnforschung wird selten über die Methoden diskutiert, mit denen die Forscher arbeiten. Gibt es einen "blinden Fleck" der Hirnforschung?

Gerburg Treusch-Dieter: Das Gehirn, so wird ja im Endeffekt gesagt, ist eine physiologische Funktion, die sich nicht selbst erklären kann, deshalb muss sie erklärt werden. Die Hirnforschung kann das Gehirn aber nur mit dem Gehirn untersuchen. Doch wie soll dieses "Ich denke" untersucht werden, ohne dass das vorausgesetzt wird, was überhaupt erst erkundet werden soll? Und damit sind wir beim Kantschen Paradox, dass der Verstand nur das erkennt, was er von vorneherein schon in die Erkenntnis hineinlegt. Also ich finde, gerade bei der Hirnforschung ist das eklatant, sie setzt das "Ich denke" voraus, was sie erst untersuchen will. Dabei bleibt das Erforschte ein Ding an sich. Es muss dieser Forschung fremd bleiben, der es gar nicht zugänglich ist. Und da ist von vornherein die Grenze gegeben, die aber verleugnet wird. Die Hirnforschung wagt sich in einen Bereich hinein, den Bereich des Gehirns, dem die Genese der Erkenntnis zugesprochen wird, verzichtet dabei aber grundlegend auf Erkenntnistheorie. Das ist die Dummheit dieser Forschung.

Ein weiteres Paradox besteht darin, dass sie von ihrer Tradition her am Nicht-Funktionierenden untersucht, wie das Gehirn arbeitet. Franz Joseph Gall geht zwar noch davon aus, dass die "Ich-Instanz" für das Gehirn zwingend ist. Gleichzeitig löst er sie aber in Funktionen auf, die alle letztendlich ein "Nicht-Ich" zum Vorschein bringen. Er schließt vom Nicht-Vorhandensein auf das Vorhandensein. Die Lähmung weist darauf hin, dass sich an dieser oder jener Stelle etwas bewegt hat, wo jetzt etwas gelähmt ist. Die Funktionsweise des Hirns wird also an dem abgelesen, was nicht mehr funktioniert.

Höchst umstritten ist auch die Rolle der bildgebenden Verfahren, die suggerieren, dem Hirn beim Denken zusehen zu können. Macht die Forschung damit einen qualitativen Sprung im Gegensatz zu früheren Methoden?

Gerburg Treusch-Dieter: Die Hirnforschung versucht sich im Augenblick mit allen Mitteln der naturwissenschaftlichen Untersuchung einen Glamour zu verleihen, das sind aber nur die Mittel. Mit Kontrastflüssigkeit, die bei fotografischen oder filmischen Verfahren Einfärbungen zeigt, wird doch in der Medizin grundlegend gearbeitet, was ist denn daran neu? Das heißt, dieses ganze imaging kann natürlich verfeinert werden, aber es führt eigentlich nur medizinisch-diagnostische Verfahren fort, die schon da waren.

Einerseits stellt die Hirnforschung mit Hilfe dieser Methoden das religiöse Versprechen der Erbsünde in Frage. Kehrt die Religion nun andererseits im Glauben an die modernen Biowissenschaften wieder?

Gerburg Treusch-Dieter: Die Simplifizierung, die jetzt vorliegt, gipfelt bei Wolf Singer in dem Satz: "Mit der Arroganz des freien Willens ist nun Schluss." Das ist groteskerweise die Wiederkehr einer priesterlichen Position. Es wird implizit die Zuchtrute geschwungen, nach dem Motto: Na ihr Schweine, ihr meint wohl, ihr könnt euch promiskuitäres Ficken ebenso leisten wie freies Denken, da habt ihr euch aber in den Finger geschnitten. Wir wissen jetzt, wie das Gehirn funktioniert, von dem ihr meint, ihr könntet euch darauf berufen, und von da aus sagen wir euch, was los ist. Und das sagen wir euch so, als ob wir nicht die Sprache der Priester sprechen, also nicht eine Wiederauflage der Religion machen.

Das ist das Entscheidende. Sie berufen sich explizit auf die Aufklärung, behaupten, die Aufklärung fortzuführen, und bezichtigen eigentlich alle, die an dieser Forschung Zweifel anmelden, der Gegen-Aufklärung und des Rückfalls in dumpfe, sture Religion. Diese Vorgabe ist in sich doppelt verdreht, denn sie verraten ja beides: Die hochinteressante Dialektik der Erbsünde und die Aufklärung, die ihre Kritik an dieser religiösen Konstruktion hatte. Und nach diesem doppelten Verrat nehmen sie auf die primitivste und simplifizierteste Weise eine Priester-Forscher-Arzt-Position ein, die nun meint, mit einem Satz das sagen zu können, was Jahrtausende der Auseinandersetzung auf dem Buckel hat. Sie behaupten, alle Fragen, die der Mensch an sich selbst hat, die er als Tragödie oder Komödie abwickelt, im Rahmen von Philosophien entwickelt oder im Rahmen von Literatur, Bildern, Kunst, insbesondere aber in Fragen der Erziehung bearbeitet, all das sei nun mit einem Schlag radikal vom Tisch zu ziehen. Das ist doch unglaublich.