"Medienwissenschaft ist eine sichtbar machende Wissenschaft"

Ein Gespräch mit dem Medien- und Literaturwissenschaftler Bernhard Dotzler über die Dynamik des Faches, seine Probleme und den Hype, der mit ihrem Modischwerden entstanden ist

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Seit Beginn des Wintersemesters kann man auch in Regensburg „Medienwissenschaften“ (MW) studieren. Von den Studenten ist es regelrecht „überrannt“ worden. Sage und schreibe 380 Studenten haben sich für das erste Semester eingeschrieben. Was erwartet die Studentinnen und Studenten, wenn sie bei dir studieren?

Bernhard Dotzler: Wenn in Erfüllung geht, was ich mir wünsche und worum ich mich jedenfalls bemühen werde, erwartet die Studierenden eine anspruchsvolle akademische Grundausbildung in Medientheorie und Mediengeschichte. Es geht darum, auf der ersten, zum Abschluss des B.A. führenden Stufe sowohl ein einigermaßen breites, die Vielfalt medialer Realitäten seit der Entstehung der Schrift durchmessendes Wissen als auch die Fähigkeit zu erlangen, der Spezifik medialer bzw. medialisierter Prozesse auf den Grund zu gehen.

Der Gegenstand der Medienwissenschaft sind ja nicht nur Hörspiele, Fernsehserien, Kinofilme, Videokunst und das Internet, sondern auch der Bolide, die Raumfahrt, die Technologie der Messinstrumente, das Unheimliche, die Sprachen und die Sprachlosigkeiten der Liebe (frei nach Barthes), das Gehirn, Klees „Zwitscher-Maschine“ usw.

Bernhard Dotzler. Bild: R. Maresch

Offiziell wird das Fach zwar der „Sprach- und Literaturwissenschaft“ zugeordnet, bleibt in realiter aber eng mit den Fächern „Informationswissenschaft“, „Medieninformatik“ und dem ehemaligen Lehrstuhl für Volkskunde liiert, das neuerdings „Vergleichende Kulturwissenschaft“ heißt. Wie stellst du dir als ausgebildeter Germanist und Literaturwissenschaftler da die Zusammenarbeit vor?

Bernhard Dotzler: Als studierter Philologe bin ich zunächst einmal froh, das Fach Medienwissenschaft im Rahmen der „Philosophischen Fakultät IV: Sprach- und Literaturwissenschaften“ vertreten zu dürfen. Ich würde nicht sagen, da gehört das Fach unbedingt und ausschließlich hin, aber es gibt die spezifische Kompetenz einer philologischen Neugierde und eines philologischen Sinns für die Äußerlichkeiten oder „Materialitäten der Kommunikation“, die mir für die Medienwissenschaft günstig, um nicht doch unabdingbar zu sagen, erscheinen.

Die spezielle Zusammenarbeit am „Institut für Medien-, Informations- und Kulturwissenschaft“ wird im weitesten und im engsten Sinne möglich sein. Medienwissenschaft, wie ich sie vorhin skizziert habe, ist ein so weites Feld (nach Fontane, nicht Grass), dass sie gar nicht anders kann, als sich kulturwissenschaftlich zu definieren, und da ist die direkte Zusammenarbeit mit dem Fach Kulturwissenschaft höchst willkommen. Zugleich ist die Basistechnologie aller im vorhin genannten Sinn medialisierten Verhältnisse die Computertechnologie, weshalb die Kooperation mit der Informationswissenschaft und Medieninformatik eine sehr enge sein sollte.

Beide Disziplinen tendieren freilich zu einem eher abstrahierend-formalen Blick, wo die Medienwissenschaft immer die Aufgabe hat, die konkret-materiale Seite in den Blick zu rücken. Aber das erlaubt eben ein schönes, komplementäres Zusammenspiel. Als dritte im Bunde zwischen Informationswissenschaft und Kulturwissenschaft – also zwischen grundlagenorientierter Theoriebildung einerseits und kulturempirischer Expertise andererseits – könnte sich die Medienwissenschaft hier sehr gut als Allgemeine und Vergleichende Medienwissenschaft entwickeln.

