Unruhen in Pariser Trabantenstädten

Todesfälle, offene Widersprüche, Revolte und Fantasmen über "den Islam"

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Reißerisch sind einige Schlagzeilen, schreiend die Titel. Vor allem in der rechten Boulevardpresse - etwa bei der Boulevardzeitung France Soir, die an diesem 1. November mit der martialischen Schlagzeile Les émeutiers ne désarment pas (sinngemäß „Die Aufrührer lassen nicht nach“ oder auch „...legen die Waffen nicht nieder“) aufmacht und wörtlich von „Stadtguerilla“ spricht. Die seriösere konservative Tageszeitung Le Figaro ihrerseits verkündet: Clichy-sous-Bois bleibt ein Pulverfass.

Man glaubt sich durch diese Rhetorik in ein Kriegsgebiet versetzt. Dabei geht es in Wirklichkeit um eine bisher eher ruhige Trabantenstadt 10 Kilometer nordöstlich von Paris, die seit Donnerstagabend Schauplatz zeitweise heftiger Zusammenstöße zwischen Polizei- und Gendarmerieeinheiten einerseits und Jugendlichen aus der Stadt und einigen Nachbarquartieren andererseits ist. Kriegs- oder tödliche Waffen kommen dabei nicht zum Einsatz, wenn man davon absieht, dass am Freitagabend ein einzelner Schuss aus einer Luftpistole auf einen Bus der kasernierten Bereitschaftspolizei CRS (Compagnies républicaines de sécurité) abgegeben wurde, der jedoch in der Karosserie stecken blieb und niemanden verletzte. In der Regel werfen die Jugendlichen mit Pflastersteinen, Flaschen und teilweise Molotowcocktails – angeblich auch mit Pfefferspraydosen - auf die behelmten Polizeieinheiten, die ihrerseits mit Tränengasgranaten und flash-balls (Gummigeschosse, mit denen die Polizei seit 2002 ausgestattet wurde) vorgehen.

Wie etwa ein Bericht der regionalen Tageszeitung Le Parisien vom Montag bestätigt, werden die jungen „Aufrührer“ teilweise durch Zurufe von Familien aus den offenen Fenstern der umliegenden Hochhaus- und Plattenbauten gegen die Polizei unterstützt oder angefeuert. In der Regel haben die meisten Anwohnerfamilien jedoch von der Form, die die Unruhen angenommen haben – bei denen auch bisher insgesamt 71 Autos angezündet wurden – „die Nase voll“. Gleichzeitig bestätigen die allermeisten Einwohner, mit denen man ins Gespräch kommen kann, dass sie die Motive für den überbordenden Unmut verstehen und bestens nachvollziehen können. Dieselben Gründe werden oft genannt: das Gefühl gesellschaftlicher Ausgrenzung; Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt wegen der „falschen“ Adresse, wenn man etwa aus einer Hochhaussiedlung in Clichy-sous-Bois kommt, gepaart mit einem Familiennamen, der eine „falsche“ Herkunft verrät; die triste Atmosphäre der Trabantenstadt und ihre denkbar schlechte Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel; Arbeits- und Perspektivlosigkeit...

Im Parisien vom Dienstag kommen Angehörige der Elterngeneration zu Wort, wie etwa die junge Mutter Sadio:

Ich sage nein zu den Unruhen, die mit Angst machen, aber ich verstehe die Unzufriedenheit. Während es draußen abgeht, bleibe ich in meinen vier Wänden: Man weiß nicht, ob man nicht einen Stein an den Kopf bekommt. Aber gleichzeitig verstehe ich die Gründe für die Revolte.

Oder Nathalie, die bereits seit 30 Jahren in Clichy lebt:

Wir haben die Schnauze voll, wir haben Angst um unsere Kinder, um unser Auto. (...) Die Jugendlichen werden ständig (durch die Polizei) schikaniert, ich verstehe, dass ihr Geduldsfaden gerissen ist.

