Der politische Selbstmord der SPD

Für die Zukunft der größten Volkspartei der Bundesrepublik steht das Schlimmste zu befürchten

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Die spinnen die Sozis - vielleicht trifft diese Aussage das Verhalten der SPD seit der Wahl vom 18. September am präzisesten. Der gestrige Rücktritt Franz Münteferings vom SPD-Parteivorsitz ist nämlich nur der Gipfelpunkt einer Serie falscher oder jedenfalls unverständlicher Entscheidungen, die die SPD-Politik während der letzten Wochen seit dem überraschend guten Abschneiden bei der letzten Bundestagswahl, die angesichts der Vorgeschichte ein hervorragendes Ergebnis brachte, geprägt haben. Das Gesamtergebnis könnte schlimmer nicht sein: In wenigen Wochen hat die SPD den relativen Sieg nicht genutzt, ihr gerade erst wieder errungenes politisches Kapital verspielt, ihre Spitzenfiguren verloren oder beschädigt, zentrale politische Positionen ohne Not aufgegeben - mit anderen Worten: Die SPD begeht politische Harakiri.

Es wäre immer falsch gewesen, Franz Müntefering zu überschätzen. Seinen Rücktritt als Antwort auf die Wahl von Andrea Nahles zur neuen SPD-Bundesgeschäftsführerin anstelle des von ihm favorisierten Kandidaten Kajo Wasserhölvel mag man als konsequent feiern oder gar als Zeichen bewundern, dass hier einer nicht an Ämtern klebt. Man kann es auch mit guten Gründen für unangemessen und sachlich falsch halten.

So spontan und unangekündigt, wie es auch in den internen Gremien verkündet wurde, handelt es sich so oder so allemal um eine Überreaktion aus narzisstischer Kränkung, im derzeitigen Stadium der unabgeschlossenen Koalitionsverhandlungen gar um Partei schädigendes Verhalten. Einmal mehr erweist sich die deutsche Linke als die dümmste Linke der Welt, die SPD als machtvergessen und im schlimmsten Sinne gesinnungsethisch: Inhalte werden zwar zur Disposition gestellt, aber ohne sich dafür etwas einzuhandeln, starke Personen opfern sich selbst auf dem Altar fragwürdiger vormoderner Werte wie "Ehre" und "Konsequenz", eine Strategie ist nicht erkennbar und taktische Positionen werden ohne äußeren Zwang preisgegeben. Vergleichen wir einmal das Verhalten der rotgrünen Parteien nach der - ja besser als erwartet ausgegangenen - Wahl: Mit Schröder und Fischer treten die mit Abstand beliebtesten und prägendsten Politiker der Koalition zurück, mit Müntefering der Parteivorsitzende und designierte Vizekanzler, während die Union an einer schon geschlagenen Kandidatin festhält und sich dadurch taktische Feldvorteile sichert.

Was, darf man mit gutem Grund fragen, passiert eigentlich - wenn man nicht eine rot-grün-rote Option für realistisch hält -, falls die Union nun die Koalitionsverhandlungen in der kommenden Woche platzen lassen und Neuwahlen erzwingen würde? Sie könnte dies - nun erst; vorher war es unmöglich - mit Verweis auf das SPD-interne Chaos tun, ohne als verantwortungslos und machtgeil dazustehen. Bei einer solchen Wahl drohte der SPD der Absturz und der Bundesrepublik doch noch die schon abgewählte schwarzgelbe Option. Das einzige, das die SPD vor dieser Drohung vermutlich rettet, ist die Schwäche Merkels.

