Flucht aus der kollektiven Gegenwart

Die ideale Zeitmaschine. Der Mythos eines Menschheitstraums. Teil 1

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zeitmaschinen gehören zu den ältesten Mythen, des technologischen Zeitalters. Sie spiegeln unser paradoxes Verhältnis zu Raum und Zeit. Dass wagemutige Konstrukteure hier und jetzt an der konkreten Technologie basteln, ist dabei fast schon zweitrangig. Denn nur die ideale Zeitmaschine ist ein würdiges Projekt.

Wer es wirklich ernst meint, setzt nicht darauf, Singularitäten in der Tiefe fiktiver schwarzer Löcher mit exotischer Materie zu stabilisieren; Er würde auch nicht anstreben, mithilfe aneinander vorbeirasender kosmischer Strings durch die Zeit zu trudeln, und der Umweg über die Lichtgeschwindigkeit war jedem echten Aspiranten schon immer zu mühsam. Der mächtigste Schlüssel zu Zeitreiseexperimenten besteht in der Tatsache, dass Zeitmaschinen überhaupt denkbar sind.

Denn diese nach derzeitigem Kenntnisstand der Mainstream-Physik zumeist hypothetischen Apparaturen erschüttern die Grundfeste des Universums. Sie rücken mit der Linearität der Zeit einem Phänomen zu Leibe, das selbst oft reine Idee zu sein scheint, an dessen fernen Rändern sich so idealtypische Schwergewichte wie Jetzt und Ewigkeit befinden.

Dass die alltägliche Zeit gnadenlos vorwärts und nicht rückwärts läuft und uns dadurch mit den Zwängen der Kausalität nervt, scheint eine willkürliche Festlegung ohne tieferen Sinn. Die von Psychologen und anderen Gehirnverstehern gerne ins Verblüffende aufgemotzte Binsenweisheit, dass Zeit subjektiv und relativ sei, ändert daran nicht das Geringste. In dieser Realität sind wir Sklaven des Newtonschen Weltbilds. Und diese Zwangsgemeinschaft in der Zeitstruktur ist für viele der wirkliche Skandal, das echte Ärgernis.

Die ideale Zeitmaschine vervielfacht die Möglichkeiten der Existenz

Deswegen grübeln sie, entwerfen und fabulieren: Etwa, man könne für 75 Millionen Euro eine Zeitmaschine bauen, deren Konstrukteur unter anderem annimmt, dass eine Singularität im Inneren von Atomen dabei hilfreich sein könnte. Konkreter wird es in diversen Offenlegungsschriften des deutschen Patentamts, dem mehrere Zeitmaschinen-Entwürfe vorliegen. Darunter das Werk: "Zeitstrom-Simulation - Verfahren zur lichtschnellen wie überlichtschnellen Fortbewegung". Mit Hilfe von Hochfrequenzoszillatoren will dessen Erfinder ein synthetisches Raum-Zeit-Gefüge erschaffen, um dieses "Zeitplasma-Simulationsfeld" dann zur Flucht aus der uns bekannten Realität zu nutzen.

Für den harten Kern der naturwissenschaftlichen Elite ist der Zeittourismus allerdings vorrangig von abstraktem Interesse. Das Nachsinnen über Zeitparadoxa gehört zu den grassierendsten Folgen der Arbeiten Einsteins und fällt vielen auch leichter, als mit komplizierten Pfadintegralen oder mehrdimensionalen Feldtheorien zu hantieren.

Der Klassiker: das Großvater-Paradoxon. Kurz gesagt schildert es den Mord eines zeitreisenden Enkels an seinem juvenilen Opa, der nun niemals eine Mutter für eben diesen undankbaren Enkel zeugen kann. Folglich wird der Mörder nie geboren, kann aber auch nicht durch die Zeit reisen, um das Tötungsdelikt zu begehen. Oder doch? Die Idee der Zeitreise erfordert eine andere Logik, als die kriminalistische.

Zum Beispiel angesichts einer noch kühneren Klasse von Paradoxa: Zeitschleifen ohne Anfang und Ende, wie sie der Fall des Kunstkritikers aufwirft, der in die Vergangenheit reist, um einen Maler mit einem Bildband von dessen künftigen Werken zu verblüffen, die dieser nun nach und nach bequem abpinselt. Durch diese Episode entsteht zwar keine widersprüchliche Situation, in der sich ein Mensch etwa selbst aus der Geschichte heraus kürzt, sondern etwas viel Unheimlicheres: ein konkretes Produkt schöpferischen Geistes, das offensichtlich von niemandem erschaffen wurde. Denn der Maler reproduziert in der Vergangenheit ja nur die Reproduktionen seiner eigenen Werke, die im Original zwar in der ursprünglichen Zukunft von ihm selbst stammen, neuerdings, bedingt durch die fatale Reise des Kunstkritikers in die Vergangenheit, aber nur noch Plagiate sind. Dieser endlosen Schleife scheint der Anfangsimpuls zu fehlen.