Auslöser der Unruhen: Zwei nicht genau geklärte Todesfälle und die Rolle der Polizei

Den Stein ins Rolle brachte ein tragisches Ereignis, bei dem am vorigen Donnerstag zwei Jugendliche getötet und ein junger Erwachsener schwer verletzt wurden und dessen genaue Ursachen bisher noch nicht geklärt sind. Bouna, 15 Jahre alt, Zyed (17) und der 21jährige Metin – drei junge Franzosen, deren Familien aus Mali, aus dem Maghreb und aus der Türkei kamen - hatten sich, allem Anschein nach im Zuge einer Flucht, in einem Umspannhäuschen des Stromversorgungsunternehmens EDF (Electricité de France) versteckt. Dafür mussten sie eine drei Meter hohe Mauer, über der vier Rollen Stacheldraht liegen, überwinden. Das war an jenem Tag gegen 17.30 Uhr. Um 18.12 Uhr wurde in Clichy-sous-Bois und den Nachbarquartieren der umliegenden Trabantenstädte ein Stromausfall verzeichnet. Zu diesem Zeitpunkt starben Bouna und Zyed. Der dritte Beteiligte – Metin - konnte sich nach Hause schleppen, wurde aber kurz darauf mit schweren Verbrennungen ins Krankenhaus eingeliefert.

Die entscheidende Frage lautet, wie es dazu kommen konnte, dass die drei jungen Leute sich in dem Trafohäuschen zu verstecken versuchten. Fest steht bisher nur, dass sie dabei waren, vor der Polizei zu fliehen. Ansonsten gibt es bisher drei unterschiedliche Visionen vom Hergang des Ereignisses, die in ihren Implikationen unterschiedlicher kaum sein könnten.

Die erste Version, die sich die Regierung zunächst zu eigen machte, die aber anscheinend inzwischen von niemandem mehr aufrecht erhalten wird, lautete:

Anlässlich eines Einbruchsversuchs ist, als die Polizei dazu kam, eine bestimmte Anzahl von Jugendlichen davon gelaufen. Drei unter ihnen, die nicht konkret durch die Polizei verfolgt wurden, versteckten sich, indem sie eine drei Meter hohe Mauer überkletterten, hinter der sich eine Umspannstation befindet.

Innenminister Nicolas Sarkozy, Erklärung vom Freitag am frühen Vormittag

Premierminister Dominique de Villepin hatte diese Version am späten Vormittag desselben Tages noch in knapper Form zugespitzt:

Es handelt sich, nach den mir vorliegenden Informationen, um Einbrecher, die am Werk waren.

Die in diesen Erklärungen enthaltene Behauptung, es habe sich um Kriminelle oder jedenfalls Straftäter gehandelt, die also begründete Furcht vor der Polizei hegten, findet sich mittlerweile in keiner offiziellen Erklärung mehr. Innenminister Sarkozy hatte zunächst konkret von einer „Bauhütte“ gesprochen, in deren Nähe die Jugendlichen durch Polizeibeamte aufgegriffen worden seien - so dass zumindest der begründete Verdacht eines möglichen Einbruchsversuchs vorliegen konnte.

Eine Ortsbesichtigung an der Stelle, an der Polizisten auf die Gruppe von Jugendlichen stießen, zeigt jedoch, dass es dort gar keine Bauhütte gibt. Es handelt sich vielmehr um ein Brachgelände an der Grenze zwischen den beiden Trabantenstadt-Kommunen Livry-Gargan und Clichy-sous-Bois, auf dessen einer Seite ein Fußballstadion liegt und auf dessen anderer Seite man sich dem EDF-Häuschen nähert. Allenfalls lässt sich davon sprechen, dass ein Bündel von auf dem Boden liegenden Rohren – die für irgendwelche Erdarbeiten bestimmt waren - entfernt an eine Baustelle denken lassen kann.

