Guerilla-Exorzismus: Den Werbeteufel mit dem Spam-Beelzebub austreiben

Wenn Werber Müllthemen ins Netz kippen und denken, dass das niemand merkt

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Spam ist der Netzfeind Nr. 1. Guerilla-Marketing hingegen gilt als Kavaliersdelikt, hat es doch etwas Subversives, Nonkonformistisches. Die Grenze zwischen witzigen Kampagnen und lästigem Werbemüll ist jedoch schnell überschritten – und reich an Chancen, in peiniche Fettnäpfchen zu treten.

Als Anneliese Michel am 1. Juni 1976 in Klingenberg am Main verstarb war klar, dass katholische Geistliche an ihrem Tod genauso viel Schuld trugen wie ihre Eltern. Monatelang nahm sie durch eine Erkrankung – vermutlich eine Epilepsie mit schwerer depressiver Phase – kaum Nahrung zu sich. Die angehende Lehrerin war ans Bett gefesselt durch die körperliche Schwäche, die auf dem Nährstoffmangel beruhte. Am 1. Juni 1976 starb sie an einem Multiorganversagen, wie man „Verhungern“ medizinisch gerne umschreibt.

Dabei hätte eine stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik ihr Leben auch damals retten können. Die Eltern, Verwandte oder Nachbarn hätten sich an ein Vormundschaftsgericht wenden können. Das hätte Anneliese sicherlich problemlos eingewiesen. Hätte, denn das alles geschah nicht, weil katholische Geistliche eindeutig Beelzebub aus Anneliese sprechen hörten und die fachärztliche Behandlung der „Besessenen“ als aussichtslos bezeichneten. Nur der Exorzismus, den sie bis zu Annelieses Tod betrieben, könne sie retten.

Exorzismus ist heute scheinbar wieder ein brandaktuelles Thema (Römische Uni bietet ab Februar Exorzismus-Seminare an). So schrieb eine gewisse „Julia“ unlängst an eine Reihe von Bloggern:

Aus aktuellem Anlass suchen wir Blogger und Journalisten die Ihre Meinung zum Thema "Exorzismus", "Besessenheit", "katholische Kirche" niederschreiben und uns die Artikel zur Verfügung stellen. Falls Du Interesse daran haben solltest, lies Dir bitte das Informationsmaterial durch, oder/ und sende uns eine Email zu - Danke.

E-Mail vom 8. November 2005

Die beworbene Website www.exorzismus-info.de ist auf den ersten Blick interessant. Auf den ersten Blick, denn auf den zweiten fällt auf, dass die Artikel zum Teil aus Wikipedia, zum Teil aus anderen Quellen gekl... – Verzeihung: entnommen wurden, und zwar im Volltext und nicht nur ein Anreißer mit Link auf das Original.

Ebenso auffällig ist, dass genau zwei Exorzismen ausdrücklich genannt werden: Der von Anneliese Michel und der einer gewissen Emily Rose. Emily Rose ist keineswegs Annelieses amerikanisches Gegenstück. Vielmehr ist sie eine Figur aus dem Film „Der Exorzismus der Emily Rose“. Ein offenbar bemerkenswerter Film, denn er wurde bis zum 10. November 2005 im Wikipedia-Artikel zum Exorzismus direkt nach dem Klassiker „Der Exorzist“ erwähnt – obwohl er in Deutschland noch gar nicht angelaufen ist.

Überraschender US-Kinohit? Befragt man die Internet Movie Database, stellt man überrascht fest, dass die Wertung mit 6,7 von 10 möglichen Punkten gerade mal ein besseres Mittelfeld darstellt. Sicherlich bemerkenswert für einen Film ohne bekannte Namen in den Credits, aber normalerweise nichts, was in Wikipedia thematisiert wird.

Cinema bestätigt diese gute, aber nicht überragende Einstufung durch wenige Sterne:

Sie finden die Kampagne makaber? Guerilla-Marketing ist gerade dafür bekannt, Grenzen zu überschreiten (VW Polo, nichts für Selbstmord-Bomber). So stellte sich den Werbern die Frage gar nicht, ob ein Link von der eigenen gefakten Site auf eine Pro-Exorzismus-Website dem Film vielleicht sogar schaden könnte. Noch viel schädlicher kann sich nämlich die Reaktion der Netzbewohner auswirken, die sich nur sehr ungern als kostenlose Werbeträger missbrauchen lassen.

Es gibt immer wieder Versuche, Reklame in Wikipedia-Artikeln zu platzieren. Meistens merkt die Wikipedia-Community sowas schnell und entfernt die entsprechenden Passagen umgehend aus dem Artikel. Wenn es zu bunt wird, kann der Artikel von den Administratoren auch für eine Weile gesperrt werden.

Arne Klempert, Pressesprecher von Wikimedia

Auch der Exorzismus-Artikel wurde kurz nach unserer Anfrage von allen Verweisen auf Emily Rose bereinigt. Wikimedia mahnte zudem die mit unzureichenden Quellenangaben versehenen Textkopien ab – sie wurden am 11. November durch Artikel aus dem Brockhaus ersetzt.

Catholicism Wow – Deutscher Hardcore Katholizismus

Doch nicht nur potentielle Urheberrechtsverstöße muss die Kampagne sich vorwerfen lassen. §13 des Mediendienste-Staatsvertrags schreibt vor, dass Werbung im Internet klar als solche erkennbar sein muss und unterschwellige Techniken verboten sind. Die Emily-Rose-Kampagne ist bei der heutigen Abmahnpraxis ziemlich leichtsinnig, denn die Mitbewerber der verantwortlichen Produktionsfirma Sony Pictures hätten schon wegen der Spam-Mails reichlich Munition. Dabei hat Sony doch im Moment wirklich genügend Probleme (“Wie kein anderer?“).

Doch rechtlich wird wohl niemand gegen die Kampagne vorgehen müssen. Schon ein einziger der angespammten Top-100-Blogger wie Sebas genügt, um über seine Leser und Trackbacks in anderen Blogs die Kunde von der durchschaubaren Guerilla-Kampagne zu verbreiten.

PlasticThinking: Moe's Blog. Leben und Lernen auf dem Web.

Da haben wohl wieder Menschen das Internet entdeckt und versuchen jetzt, der Community zu erklären, wie es funktioniert. Die meisten unterschätzen dabei die Eigendynamik des Netzes.

Arne Klempert, Pressesprecher von Wikimedia