In Basel hat man das Fach beispielsweise in fünf Module untergliedert, in „Geschichte und Theorie der Medien“, in „Mediensoziologie“ und „Methodik“ sowie in „Medientechnologie“ und „Medienpraxis“. Worauf wird in Regensburg der Schwerpunkt liegen?

Bernhard Dotzler: Bei uns gehört schon zu den so genannten Basismodulen eine Einführung in die Informationswissenschaft: Die ist für die Ausrichtung der Medienwissenschaft hier in Regensburg unersetzlich. Die weiteren Basismodule sind die genannten Bereiche der Mediengeschichte und der Medientheorie. Aufbaumodule sind dann die „Medienkulturwissenschaft“ und die „Theorie und Geschichte digitaler Medien“ – womit wir wieder bei der Akzentsetzung auf die gegenwärtige Informationstechnologie wären. Da die Grundausbildung im B.A.-Studiengang jedoch ein möglichst breites Spektrum abdecken soll, können sich die Studierenden an der Universität Regensburg außerdem noch ein Ergänzungsmodul wie „Medienpädagogik“ oder „Medienrecht“ aussuchen. Für den Master-Studiengang, der in Vorbereitung ist, denke ich eher wieder an eine Vertiefung in Richtung Kulturgeschichte der Information, Medien- und Wissenskultur.

Experimentierfeld oder Normal Science?

Inzwischen ist die MW von einer randständigen zu einer Mainstream-Wissenschaft mutiert. Es mehren sich nicht nur die Kompendien zum Fach. Auch die Lehrstühle, die sich so nennen, häufen sich. Mittlerweile ist eingetreten, was Thomas S. Kuhn Mitte der 1960er als den „Weg zur normalen Wissenschaft“ beschrieben hat. Trotzdem hast du dem Fach jüngst eine „anhaltende Virulenz“ bescheinigt. Was macht dich da so mutig?

Bernhard Dotzler: Der Erfolg der Medienwissenschaft, wenn man's denn so nennen will, basiert, glaube ich, ganz banal auf einem veränderten Medienkonsum. Man empfindet heute das Fernsehen, den Computer und das Internet als so selbstverständlich-alltägliche wie zugleich kulturrelevante Medien wie früher nur Bücher und die besseren Tages- und Wochenzeitungen. Früher glaubte jeder, der gerne las, Literaturwissenschaft studieren zu können, manche sogar zu müssen (am einfachsten Germanistik, hierzulande, denn die deutsche Sprache meinen immer alle schon zu beherrschen – so das Klischee, das aber leider in punkto Sprachbeherrschung falsch, in punkto Motivation nicht ganz falsch ist). Heute gilt Vergleichbares für die anderen Medien und daher die Medienwissenschaft – das ist die eine, die schlechte Seite.

Die gute Seite hat damit zu tun, dass ich deine Beschreibung der aktuellen Situation nicht ganz teile. Die vielen Kompendien, die in der Tat ins Kraut schießen, verdecken nur, dass es kein einheitliches Paradigma gibt, nach dem die Medienwissenschaft als ‚normal science’ betrieben werden könnte. Stattdessen wird noch viel herumlaboriert, und ungeachtet des Spotts und der Kritik, die das herausfordert, ist das sehr gut so. Wie ich es sehe, ist die Medienwissenschaft ein intellektuelles Experimentierfeld und wird das hoffentlich noch eine ganze Weile bleiben, auch wenn mit dem Verlust der Randständigkeit natürlich der Druck wächst, nicht nur ‚hoffähig’, sondern auch ‚schulfähig’ zu werden.

Dass die Disziplin bislang eher undiszipliniert und manchmal vielleicht auch etwas flatterhaft voranschreitet, wird dabei gerne auf den raschen Wandel zurückgeführt, der die Entwicklungen in der Medienindustrie kennzeichnet. Darüber wäre zu streiten: ob hier wirklich so viel Dynamik herrscht, oder ob sie nicht bloß der Schein ist, den CEBIT und IFA alljährlich zu erwecken versuchen. Wichtiger ist aber etwas anderes. Der wahre Grund für die anhaltende Virulenz der Medienwissenschaft scheint mir darin zu liegen, dass sich mit den Medien das Wissen als solches verändert. Medien transportieren nicht nur Wissen, sondern verkörpern und prozessieren Wissen. Darin – und nicht nur in der Publikumsgunst – konkurrieren sie untereinander. Und darin eben eignet ihnen eine Virulenz sui generis.