Eine minutiöse Rekonstruktion der Ereignisse durch die linksliberale Pariser Tageszeitung Libération (vom Montag) zeichnet jedoch ein völlig anderes Bild, als die Regierung in ihren ersten Reaktionen angegeben hatte. Demnach hatte eine größere Gruppe von Jugendlichen den Nachmittag beim Fußballspielen in oben erwähntem Stadion – das vielleicht 400 Meter von einem Polizeikommissariat entfernt liegt – verbracht. Das war um diese Zeit nichts Ungewöhnliches, da in Frankreich zwar das Prinzip der Ganztagesschule besteht, aber derzeit die Schüler in Herbstferien sind. Nach 17 Uhr befanden die Jugendlichen sich auf dem Nachhauseweg, als sie durch eine Personalienkontrolle der Polizei überrascht wurden. Einer Schilderung der Tageszeitung Le Parisien zufolge sahen sie „zunächst einen ersten Polizisten der BAC, Brigade anticriminalité (Anmerkung: eine militarisierte Sondereinheit der Polizei für die Trabantenstädte) auf sich zulaufen, der einen Minderjährigen aus der Gruppe festnahm“.

Daraufhin fingen die übrigen Jugendlichen an, weg zu laufen. Auch darin liegt nichts wirklich Unnormales, folgt man den Ausführungen von betroffenen Jugendlichen und Einwohnern. Im Parisien vom Montag erklärt der 16-Jährige Sofiane, der mit den mittlerweile toten Jugendlichen befreundet war und selbst zu der Gruppe der fortlaufenden Jugendlichen gehörte, seine Motive:

Ich hatte Angst, festgenommen zu werden und vier Stunden auf dem Kommissariat für nichts zu verbringen, bloß für eine Personalienfeststellung. Denn ich wollte nach Hause gehen, um zu essen, da ich wegen des Ramadan tagsüber gefastet hatte.

Und selbst in der konservativen Tageszeitung Le Figaro, die das Vorgehen der Regierung wie der Polizei in dieser Affäre allgedmein verteidigt, steht in die Dienstagsausgabe in einem Vorortbericht von drei Reporterinnen zu lesen:

"Wir sind es gewohnt, mit zwei Personalienfeststellungen pro Tag zu leben, nur deswegen, weil wir in Clichy-sous-Bois wohnen", erzählt ein junger Mann zornig. (...) Gestern haben die Einwohner von Clichy im übrigen "das aggressive Verhalten" der Polizisten seit Beginn des Konflikts beklagt.

Allem Anschein nach hatten die Jugendlichen also relativ gute Gründe, sich dem Zugriff der Polizisten zu entziehen. Nach wie vor ungeklärt bleibt aber der genaue Ablauf des weiteren Hergangs der Ereignisse. Nunmehr bleiben noch unterschiedliche Thesen im Umlauf.

Die erste Hypothese ist jene, die vom Staatsanwaltschaft der benachbarten Bezirkshauptstadt Bobigny, François Molets, seit mehreren Tagen vertreten wird. Demnach

haben die drei Jugendlichen zu laufen begonnen, weil andere Jugendliche liefen. Sie haben sich verfolgt geglaubt, während sie in Wirklichkeit nicht verfolgt wurden.

Dieser Hypothese zufolge handelt es sich also um das Resultat einer Art von Gruppendynamik, so dass auch die drei – wie von panischer Angst getrieben – flüchteten und die Mauer der EDF-Station überkletterten. Die Verteidiger dieser These stützen sich auf die Aussage eines Jugendlichen aus der Gruppe, der gegenüber der Staatsanwaltschaft von Bobigny ausgesagt haben soll:

Ich lief, ich lief, aber irgendwann wusste ich nicht mehr genau, warum ich am Laufen war.

