Wie man deutsch wird

Eine Neuseeländerin hat herausgefunden, wie man eine typisch deutsche Kindheit nacherleben kann

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Kirschlutscher sind für die neuseeländische Künstlerin Joanne Moar der Inbegriff für eine Kindheit in Deutschland. Fast jeder, der hierzulande aufgewachsen ist, hat schon mal einen gelutscht oder zerbissen. Deshalb ist es nur konsequent, dass die kleinen roten Lutscher mit dem grünen Stiel auf der sonst sehr schlicht gehaltenen Website der Künstlerin als Wegweiser dienen. Schließlich geht es hier um typisch deutsche Kindheitserinnerungen.

Seit über elf Jahren lebt Joanne Moar in Köln. Erst vor kurzem hat die 34-jährige dort an der Kunsthochschule für Medien ihren Abschluss gemacht. Ihr Deutsch ist hervorragend, doch wenn ihre Freunde in gemeinsamen Kindheitserinnerungen schwelgten, konnte sie nie mitreden. Weil sie schlichtweg nicht wusste, was es mit Pippi Langstrumpf, Räuber Hotzenplotz, Prilblumen und Dolomiti auf sich hatte.

Süße Kindheitserinnerungen an die 70er Jahre (Bild: Joanne Moar)

Sie hatte eben nie die Kinderbücher von Astrid Lindgren und Otfried Preußler gelesen oder zumindest die Verfilmungen gesehen. Sie hatte nie die Blumenaufkleber von der Pril-Spülmittelflasche abgezogen und auf den Küchenschränken verteilt und hatte auch nie das Kindereis Dolomiti geleckt, das von der Form her an die Dolomiten, ein Gebirge in Norditalien, erinnerte und aus je einer Schicht Zitrone, Himbeer und Waldmeister bestand. Wie es sich für die 70er Jahre gehörte, war es extrem süß und bunt eingefärbt, so dass Mund und Zunge am Ende rot-grün waren. Anfang der 90er Jahre gab es eine Neuauflage mit neuen Geschmacksrichtungen (Zitrone, Erdbeer, Kiwi) und ohne künstliche Farbstoffe. Ein gut gemeinter Versuch, der kläglich scheiterte.

Eines Tages beschloss die Künstlerin, sich die entgangenen Erinnerungen auf eigene Faust zu besorgen. Sie organisierte ein Laptop, einen Klapptisch und zwei Klappstühle und zimmerte daraus ein „Info-Modul“. Damit zog sie in den Sommermonaten durch deutsche Innenstädte, platzierte sich auf Marktplätzen und in Fußgängerzonen und musste nie lange warten, bis sich Neugierige um sie scharten, die am Laptop bereitwillig eigene Erfahrungen eintippten. Das Ergebnis ist im Internet unter www.becoming-german.de zu finden.

Joanne Moar zieht mit ihrem Info-Modul durch die Kölner Innenstadt (Bild: Nadine Minkwitz)

Moar geht es nicht in erster Linie darum, für jeden Jahrgang eine typisch deutsche Kindheit herauszudestillieren. Für sie steht das Sammeln von Geschichten im Vordergrund. Jeder, der seine Kindheit in Deutschland verbracht hat, kann Erinnerungen spenden. Einige Kinder türkischer Herkunft waren darüber sehr erstaunt, denn sie waren überzeugt davon, keine „deutsche Kindheit“ gehabt zu haben. Ihnen hat die Begegnung mit Joanne Moar ganz neue Einblicke in die eigene Vergangenheit ermöglicht.

Bei mittlerweile mehreren tausend Eintragungen kommt Joanne Moar mit dem Lesen kaum hinterher. Bearbeitet oder gar zensiert wird Moar zufolge nicht. Sie vertraut darauf, dass die Teilnehmer das Projekt unterstützen und nicht unterlaufen oder gar beschädigen wollen. Trotzdem macht sie sich Gedanken darüber, wie sie auf Unsinn und rechtlich problematische Einträge reagieren wird.

Joanne Moar tippt Kindheitserinnerungen von Passanten ein. (Bild: Nadine Minkwitz)

Um Kindheitserinnerungen zu empfangen, die zur eigenen Biographie passen, muss man lediglich ein paar Eckdaten eingeben: den Geburtsjahrgang, die Anzahl der Geschwister, ob die Eltern zusammen lebten, getrennt, geschieden oder verstorben waren, ob man in einer Kleinstadt, auf dem Land oder in der Großstadt aufgewachsen ist, was die Lieblingsbeschäftigung war und welche Lieblingsfarbe man hatte. Sobald alles eintragen ist, spuckt die Datenbank eine zum eigenen Profil passende Kindheit aus. Man erfährt, welche Bücher man aller Wahrscheinlichkeit nach am liebsten mochte, wo man den Urlaub verbrachte und welches Verhältnis man zu seinen Großeltern hatte. Die jeweilige Kindheitserinnerung setzt sich aus einer ganzen Reihe von Einträgen zusammen. Man übernimmt also keine komplette Biografie, sondern immer nur Bruchstücke.

Die Funktion „eine deutsche Kindheit empfangen“ ist vor allem für Menschen gedacht, die nicht in Deutschland aufgewachsen sind. Ihnen kann die Datenbank zu einer deutschen Kindheit verhelfen. Das erinnert an die implantierten Erinnerungen der Androiden in Philip K. Dicks Roman "Do Androids Dream Of Electric Sheep", der von Ridley Scott unter dem Titel "Blade Runner" verfilmt wurde. Dort sollen die eingeimpften Erinnerungen verhindern, dass die Androiden merken, dass sie keine leibhaftigen Menschen sind. Moar hat durchaus Verständnis für diese Assoziation. Trotzdem hat sie keine Angst, dass ihr Projekt eines schönen Tages für ähnliche Zwecke missbraucht werden könnte. Sie glaubt an das Gute im Menschen und möchte mit ihrer Datenbank lediglich ein Angebot machen. Was die Nutzer letztlich daraus machen, kann und will sie nicht bis ins Detail beeinflussen.

In Köln traf Joanne Moar auf ein paar Bayern in Lederhosen – nächstes Jahr möchte sie mit ihrem Info-Modul auch durch Bayern reisen und vor Ort Erinnerungen einsammeln. (Bild: Nadine Minkwitz)

Natürlich ist die Datenbank auch für Deutsche interessant, die herausfinden wollen, wie „typisch“ ihre eigene Kindheit war. Bislang gibt es allerdings keine Auftrennung in ost- und westdeutsche Erinnerungen, was von vielen Nutzern kritisiert wurde. Da Moar in Köln lebt, war sie eben hauptsächlich im Westen Deutschlands unterwegs. Sobald jedoch genügend ostdeutsche Kindheitserinnerungen vorliegen, wird man zwischen einer ost- und einer westdeutschen Kindheit wählen können. Außerdem möchte Joanne Moar im kommenden Frühjahr im Süden Deutschlands Erinnerungen sammeln. Schließlich gibt es in Deutschland nicht nur Unterschiede zwischen Ost und West.