Im Zuge ihres Modischwerdens ist eine Fülle von Einzelstudien entstanden, die kaum noch zu überblicken, geschweige denn einzuordnen sind. Droht angesichts dieser „Zerfledderung“ des Faches nicht doch eine gewisse Gefahr, dass der Gesamtüberblick, noch ehe er überhaupt entwickelt werden kann, verloren geht?

Bernhard Dotzler: Ja, vielleicht – da ich jedenfalls nicht beanspruchen will, einen solchen Gesamtüberblick zu haben, gibt es schon auch ein Grundgefühl, eigentlich verzweifeln zu müssen, weil man stets zu wenig weiß, einen Neid auf alle die, die sich auskennen. Mit dem entsprechenden Überblick wäre es auch viel leichter, die Dinge oder Aspekte zu ignorieren, die einen nicht interessieren. Man wüsste, wo sie ihren Platz haben und was man ausblendet, wenn man sie ausblendet. Das wäre aber vielleicht auch schon der Haupt-, um nicht zu sagen der einzige Vorteil: diese Lizenz zum Nichtwissen. Wenn das das Ziel ist …

Ursprünglich hatte das Fach ja einmal einen ganz anderen Background, nämlich den der Publizistik und der Kommunikationsforschung. Seit Friedrich Kittlers bahnbrechenden Arbeiten Mitte der 1980er wandern aber immer mehr (oder fast nur noch) Literatur- und Geisteswissenschaftler auf diese Lehrstühle. Was heißt das für das Fach? Was machen oder können Literatur- oder Geisteswissenschaftler besser als Soziologen, Meinungsforscher oder Kommunikationswissenschaftler?

Bernhard Dotzler: Ich bin mir nicht sicher, ob das so zutrifft, ich glaube eigentlich nicht. Zum einen, wenn ich mir etwa die Neuberufungen in Köln und Potsdam ansehe: Lutz Ellrich in Köln kommt von der Philosophie und Soziologie her; Dieter Mersch in Potsdam ist von Hause aus Philosoph und Mathematiker. Zum anderen hat die geistes- oder gar literaturwissenschaftliche Fraktion doch ein wenig ältere Wurzeln. Um das zu sehen, genügt ein Blick in die älteren Nummern des Kursbuchs oder der Akzente, oder man denke an die in Siegen seit Helmut Kreuzer bestehende Tradition oder weiter zurück: Marshall McLuhan, Walter Benjamin – beides Philologen.

Hinzu kommt, dass die Medienwissenschaft nicht allein aus der Publizistik hervorgegangen ist, sondern ebenso aus der Theaterwissenschaft, was sich bis heute in der gängigen Institutionalisierung als „Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft“ niederschlägt. Davon unbenommen bleibt die Bedeutung Friedrich Kittlers, mit einer medienwissenschaftlichen Innovation der Literaturwissenschaft begonnen und diese als literaturwissenschaftliche Fundierung von Medienwissenschaft weitergeführt zu haben.

Die von dir apostrophierte Medienwissenschaft soziologischer Provenienz hat im Grunde – und das ist jetzt natürlich eine haltlose Verallgemeinerung – nie wirklich die Medien zum Gegenstand gemacht. Stattdessen: Macherinteressen hier, Nutzerbedürfnisse da. Und die Medien bloß im lateinischen Wortsinn als Mittel, wie eins zum andern kommt. Mit Luhmann hat sich das etwas geändert, aber vielleicht auch nur im Sinne einer wunderbare Aphorismen erzeugenden Ironisierung althergebrachter Gewissheiten.