Dagegen lautet eine andere, dritte Hypothese, dass die drei Jugendlichen auch konkret vor uniformierten Verfolgern, die ihnen auf den Fersen waren, davon liefen. In diese Richtung geht etwa die detaillierte Untersuchung der Tageszeitung Libération, die am Dienstag nochmals nachlegt und bestätigt, ihren Recherchen zufolge habe sich die Verfolgung über einen Kilometer – von der Nähe des Fußballstadions bis kurz vor dem Trafohäuschen – hingezogen. Dabei seien insgesamt sieben Jugendliche festgenommen worden, „an drei verschiedenen Orten und zu drei aufeinander folgenden Zeitpunkten“. Demnach erfolgte die letzte Festnahme in Sichtweise der EDF-Station, in 50 Meter Entfernung von der Mauer, die durch die drei Jugendlichen überklettert wurde.

Auch der Rechtsanwalt der Familienangehörigen der beiden Toten, Jean-Pierre Mignard, argumentiert in dieser Richtung:

Offenkundig hat eine Angst diese Jugendlichen, die sich nichts Strafbares vorzuwerfen hatten, dazu gebracht, eine doppelte Umsperrungsmauer mit Stacheldraht obendrauf hochzuklettern, um sich auf der Innenseite fallen zu lassen.

Zur Stunde kann noch nicht genau festgestellt werden, ob eher die vorletzte oder die letztgenannte Version der Wahrheit näher kommt. Ein anderer potenzieller Streitpunkt ist, in welchem Maße die Jugendlichen sich zum Zeitpunkt des Überkletterns der Mauer der damit verbundenen realen Gefahr bewusst sein mussten oder nicht. Mehrere Zeitungen illustrierten ihre Artikel mit der Abbildung eines größeren Schilds, auf dem ein fantasievolles, aber deutliches Graffity davor warnt: „Setze Dein Leben nicht aufs Spiel, der Strom ist stärker als Du.“ Augenzeugenberichte sprechen allerdings davon, dass dieses Schild zum fraglichen Zeitpunkt nicht gut sichtbar gewesen sei.

Inzwischen hat Innenminister Sarkozy die „Allgemeine Dienstinspektion“ IGS, die mit der (internen) Aufklärung eventueller Übergriffe der Polizei befasst ist, mit einer Untersuchung zu den Hintergründen der Todesfälle von Clichy betraut.

Weitere Eskalationsstufe: Die Tränengasgranate in einer Moschee

In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag, die auf den Tod der beiden Jugendlichen folgte, brachen erstmals militante Unruhen in Clichy-sous-Bois aus. Ihnen folgten in den kommenden Nächten weitere Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften, die sich auch auf die Nachbarkommune Montfermeil – eine der für die Wohnbedingungen in ihren Hochhaussiedlungen berüchtigsten Trabantenstädte – ausdehnten.

Aber auch andere Aktionsformen prägten die Reaktion der Jugend und anderer Einwohner von Clichy-sous-Bois. So fand am Samstag Vormittag ein Schweigemarsch quer durch die Kommune statt, an dem jedoch mit 400 bis 500 Personen eine geringere Zahl teilnahm als bei vergleichbaren früheren „Zwischenfällen“ mit Todesfolge in anderen Trabantenstädten. Den Schweige- und Protestmarsch eröffnete eine Reihe von jungen Leute, die alle weiße T-Shirts mit der Aufschrift Mort pour rien (Für nichts gestorben) trugen. Die Demonstration, die vom Alter und der Herkunft der Teilnehmenden her sehr gemischt zusammen gesetzt war, führte zu dem Transformatorenhäuschen von EDF, vor dem der sozialdemokratische Bürgermeister von Clichy-sous-Bois – Claude Dilain – einen Kranz niederlegte.

Als es am Sonntag Abend ansatzweise zu erneuten Unruhen kam und größere Polizeieinheiten eingriffen, explodierte gegen 20.30 Uhr eine Tränengasgranate im Inneren einer Moschee, die in einem Raum des Einkaufszentrums Anatol-France eingerichtet ist. Dort waren - in diesen letzten Tagen des Fastenmonats Ramadan, während dessen die sonst eher schwache religiöse Praxis zunimmt – rund 200 Betende versammelt. Einige Anwesende fielen in Ohnmacht, während die Versammelten panikartig nach draußen strömten.

