Voice over troubled IPs

Von der Unmöglichkeit, im Internet über einen Standard zu telefonieren – Ein Selbsttest

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Das gehört zu einem sicheren Kneipenlacher. Zu behaupten, dass ein Handyhersteller jetzt ein tolles Gerät auf den Markt bringt, mit dem man allerdings nicht die Fabrikate A-M und T-Z erreicht. Sobald man aber die gleichen Dinge über MSN Messenger, Yahoo Messenger, AIM, Skype und Konsorten erzählt, endet das Gespräch in einem „Da musst Du nur...“-Stakkato. Kurz: Es gibt hier keinen Standard, der das Leben einfach macht. Und kostenlos ist hier schon gar nix.

“Yahoo und Microsoft stehen offenbar kurz davor, ihre Instant-Messaging-Dienste interoperabel zu machen”, plaudern die entsprechend gut informierten Kreis am 12.10.2005. Gut ein Jahrzehnt nach den ersten Versuchen mit Voice over IP-Lösungen. Dabei sagt die Meldung nicht einmal das, was sie zu versprechen scheint. Gemeint ist der Update einer Absichtserklärung, die bereits ein Jahr alt ist. Und wir können als Kunden froh sein, wenn die Buddy-Liste der jeweils anderen Applikation kompatibel wird.

Von einer Voice-over-IP-Lösung ohne Nachdenken redet hier noch niemand. Das zeigt das tiefe Jammertal, in dem eine IT-Welt steckt, die einen Zukunftsmarkt noch nicht sauber in Standards abbilden kann: Instant-on-Telefonie via Internet.

Sicher, der Live Communications Server von Microsoft bietet integrierte Lösungen nun an. Und Skype hat sich teuer an eBay verkaufen lassen, weil eben nur ein Klick genügt, auch mit Menschen außerhalb der Applikation zu telefonieren. Angeblich tun das bereits 200 Millionen Menschen, und das in einer Welt, deren Bevölkerung zu etwa 50% noch nie mit einem analogen Telefon zu Gange war.

Am Anfang steht das OS

Aus welchen Gründen auch immer ein Nutzer sich zu mehr als nur Text-Mails entscheidet, er wird im festen Glauben mit einer der erwähnten Lösungen anfangen, eine neue Telefonwelt zu entdecken, die es schier unmöglich macht, sich anzurufen. Und er wird scheitern. Schon an der verschiedenen Featureliste je Programm und Betriebssystem. Will man mehr als “Mensch, es wäre toll jetzt zu sprechen” tippen und einen Videochat anbieten, dann sollte man tunlichst dem anderen die identische Plattform empfehlen.

Nur der Yahoo-Messenger bietet einen eingeschränkten Videokanal zwischen Windows- und Apple-Usern an. Microsoft lässt seinen Messenger außerhalb der eigenen Welt stumm, und ein Video-Plugin für Skype ist nur für Windows zu haben. In einer Welt, die sich heute keine Gedanken mehr zum Austausch von Texten zwischen den Betriebssystemen macht (wir erinnern uns vage an “Das kann mein MAC nicht lesen”-Zeiten), bleiben die Geräte stumm und blind, weil die großen Player sich nicht auf eine Schnittstelle einigen können. Das Nachsehen haben alle, die eigentlich nur ein wenig plaudern wollen. Und sie werden über Marketing zusätzlich in Welten gezwungen, die sie eigentlich nicht interessieren.

Die Leit-Applikation des aktuellen Apple Systems – iChat AV – benötigt einen AOL- oder einen .MAC Account, sonst bleibt auch die teuer gekaufte iSight-Kamera vor dem modischen Gerät dunkel. Das heißt aber nicht, dass dann andere Zeitgenossen in anderen Welten mit dem teuren Zusatz erreicht und angesprochen werden können. Selbst erste Ansätze bleiben auf halbem Wege stehen. Jabber und Adium bieten zwar zumindest auf einigen Plattformen an, auch andere Protokolle zu verstehen und damit die vollmundigen Versprechungen des 12. Oktobers schon zu erfüllen. Aber auch hier bleibt es bei Text.

Man fühlt sich ein wenig an die lustigen 90er erinnert, bei denen jeder Mangel mit Hinweis auf die nächste Version mühevoll mental kompensiert wurde. Merkwürdigerweise hat das auch nur in der IT-Welt funktioniert. Wer würde schon einen Wagen kaufen, das bisher nur auf Autobahnen fährt und leider keine Linkskurven beherrscht… aber in der nächsten Version wird Auto 2.0 vielleicht…

Positiv denken

Aber gut. Was wie Science Fiction klingt und immerhin innerhalb der einzelnen Systeme und Applikationen schon klappen kann, soll man dankbar annehmen. Wer statt eines Telefons unbedingt auf seinen Computer ausweichen will, der kann ja, vorausgesetzt sein Gegenüber besitzt die gleiche Ausstattung und nutzt sie auch, durchaus schon mit einem einzigen Mausklick ein Gespräch beginnen. Schließlich war das ICQ-Protokoll nicht für Telefonie gedacht. Eine klassische Dynamik im Internet-Markt, deshalb das Chaos.