Woher stammen die Werke des Malers wirklich? Wenn man sich von den Ketten der herkömmlichen Logik befreit, lassen sich dazu interessante Hypothesen ersinnen. Natürlich hat der Maler seine Kunstwerke erschaffen, denn die Zeitlinie ohne Zeitmaschine hat ja auch Realitätscharakter und wird nur von der Episode mit dem Selbstplagiat überlagert und ergänzt. Die Kunstwerke waren schon immer da, sie sind Teil der Welt und es ist völlig egal, ob sie der Maler nach seinen im Gehirn festgelegten Kreativitätsmustern erschafft oder sie bereits irgendwie anders in die Welt gekommen sind und er den schöpferischen Malakt nur noch simuliert. Für Physiker sind solche Gedanken allerdings in der Regel keine tragfähigen Lösungen. Sie setzen auf das strikte Einhalten der ehernen Prinzipien des Universums.

Goodbye Logik

Beispiele wie das vom toten Großvater oder vom sich selbst plagiierenden Maler haben die Physiker David Deutsch und Michael Lockwood Mitte der 90er Jahre auf ihre Vereinbarkeit mit den Naturgesetzen hin untersucht. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, dass die klassische Physik grundsätzlich nichts gegen zeitreisende Enkel einwenden dürfte, sofern diese damit ihre eigene Geburt nicht verhindern. Kern des Großvaterparadoxons sei das Autonomieprinzip, nach dem "wir in unserer unmittelbaren Umgebung jede materielle Anordnung erzeugen [können], die nach den physikalischen Gesetzen örtlich erlaubt ist, ohne daß wir uns dabei um den Rest des Universums zu kümmern brauchten", so Deutsch und Lockwood. Probleme treten erst dann auf, wenn ein anderes bedeutsames Prinzip, das Konsistenzprinzip, verletzt wird, welches verkürzt besagt, dass nur eintreten kann, was global selbst-konsistent, also in sich widerspruchsfrei ist.

Bei Expeditionen durch Zeitschleifen ist das nicht immer der Fall. Daher fordert die klassische deterministische Physik, dass man die Vergangenheit nicht ändern kann: Sei es, dass Ladehemmungen, surreale Skrupel oder ein deus ex machina Opi rettet.

Im Falle des Malers, der seine eigenen Werke kopiert, liegt dagegen ein Wissens-Paradoxon vor. Das beschert uns ebenfalls Widersprüchlichkeiten: zwischen der Autonomie und dem Umstand, dass Wissen nicht aus dem Nichts, sondern nur als Ergebnis von Problemlösungen entstehen darf. Deutsch und Lockwood sind allerdings der Überzeugung, dass derartige Überlegungen ohnehin völlig überflüssig sind: "denn letztlich ist die klassische Physik falsch. In vielen Fällen kommt sie zwar der Wahrheit äußerst nahe, doch bei geschlossenen zeitartigen Kurven versagt sie ganz und gar."

Multiple Welten

In seiner Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen aus dem Jahr 1944 zitiert der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges den berühmten Satz: "Ich hinterlasse den verschiedenen Zukünften (nicht allen) meinen Garten der Pfade, die sich verzweigen". Hier ist Zeit ein "wachsendes, Schwindelerregendes Netz auseinander- und zueinander strebender und paralleler Zeiten."

Erst 13 Jahre nach Borges Erzählung kommen auch Physiker auf diese Idee: Gemäß der Viele-Welten-Theorie, die auf Hugh Everetts relative-state-Formulierung, eine Interpretation der Quantenmechanik aus dem Jahr 1957 beruht, lösen sich alle denkbaren Zeitparadoxa dadurch auf, dass sich bei jeder Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten im Ablauf der Ereignisse das Universum einfach aufteilt. Die Pfade verzweigen sich. Der Zeitreisende Enkel erschafft ein neues paralleles Universum, in dem er eben nicht existiert. Sein ursprüngliches Universum bleibt davon allerdings völlig unberührt, denn dort ist ja nie ein zeitreisender Mörder in der Vergangenheit aufgetaucht. Auch das Maler-Paradoxon ist nach dieser Theorie keines mehr. Denn nur in einem der verschiedenen Universen, nämlich dem mit einem zeitreisenden Kunstkritiker in der Vergangenheit, kopiert der Künstler sich selbst. Und zwar kreative Originale seines anderen Ichs aus dem Paralleluniversum und keine aus dem Nichts stammenden Artefakte.