Dieser Zwischenfall, der für breite Empörung sorgte und zu einer weiteren Eskalation beitrug, hat ebenfalls zu unterschiedlichen und einander teilweise widersprechenden Versionen vom Hergang geführt. Als erste Reaktion hieß es seitens einer Polizeigewerkschaft, die sich auf „Analysen des Polizeilabors“ stützte, die Tränengasgranate sei mit Hilfe eines Gewehrs abgeschossen worden, habe jedoch eine „instabile Flugbahn“ gehabt; sie sei jedoch nicht in dem Gebetsraum, sondern vor der Tür explodiert.

Dagegen sprach die polizeiliche Bezirksdirektion in der Nacht vom Sonntag zum Montag, einige Stunden nach dem Zwischenfall, davon, es habe sich um eine Pfefferspraygranate gehandelt, und solche Einsatzwaffen würden von den Ordnungskräften im Département nicht benutzt; die Polizei habe also nichts mit der Explosion zu tun. Am Montag Vormittag dagegen vertrat Innenminister Nicolas Sarkozy, der in der Bezirkshauptstadt Bobigny auftrat, um den CRS-Bereitschaftspolizisten und anderen Beamten „zu ihrer Arbeit zu gratulieren“, erneut eine andere Version:

Ich bestätige, dass es sich durchaus um eine Tränengasgranate handelt, mit denen die CRS ausgerüstet sind. Das bedeutet aber nicht, dass sie auch durch einen Polizisten abgeschossen worden ist. Eine Untersuchung wird es feststellen.

Die Polizeigewerkschaft Alliance ihrerseits hat mittlerweile folgende Erklärung abgegeben:

Ein Kollege von auswärts, der den Stadtteil nicht kennt, hat eine Tränengasgranate auf eine Gruppe von sehr mobilen Jugendlichen abgeschossen, die sich in das Einkaufszentrum geflüchtet hatten. Aber kein Anzeichen ließ erkennen, dass es (das Einkaufszentrum) diesen Gebetssaal beherbergt.

Viele der Anwesenden in der Moschee vom Sonntag Abend scheinen unterdessen davon überzeugt zu sein, es habe sich um Absicht gehandelt, da viele Polizisten mit rassistischen Racheabsichten in den Einsatz gegangen sein sollen. Mehrere Berichte, auch in den französischen Dienstagszeitungen, zitieren Zeugenaussagen und sprechen jedenfalls von Beleidigungen, die am Sonntagabend durch Polizisten gegen moslemische Frauen ausgesprochen worden seien.

Die französische Presse und die Unruhen

Die Presselandschaft in Frankreich reagiert sehr unterschiedlich auf die jüngsten Ereignisse, die fast überall seit zwei bis drei Tagen die Titelseiten beherrschen. Während die linksliberale Libération oben zitierte minutiöse Studie über den Hergang der auslösenden Todesfälle unternahm und die offizielle(n) Version(en) immer wieder offensiv in Frage stellte, konzentriert die KP-nahe Humanité sich vor allem darauf, den friedlichen Protest- und Schweigemarsch vom Samstag als positive Alternative herauszustreichen.

Dagegen reagiert die politisch rechts stehende Presse mit teilweise massiver Schürung von Ängsten und Sensationsmache. Führend ist hier die im Niedergang befindliche Boulevardzeitung France Soir – am Montag dieser Woche wurde ihr Konkursverfahren eröffnet, wobei ihr eine sechsmonatige Überlebensfrist eingeräumt wurde. Als einzige französische Zeitung wollte France Soir (vom Montag) vom angeblichen Wirken „radikaler Islamisten“ in Clichy-sous-Bois wissen. Diese Behauptung wird von ihr allerdings durch nichts belegt.