Die SPD als Büttel für die Kanzlerwahl Merkels

Mit seinem Rücktritt zieht Müntefering zugleich die Konsequenz aus den persönlichen und politischen Fehlern der letzten Wochen, die für das gestrige klare Votum pro Nahles eine wichtige Rolle gespielt haben dürften. Gehen wir noch einmal ein par Schritte zurück: Je genauer man hinschaut, um so weniger kann man es fassen. Der oft erwähnte Auftritt Schröders bei der TV-Runde am Abend der Wahl war noch am ehesten verzeihlich. Nicht nur, dass der Überschwang des Kanzlers menschlich verständlich war, er war auch sachlich gerechtfertigt. Denn tatsächlich wollte und will die große Mehrheit der deutschen Wähler lieber einen Kanzler Schröder als eine Kanzlerin Merkel; letztere will bekanntlich noch nicht einmal die Mehrheit der Union. Nur: Völlig unverständlich ist, warum sich die SPD nun zum Büttel eben für die Kanzlerwahl Merkels machen lässt. Mit einem anderen TV-Auftritt und taktisch besserem Verhalten gegenüber der SPD hätte Schröder gute Chancen gehabt, Kanzler zu bleiben, womöglich gar in einer Großen Koalition. Doch zumindest hätte man sich für den Verzicht Schröders auf den Kanzlerschaftsanspruch den Verzicht auch Merkels aushandeln können.

Warum geschah das nicht? Da steht zunächst der zumindest ungeschickte Versuch Münteferings, die CDU/CSU-Fraktion zu spalten, verbunden mit der Erklärung die SPD, sie sei die stärkste Partei. Ungeschickt war dies in dreifacher Hinsicht: Ihm lag die Fehleinschätzung zugrunde, die GRÜNEN würden sich an der Spaltung der Union beteiligen. Direkt nach der Wahl war der Versuch aber auch deshalb ohne Aussicht auf Erfolg, weil er allzu offenkundig parteitaktisch motiviert war. Sachlich ist das Argument allerdings völlig zutreffend, dass der Anspruch der CDU/CSU als Einheit betrachtet zu werden fragwürdig ist. Denn die beiden Unionsparteien sind rechtlich getrennte Organisationen mit eigener Struktur, eigenem Haushalt, eigenem Programm, eigenen Mitgliedern. Sie verzichten nur darauf, in Bayern bzw. im nichtbayerischen Bundesgebiet anzutreten. In TV-Runden, etwa der Debattenrunde am Abend der Wahl, waren sie mit beiden Vorsitzenden vertreten - warum, wenn es sich um eine geschlossene Gruppierung handelt? Und was würde die Union erwidern, wenn SPD und GRÜNE morgen beschlössen, eine Fraktionsgemeinschaft zu bilden und dadurch zur stärksten Partei würden? Insofern war Münteferings Schritt im Prinzip richtig und hätte nur zu anderer Zeit - besser begründet - erfolgen müssen. Falsch war er direkt nach der Wahl aber auch drittens, weil Müntefering damit de facto die Unionsposition ohne Grund anerkannte, nach welcher der stärksten Fraktion einer Koalition prinzipiell das Recht auf die Kanzlerschaft zusteht. Man muss gar nicht nach Israel blicken, um diesen Anspruch in seiner Absolutheit zu bestreiten und undemokratisch zu finden.

Die Ministerien für schlechte Nachrichten

Grosse taktische Fehler beging die SPD auch im Umgang mit der in Dresden nötigen Nachwahl. Von vornherein war klar, dass sie keine echte Machtverschiebung bewirken könnte, ihr sehr wohl aber immense symbolische Bedeutung zukommen würde. Während die Union am Abend der Wahl ohne auf die Hochrechnungen zu warten, sofort den eigenen Sieg ins Land posaunte und den Wiedergewinn eines sicheren und bislang immer errungenen Direktmandats als ein "Votum für Merkel" darstellte, ließ sich die SPD-Zentrale auf die Position ein. Nie hörte man von der Parteispitze, dass ja die SPD in Dresden die mit Abstand meisten Stimmen bekommen hatte - dabei war das doch ein klares Votum für Schröder, oder?

Am schwersten wiegt das Vor-Abkommen zur Bildung der Großen Koalition, für das Müntefering maßgeblich verantwortlich zeichnet: Von Merkels Kanzlerschaft abgesehen sicherte sich die Union darin alle Zukunftsbereiche, darunter für die SPD zentrale Felder wie Familie und Bildung, sowie das Ministerium für wohlklingende Dampfplauderei - Wirtschaft - und das für ressentimentgeladenen Populismus - Innenpolitik -, während der SPD die Ministerien für schlechte Nachrichten zufielen: Finanzen, Arbeit, Gesundheit, für nervtötende Pedanterie und dasjenige für bürgerärgende Spaßverderberei: Umwelt. Inhaltlich vertrat man plötzlich die Einführung der Merkelsteuer. Die von Clement bis Nahles kritische Reaktion in der SPD, die sich als nahezu gleichstarke Partei in der künftigen Regierung unter Wert vertreten fühlte, ist verständlich und angemessen.