Die denkbaren Schlussfolgerungen aus Zeitparadoxa lassen sich aber auch über diese klassischen oder quantenmechanischen Interpretationen hinaus erweitern, wie es Professor Urban Chronotis, eine Romanfigur von Douglas Adams postuliert:

Wenn das Universum jedes Mal enden würde, wenn es irgendwelche Unklarheiten darüber gäbe, was sich darin zugetragen hat, wäre es nie über die erste Pikosekunde hinausgelangt …. Es ist wie beim menschlichen Körper, verstehen Sie? Ein paar Schnitte und Quetschungen hier und da tun ihm nicht weh. Nicht mal größere Operationen, wenn sie richtig gemacht werden. Paradoxe sind bloß das Narbengewebe. Zeit und Raum heilen um sie herum zusammen, und die Leute erinnern sich einfach nur noch an die Version der Ereignisse, die so plausibel ist, wie sie es von ihr verlangen.

Die ideale Zeitmaschine schafft Reservate des Absurden

Ebenso wie fiktive Wissenschaftler oft elegantere Theorien hervorzaubern, als ihre Kollegen in den Max-Planck-Instituten, kann auch die fiktive Wissenschaft an sich außerordentliches leisten. Alfred Jarrys Pataphysik war so eine "Wissenschaft von den imaginären Lösungen", die in etwa dem selben Verhältnis zur Metaphysik steht, wie die Metaphysik zur Physik. Auch der dem Surrealistenumfeld entstammende Jarry hatte ein Zeitmaschinenmodell entwickelt, betrachtete schon 1898 die Zeit als eine gekrümmte geschlossene Oberfläche und postulierte die Existenz einer imaginären Gegenwart. Und das sieben Jahre vor Einsteins Geniestreich "Zur Elektrodynamik bewegter Körper", der gemeinhin als spezielle Relativitätstheorie bekannt ist.

Physiker sind allerdings in den zeitmaschinellen Gedankenexperimenten mitunter verblüffend einfallslos. Stephen W. Hawkings Gegenargumente gegen Zeitreisen bestehen beispielsweise nicht nur in dem etwas vermessenen selbst erfundenen Naturgesetz des "chronology protection conjecture", wonach Zeitreisen in die Vergangenheit einfach verboten sind, sondern auch in der Behauptung, es müssten ja bereits etliche Zeitreisende bei uns vorbei geschaut haben, wenn die Sache prinzipiell möglich wäre. Reichlich kurz gedacht. Wobei man nicht einmal die billige Gegenhypothese anführen muss, dass Zeitreisende wohl kaum so dämlich sein werden, sich beim heimlichen Tempus-Hopping ertappen zu lassen. Logischer ist eine erweiterte Konsistenzhypothese, nach der Zeitreisende und Zeitmaschinen natürlich erst von dem Moment an auftauchen, ab dem es sie tatsächlich gibt. Exakt in dem Augenblick also, wenn der erste Zeitreisende in die Zukunft aufbricht.

Nach Ansicht des Anthropologen Terence McKenna bleibt dann für die Zurückgebliebenen nicht mehr viel Zeit, um sich selbst auf den Weg zu machen, oder die vielen Besucher aus allen möglichen künftigen Äonen zu empfangen. Stattdessen "stürzt schlagartig die ganze Zukunft zusammen, und alles geschieht im gleichen Augenblick." McKenna geht nämlich davon aus, dass sich Kulturen der am weitesten fortgeschrittenen Evolutionsstufe angleichen, mit der sie in Kontakt geraten. Die Folge für unsere Welt nach Überwindung der Zeitschwelle: "die gesamte zukünftige Geschichte des Universums – bis zu ihrem Schlußpunkt – [wird] in die nächsten paar Millisekunden komprimiert."

Wir sehen uns einer optimistischen Fassung der Apokalypse gegenüber, die uns mit der absoluten Gegenwart von allem beglückt – Auferstehung der Toten und Begegnung mit dem großen Finale des Universums inklusive.

Von Falko Blask und Ariane Windhorst (www.zeitmaschinen.org) ist soeben erschienen: ZEITMASCHINEN - Atmosphärenverlag, 19,90 Euro, 272 Seiten, ISBN: 3-86533-020-7