Ein Prozedere, das sowohl durch France Soir als auch in ähnlicher Form durch die seriösere konservative Tageszeitung Le Figaro eingesetzt wird, ist die Bildung eines Amalgams aus unterschiedlichen Ereignissen – die nur miteinander gemeinsam haben, dass sie die weitläufige Pariser Banlieue (Trabantenstadtzone) betreffen. Am Donnerstag voriger Woche wurde in Epinay-sur-Seine, nördlich von Paris und rund 20 Kilometer von Clichy-sous-Bois entfernt, ein 56jähriger Familienvater von jungen Männern attackiert. Der Mann - dessen Familie sich zum Tatzeitpunkt im verschlossenen Auto befand - war aus dem Wagen ausgestiegen, um eine Laterne zu fotografieren, da er für eine Lampenfabrik in der Normandie arbeitet. Dabei wurde er tätlich angegriffen, wobei unklar ist, ob die jungen Männer ihm den Fotoapparat stehlen oder aber ihm als Ortsfremdem das Fotografieren verbieten wollten. Der 56-Jährige wurde durch Schläge, u. a. auf den Kopf, verletzt und erlitt Berichten zufolge daraufhin eine Herzattacke. In der folgenden Nacht verstarb er im Krankenhaus. Dieser beklagenswerte und verurteilungswürdige Zwischenfall weist keinerlei Verbindung zu den Ereignissen von Clichy-sous-Bois auf. Doch beide „Affären“ wurden etwa auf der Titelseite des Figaro miteinander amalgiert, unter der gemeinsamen Überschrift:

Gewalt. Die Pariser Banlieue unter Schock – Die Unruhen in Clichy und ein Mord in Epinay rufen eine starke Emotion hervor

Der einzige damit erzielte Effekt besteht darin, „die Banlieue“ insgesamt als einen verrufenen, gefährlichen und gewalttätigen Ort darzustellen und ihre Bewohner in einen entsprechenden Topf zu stecken. Ähnlich geht France-Soir in einem Kommentar vor, der beiden „Affären“ gewidmet ist, und beklagt, dass den beiden Toten von Clichy-sous-Bois mehr Aufmerksamkeit in Form von Schweigemärschen zukomme als dem in Epinay Getöteten. Im deutschsprachigen Raum wurde dieses Strickmuster vor allem durch den Korrespondenten der Neuen Züricher Zeitung wörtlich übernommen.

Erste Strafprozesse im Eilverfahren

Inzwischen haben auch bereits die ersten Strafverfahren im Zusammenhang mit den Unruhen begonnen. Insgesamt sind, nach dem Informationsstand von Dienstag Vormittag, 41 Personen in den letzten Tagen – und vor allem in den Nächten – verhaftet worden. Gegen etwa 20 von ihnen sollen Strafverfahren eingeleitet werden.

Am Montag fielen bereits die ersten Urteile im Rahmen eines Eilverfahrens (comparution immédiate), das bei Flagranti-Delikten angewendet werden kann. Drei junge Männer aus Einwandererhaushalten im Alter zwischen 20 und 27 Jahren wurden zu jeweils acht Monaten Haft, davon je zwei Monate ohne Bewährung, verurteilt. Sie sollen in der Freitagnacht Polizisten mit Wurfgeschossen attackiert haben. Aber die beim Prozess anwesenden Nachbarn, Freunde oder Verwandten, die sich mit Unmutsäußerungen zurückhielten, zweifeln an dieser Darstellung, die im Wesentlichen auf die Aussagen von Polizeizeugen gestützt ist. „Sie haben einfach die ersten drei festgenommen, derer sie habhaft werden konnten“, lautet ihre Darstellung, die in Libération und im Parisien zitiert wird. Die drei Verurteilten selbst bestreiten keineswegs, am Ort des Geschehens gewesen zu sein, wohl aber die Tatvorwürfe.