Gehen wir also davon aus, dass der andere nicht hinter einer extrem gut gesicherten Firewall sitzt, die nicht einen Wortfetzen durchlässt. Und gehen wir weiterhin davon aus, dass der andere nicht schon längst aufgegeben hat und auch noch ein Mikrophon oder gar eine Webkamera angeschlossen hat. Und dann sollte man auch von Morgens bis Abends an diesen Applikationen angemeldet sein, sonst wäre ein Anruf per Telefon nötig, um auch auszuhandeln, wann man sich denn zu einem Voice- oder gar Videochat treffen könnte.

Lassen wir also alle diese Störfaktoren beiseite, dann könnte man schon fast Glück haben und eine längst überfällige Welle der Innovation auf dem Consumermarkt auf sich zukommen lassen… gäbe es zudem nicht z.B. Probleme, die Tontechniker in den Wahnsinn treiben können. Zu laut eingestellte Boxen am Computer erzeugen Feedback-Pfeifen bei einer solchen Unterhaltung, für die sich Krach-Gitarristen aus Verzückung einen goldenen Schuss gönnen würden.

Aufrüsten für den Fall X

Aber gehen wir auch davon aus, dass beide sich nicht die Ohren ruinieren, sondern mit einem Bluetooth-Clip am Ohr vor dem Computer sitzen. Dann lässt sich da schon was machen. Mit der weiteren Ausstattung mit einer Webcam und einem solchen Hörer und Mikrophon in einem, die etwa mit 50–100 EUR zu Buche schlagen (wir setzen Bluetooth-Sender im Laptop oder PC voraus), ist ein williger Nutzer schon einmal in die Vorleistung gegangen und hofft nun, dass auch andere eine solche Ausrüstung wie selbstverständlich bereithalten, sobald gechattet werden soll.

Die weiteren DSL-Flatrates von 30–50 EUR im Monat, um auch wirklich digital telefonieren zu können, verbuchen wir unter allgemeine Logistik. Die wären auch fällig, wenn man nichts am Computer täte. Also eine Grundgebühr wie bei einem Telefon, die mich ja auch nicht zwingt zu telefonieren.

Geben wir nachsichtig Video für eine Weile auf, denn die Stimme wäre ja schon ein Gewinn. Dann allerdings, wenn nun auch zum Beispiel per Skype ein Anschluss außerhalb des Netzes erreicht werden soll (“Skype Out”), braucht es nur noch 1,7 EuroCent pro Minute, weltweit. Und – ach ja - eine Kreditkarte mit dementsprechenden Kosten pro Monat, denn über die wird ja ein Pre-Paid-Angebot abgebucht. Sogar eine eigene Nummer ist möglich, um von außen erreicht zu werden (“Skype-In”), die dann noch einmal mit 30 EUR im Jahr zu Buche schlägt. Allerdings sind dann auch bis zu 10 Nummern zu haben. Und weil man ja nicht immer am Gerät sitzt, wäre ein Anrufbeantworter auch nett, der noch einmal zirka 1 EUR im Monat kostet, sollte man kein Skype-In besitzen, sondern nur einen normalen Skype Account.

Ein schneller Überschlag für das erste Jahr Telefonieren ergibt also 650 EUR (wohlgemerkt ohne eine einzige Einheit für externe Gespräche ausgegeben zu haben), rechnet man die Sonderausstattung mit dazu. Untereinander wäre dann ein kostenloser Schwatz möglich – hat man diese Kosten erst einmal hinter sich gebracht. Unter uns: Dafür kann man auch beim alten Scheibentelefon plus diversen Telekom-Tarifen bleiben.

Mobil wäre nett

Und diese Welt endet im Gegensatz zu einer mit Handy-Vertrag schnell, wenn man die eigenen vier Wände verlässt. Es sei denn, man findet in einer beliebigen Stadt immer dann nette Menschen, die einen mit dem eigenen Equipment an den Computer lassen, um dort mit dem eigenen Account fremde Menschen anzurufen.

Das erinnert ein wenig an John Cleese, der in “Clockwise” an der Pforte eines Trappistenklosters mit der Frage “Haben Sie Telefon?” brilliert. Immerhin, das sei hier dazugesagt, bietet “Skype Zones” den Zugriff auf 18.000 Wireless LAN Connects weltweit für 2.50 EUR im Monat an. Das ist schon einmal was, und wir wollen hoffen, dass man deshalb immer einen Laptop oder einen PocketPC mit Wireless Karte dabei hat… und nicht 17.855 dieser Netze rund um San Francisco liegen, das von Google derzeit eh kostenlos per Funk versorgt werden soll.

Immer dann, wenn einem nach einem Gespräch sein sollte, gilt es dann den Laptop hochzufahren, eines der notierten Netze aufzusuchen (es gibt eine Online-Liste der verfügbaren LANs pro Stadt, die einem natürlich ohne Online-Zugang so viel hilft wie ein Korkenzieher in der Wüste) und dann endlich “Mama, ich komme heute später nach Hause, weil ich einen digital provozierten Nervenzusammenbruch hatte” zu brüllen. Vorausgesetzt, am anderen Ende der Leitung ist nicht gerade besetzt.

Harald Taglinger ist via taglinger@hotmail.com via Messenger und haraldtaglinger via Skype erreichbar. Meistens. Irgendwie.