Denn man konnte sich den Verlauf der nächsten Jahre gut ausmalen: Aufgerieben zwischen pragmatischen Kompromissen und Zugeständnissen an die Union und den rein gesinnungsethisch argumentierenden "Wächtern der Revolution", vulgo: Linkspartei, die sich in ihrer Mischung aus Populismus und Fundamentalismus - man könnte auch sagen: aus Zynismus und Verantwortungslosigkeit - als bessere SPD darzustellen suchen, könnte die SPD ins Mark erschüttert und bei kommenden Wahlen unter 30 Prozent gedrückt werden. Ihre wirkliche Chance läge nur darin, dass die Union noch mehr Schwäche zeigen könnte. Aber wenn es darauf ankam, hat die Union zumindest machtpolitisch noch immer funktioniert.

Ökonomisierung statt Repolitisierung

Die gigantische Dummheit des Rücktritts des Parteivorsitzenden ist zugleich nur Indiz für eine tiefer liegende programmatische Schwäche der Sozialdemokratie: Seit einigen Jahren, genau genommen seit dem Beginn von Schröders verspäteter Kanzlerschaft im Zeichen des schon 1998 fragwürdig gewordenen "Dritten Weg" (Anthony Giddens) erhebt die SPD nicht mehr den Anspruch, die Spielregeln der Gesellschaft verändern zu wollen. Sie hat den ideologischen Kampf verloren gegeben; zwar nicht vor dem Neoliberalismus, aber vor dem konservativ abgedämpften Abbau des Sozialstaats, der Demontage der Politik überhaupt kapituliert. Wo ihre Repolitisierung gefordert wäre, betrieb die SPD im Wesentlichen Ökonomisierung der Verhältnisse und imitierte damit zwar nicht das Weltbild, aber das Modell der Rechten: den Gehorsam gegenüber wettbewerblichen Anpassungszwängen. Die Unternehmen wurden massiv entlastet, die Grundpfeiler des Sozialstaats zwar nicht theoretisch, aber praktisch infrage gestellt, der klassische Anspruch, den Armen und Unterprivilegierten zu helfen, aufgegeben.

Das zunehmend bittere Lob der Wirtschaft nützte Schröder und Müntefering so wenig, wie der Jubel des Westens Gorbatschow nach dem Fall der Mauer. Dabei konnte die Gefahr einer Fortsetzung dieser Politik erst eben in New Orleans besichtigt werden. Zudem hat es die SPD nicht vermocht, aus den vorbildlichen Errungenschaften der Rotgrünen Regierung ein Projekt, eine neue Identität zu formen: Die Fremden- und Erinnerungspolitik, eine zu großen Teilen vorbildliche Umweltpolitik, das außenpolitische Engagement in Europa, im Kosovo, im Nahen Osten, gegen den Irakkrieg.

Und nun? Rotkohl gegen Cunctator

Die bisherige Politik von Rotgrün war nicht in gleicher Weise fortzusetzen. Doch die SPD hat es nicht verstanden, ihre Programmatik fortzuschreiben, ihre Werte zeitgemäß zu definieren. Stattdessen flüchtet sie sich nun, auch auf der SPD-Rechten, ins Fegefeuer aus Pragmatik und Idealismus. Insgeheim sehnt sie sich, das wird jetzt deutlich, nach Opposition, nach wohlfeilem Abstand von der Macht. Doch während Oskar Lafontaine außerhalb und seine Ziehtöchter und Söhne innerhalb der SPD ihre Visionen pflegen und von radikalen Lösungen schwadronieren, werden viele Menschen leiden. Die jetzt aufscheinende Alternative zwischen dem so machtbewussten wie ideenarmen pfälzischen Rotkohl Kurt Beck und dem unverständlicherweise als Wunderkind gefeierten, ewigen Cunctator Mathias Platzek - zwischen dem Lothar Matthäus und dem Bernd Schuster der deutschen Politik - zeigt, wie gruselig es um die SPD und ihre Zukunft bestellt ist. Dass sie dies mit großen Teilen der europäischen Sozialdemokratie gemeinsam hat, macht ihre Lage keineswegs besser.