Wenngleich es schwer ist, die Tatvorwürfe auf kriminalistischer Ebene zu bewerten, so sorgt doch ein Element dafür, dass sie nicht unbedingt plausibel wirken: Zwei der drei Verurteilten sind Einwanderer, die derzeit keinen legalen Aufenthaltsstatus in Frankreich besitzen. Einer von ihnen lebt bei seinem Vater, der sich als „legaler“ Immigrant in der Pariser Vorstadt aufhält, der andere ist vor fünf bis sechs Jahren aus dem Krisenland Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste) geflohen. Es ist nicht unbedingt anzunehmen, dass Einwanderer, die ihre mögliche Abschiebung aus Frankreich befürchten müssen – einer der drei Verurteilten war erst kurz vor den Ereignissen, aufgrund eines Verfahrensfehlers, aus der Abschiebehaft frei gekommen – sich bei Zusammenstößen mit den Ordnungskräften aktiv beteiligen und dadurch mutwillig ihre Festnahme riskieren.

Gegen fünf weitere junge Männer sollte der Prozess in Bobigny ebenfalls am Montag beginnen, wurde aber auf den 7. November verschoben. Da ihre Anklage nach der Prozedur des Eilverfahrens aufrecht erhalten bleibt, müssen sie bis dahin eine weitere Woche in Polizeihaft verbringen, was ebenfalls für Proteste der Anwältin und der Anwesenden im Gerichtssaal sorgte.

Ein Rückschlag für Sarkozys Politik?

Viele Medien und Beobachter stellen sich die Frage, ob die anhaltenden Unruhen einen Rückschlag für Nicolas Sarkozys Politik bilden (Innenminister Sarkozy als Stimmenfänger für die Rechten?). Der amtierende Innenminister versuchte in den letzten drei Jahren, sich als effizienter Krisenverwalter in den – von extremen sozialen Verwerfungserscheinungen geprägten – Trabantenstadtzonen zu präsentieren (Law-and-Order und Wahlkampf mit Einwanderung).

Die Banlieues rund um die französischen Großstädte funktionieren in den Augen großer Teile der französischen Öffentlichkeit wie ein Brennglas, durch das hindurch alle Ängste vor Unsicherheit und Gewalt konzentriert wahrgenommen werden. Oft in Verbindung mit einer ethnisierten Wahrnehmung (in Form einer Assoziationskette „Banlieues - Islam - Unsicherheit und Bedrohung“). Allerdings sind die französischen Trabantenstädte in Wirklichkeit keine „ethnischen“ Quartiere, wie sie teilweise in US-amerikanischen Großstädten existieren. In ihnen leben vielmehr bunt durcheinander gewürfelte Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Herkunft, die sich durch das gemeinsame Merkmal „Armut“ oder „sozialer Abstieg“ auszeichnen.

Die Existenz dieser teilweise sehr ausgedehnten Trabantenstadtzonen, die Pariser Banlieue ist annähernd so groß wie das Saarland, lässt sich nur historisch erklären: Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wollten die politischen und wirtschaftlichen Eliten in Frankreich keine flächendeckende Industrialisierung des Landes, da sie Angst hatten, dies würde die „rote Gefahr“ in alle Ecken Frankreichs tragen. Vielmehr wollte man die Industriezentren auf wenige Ballungsräume (rund um Lille, Paris, Lyon und Marseille) konzentrieren, um im übrigen Frankreich ländlich-konservative Sozialbeziehungen aufrecht zu erhalten. Damit sollte der „Virus der Revolution“ auf überschaubare Zonen eingedämmt werden. Ein großer Teil der Industriearbeiter siedelte sich in diesen Trabantenstadtzonen an.

In den letzten 30 Jahren sind diese Banlieues vor allem durch den Niedergang traditioneller Industriezweige und den parallel dazu verlaufenden Anstieg der Massenarbeitslosigkeit geprägt. Gleichzeitig tendierten die Großstädte, vor allem Paris und Lyon (dagegen ist der Marseiller Raum anders strukturiert), immer stärker dazu, sämtliche Gruppen ihrer Armuts- oder „Problembevölkerung“ in die sich ausdehnenden Trabantenstädte abzuschieben. Das Sortierungskriterium dabei war freilich kein (explizit) „ethnisches“, sondern bestand schlicht und einfach darin, dass sich viele Menschen – darunter sicherlich sehr viele Einwanderer – das Leben in den bürgerlichen Kernstädten nicht leisten können.

