Große Koalition löst keine Aufbruchstimmung aus

Der ausgehandelte Koalitionsvertrag stößt auf Enttäuschung und Skepsis

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Wer von allen kritisiert wird, muss schon irgendwie auf den richtigen Weg sein. Von dieser Maxime scheinen sich die Partner der großen Koalition gedacht haben, als sie nach wochenlangen Verhandlungen am Freitag nun den Vertrag unter dem Titel "Mut und Menschlichkeit" der Öffentlichkeit präsentierten. Überraschungen gab es keine mehr. Schließlich waren ja in den letzten Wochen eifrig Vorschläge aus den Koalitionsrunden in die Öffentlichkeit gedrungen, um die öffentlichen Reaktionen zu prüfen und auch die Empörung zu kanalisieren.

So war seit Tagen bekannt, dass ab Januar 2007 die Mehrwertsteuer auf 19 % steigen wird. Damit die SPD, die im Wahlkampf vehement gegen diese Steuererhöhungen zu Felde zog, diese Kröte schluckt, mussten die Unionsparteien einer stärkeren Besteuerung privater Einkommen zustimmen. Diese irreführend „Reichensteuer“ benannte Maßnahme wird vielen Wirtschaftsliberalen schwer im Magen liegen und der FDP Zulauf bringen. Der Parteivorsitzende Westerwelle stellt seine Partei als Bollwerk gegen die Sozialdemokratisierung dar, die er auch bei den Unionsparteien diagnostiziert diagnostiziert.

Es ist geschafft. Die designierte Kanzlerin Angela Merkel erklärt: "Dies kann eine Koalition der neuen Möglichkeiten werden". Bild: cdu.de

Die SPD kann sich auf die Schulter klopfen, weil der von Rot-Grün vereinbarte Atom-Ausstieg nicht infrage gestellt wird. Doch in Wirklichkeit hatten auch die Unionsparteien nicht ernsthaft vor, diese Frage zum Knackpunkt zu machen. Schließlich kann die Energiewirtschaft mit dem Energiekompromiss der rotgrünen Regierung sehr gut leben und hat zur Zeit auch nicht vor, in Deutschland neue AKWs zu bauen. Die SPD wäre bei dieser Frage, wenn es zum Schwur gekommen wäre, auch nicht auf einheitlichen Ausstiegskurs gewesen. Zumindest Teile des Gewerkschaftsflügels der SPD würden längere Laufzeiten von AKWs bestimmt nicht ablehnen.

In Wirklichkeit wurde mit diesen Scheindebatten eine Bresche in den Kündigungsschutz geschlagen. Die SPD kann sich jetzt zwar rühmen, beim Atomausstieg hart geblieben sein, aber dafür eben beim Kündigungsschutz nachgegeben zu haben. Die Koalitionäre haben sich darauf verständigt, dass der Kündigungsschutz statt wie bisher nach einem Beschäftigungsverhältnis von 6 Monaten erst nach einem zweijährigen Arbeitsverhältnis gelten soll.

Über die von den Unionsparteien favorisierten betrieblichen Bündnisse konnte keine Einigung erzielt werden. Sie werden deshalb im Koalitionsvertrag ausgespart. Auch die Gesundheitsreform, wo man die Kluft zwischen der von der SPD favorisierten Bürgerversicherung und der Kopfpauschale der Christdemokraten nicht überbrücken konnte, wurde erst einmal auf das nächste Jahr vertagt. Da häuft man gleich neuen Konfliktstoff für die Zukunft auf, denn die beiden Parteien werden auch in einem Jahr kaum von ihren Positionen abgehen und ein Streit unter Regierungsmitgliedern wird anders bewertet, als das Gezerre bei den Koalitionsverhandlungen.

Keine Schonzeit

Nun muss sich erst zeigen, ob die große Koalition überhaupt so lange besteht. Denn eins ist klar. Eine Schonfrist wird der neuen Regierung kaum zugebilligt. Selbst die obligatorischen 100 Tage Zeit für die Einarbeitung will man oft nicht gewähren. Wer die Pressestimmen zum Koalitionsvertrag liest, muss sich über den Gleichklang wundern, mit dem die Vereinbarungen von der konservativen Welt über die liberale Süddeutsche Zeitung bis zur grünennahen tageszeitung abgelehnt oder zumindest sehr skeptisch aufgenommen werden. Für die neue Regierung noch schlimmer, nennt die Bildzeitung den Koalitionsvertrag eine „Bankrotterklärung“ und spricht von der "Koalition der Abkassierer". Aufbruchsstimmung sieht anders aus.

Wie das Presseecho ist auch die Reaktion wichtiger Interessengruppen auf die Vereinbarungen negativ. Der Sozialverband VdK kündigte kurz vor dem für Freitag geplanten Abschluss der Koalitionsverhandlungen wegen möglicher Kürzungen für Rentner einen "heißen Herbst" an. Der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Frank Bsirske, warnte vor einer Lockerung des Kündigungsschutzes. Aktionärsschützer lehnten die Pläne von Union und SPD zur Besteuerung von Veräußerungsgewinnen aus Wertpapieren ab. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) dämpfte Erwartungen, sie könne aus eigener Kraft den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung deutlich senken. Kritik kommt auch von Patienten- und Verbraucherverbänden wie von Unternehmerverbänden.

Auch die erste Onlinedemonstration gegen die neue Regierung wurde schon von der globalisierungskritischen Organisation Attac und der IG-Metall gegen die Mehrwertsteuererhöhung auf den Weg gebracht. Am kommenden Wochenende wollen sich soziale Initiativen und Erwerbslosengruppen in Frankfurt/Main auf einem bundesweiten Ratschlag über die kommende Protestagenda verständigen. Hier hofft man, dass das Regierungsprogramm wieder mehr Menschen zu Protesten mobilisiert.

Allerdings wird man erst sehen müssen, wie die Belastungen die einzelnen Gesellschaftsschichten treffen werden und ob die Programme, die u.a. in Form der "Mittelstandsoffensive", der "Existenzgründungsoffensive", der Maßnahmen gegen Schwarzarbeit oder von mehr Geld für Forschung und Entwicklung als Förderung von Innovationen, Investitionen, Wirtschaftswachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen gedacht sind, auch greifen und die Folgen der Steuererhöhungen und des Subventionsabbaus kompensieren können.