Das Angst einflößende „Brennglas“ der Banlieues, in denen sich zahlreiche Krisen- und Gewaltphänomene wie in einem Riesenkessel konzentrieren und von wo sie gleichzeitig – in Form von Fernsehbildern aus den Trabantenstädten - in den letzten Haushalt übermittelt werden, nährt in Frankreich zahlreiche politische Diskurse. Es hat, mit der ideologisierten Aufladung des Sicherheits-/Unsicherheits-Themas, die Wahlkämpfe des letzten französischen Wahljahres 2002 de facto entschieden (Die Zahlen, die Angst machen). Damals profitierten sowohl die Konservativen als auch die extreme Rechte von der Konjunktur dieses Themas (Zero Tolerance à la Française). Der politische Senkrechtstarter Nicolas Sarkozy, der unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl von 2002 – mit der „Alternative“ Chirac oder Le Pen in der Stichwahl – Innenminister wurde, hat seinen politischen Erfolg darauf begründet. Heute aber muss der erklärte Präsidentschaftskandidat für 2007, der Sarkozy bereits seit drei Jahren ist, sich auch mit konkreten Lösungen bewähren.

Nur zwei Tage vor dem Ausbruch der jüngsten Unruhen in Clichy-sous-Bois hatte Sarkozy einen wichtigen Show-Auftritt in einer anderen Pariser Trabantenstadt, im nördlich an die Hauptstadt angrenzenden Argentueil. Dort absolvierte Sarkozy in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch vergangener Woche einen vorab angekündigten Auftritt kurz nach Mitternacht am Fuße einer der größten Hochhaussiedlungen. Dabei klopfte er markige Sprüche, versprach „das Krebsgeschwür auszurotten“ – die Rede war von der Unsicherheit – und die Einwohner „von dieser Bande von Abschaum zu befreien“. Dass die „Sarkoshow“ vor eingeschalteten Kameras (von der 24 Stunden später Le Parisien sprach) als Kulisse 200 protestierende Jugendliche hatte, die dadurch gewollt oder ungewollt als der nämliche „Abschaum“ erschienen, gehörte zum Spiel.

Viele Beobachter sahen Sarkozy damals „auf dem Boden der extremen Rechten wildern“. Noch in derselben Woche machte Sarkozy allerdings einen scheinbar damit kaum vereinbaren Vorstoß: Er wirbelte die eigene konservative Partei durcheinander, indem er sich unerwartet für das Wahlrecht in Frankreich lebender Ausländer – allerdings nur bei Kommunalwahlen – aussprach. Gegenüber seiner Umgebung rechtfertigte Sarkozy diese Initiative damit, wie er durch die Zeitung Le Canard enchaîné zitiert wurde, dass er mal die Linke und mal die Rechte überraschen müsse, um als „nicht in eine Schublade zu steckende und über den politischen Gräben stehende“ Überfigur auftreten zu können. Sein oberstes Ziel dürfte darin bestehen, als „harte, aber gerechte“ bonapartistische Führungspersönlichkeit auftreten zu können, die gleichzeitig mit harter Hand zupackt wie noch kein Minister vor ihm und den Einwanderern „Integrationsangebote“ macht.

Nach den jüngsten Zwischenfällen aber ist diese Pose fragwürdig geworden. „Rückschlag für Sarkozy?“ fragt Libération so auf ihrem Titel. Man darf darauf gespannt sein, wie die hyperaktive Medienfigur Nummer 1 der französischen Politik versuchen wird, die negativen Eindrücke der jüngsten Krise in Clichy-soys-Bois abzustreifen.