Auch Luhmann und seine Schüler halten daran fest, dass die Medien als solche – ihre Technologie, ihre Eigenrealität – nicht interessieren, denn das wäre dann nicht mehr Soziologie. Insofern kann es eine genuine Medienwissenschaft nur antisoziologisch geben. Denn was, wenn nicht die Medien selber, sollte ihr vornehmster Gegenstand sein? Ihre eigene Logik, ihre Techno-Logie. Ihr Entstehen, ihre Transformationen, ihr Funktionieren, ihr Ort und ihre Effekte im ganzen Gefüge des Seins. Man hat für die Literatur gelernt, dass sie nicht bloß als Abbildung von Wirklichkeit (und sei’s im Modus ihrer Verleugnung oder Überschreitung), sondern als Teil der Wirklichkeit zählt. Und genau dies lässt sich von der Literatur- auf die Medientheorie übertragen.

Was hat man sich denn unter einer solchen „Eigenlogik“ oder „Techno-Logie“ der Medien vorzustellen? Was sind denn diese Spezifika, die nur den Medien (trotz all ihrer Unterschiedlichkeit) zukommen oder ihnen eigen sind?

Bernhard Dotzler: Es sind nicht „nur“ die Medien, das wollte ich nicht sagen. Foucault zum Beispiel hat ja zuletzt die „Technologien des Selbst“ untersucht. Auch geht es nicht darum, dass der Begriff der Techno-Logie die im Kollektivplural „die Medien“ unterstellte Einheit erfassen würde. Es geht im Gegenteil gerade um die Differenzen, die beispielsweise das Kino vom Fernsehen unterscheiden, obwohl in beiden Film läuft. Und was ist dann wiederum das Medium Film als solches?

Mit „Techno-Logie“ meine ich, dass an den Medien sowohl ihre Technik als auch ihre Vernetztheit – und hier gerade auch die Vernetztheit ihrer technischen Seite – mit teils spezifischen Wissensbereichen, teils allgemein dem kulturellen Wissen zählen. So habe ich in meinem Buch Papiermaschinen zu zeigen versucht, dass es, verkürzt gesagt, falsch ist, die Rechenmaschine eines Leibniz als ersten Schritt auf dem Weg zum Computer hinzustellen. Da sind die rein technischen Unterschiede: Zahnradmechanik vs. Elektromechanik bzw. Elektronik. Aber die allein sind noch gar nicht das Wichtigste. Auch Leibniz' Erfindung oder Entdeckung oder jedenfalls Freude an den Binärzahlen nimmt keineswegs die gegenwärtige Herrschaft der Nullen und Einsen vorweg. Entgegen der gängigen Darstellung der Computergeschichte liegt eine tiefe Kluft zwischen Leibniz und den späteren Entwicklungen, die dann tatsächlich zum Computer führten.

Die Wissensform des Barock und der Aufklärung war durchdrungen von der Allmacht der Ordnung: Die in den Zahlensystemen selbst zu findende Ordnung besorgte die Automatik, die Leibniz in seiner Maschine förmlich nachzubauen versuchte. Dagegen verkörpern programmierbare Maschinen bekanntlich eine kybernetisch-algorithmische Wissensform. Beachtet man diese grundlegende Differenz, erkennt man, dass sich die Welt nicht nur und nicht erst durch den Computer enorm verändert hat, sondern dass sie sich schon enorm verändern haben musste, um eine Erfindung wie den Computer möglich werden zu lassen. Zumal in diesem Sinne, ist die Welt vor und nach dem Computer eine andere.

Diensthabende oder fordernde Fundamentaltheorie?

Für Jochen Hörisch nimmt MW eine „diensthabende Fundamentaltheorie“ für alle Wissenschaften wahr, weil sich „die Weltgesellschaft im Übergang zum dritten Jahrtausend als Mediengesellschaft erfährt, beobachtet und beschreibt“. Ist sie das auch für dich, oder sollte sie lieber auf einen solchen Mega-Anspruch verzichten?

Bernhard Dotzler: Eher sollte sie mehr wollen. Die Weltgesellschaft ist fraglos ein eminenter Gegenstand. Dennoch handelt es sich bei solchen Formulierungen vor allem um Legitimationsgerede, das auf Gratifikationen aus ist (Reputation, Drittmittel etc.). Die Medien – und somit ihre Wissenschaft – sind nicht nur deshalb wichtig, weil sich unsere Gesellschaft oder Gesellschaft überhaupt entsprechend wahrnimmt und beschreibt. Das tut Medienwissenschaft noch viel zu wenig (qualitativ gesehen, nicht quantitativ).

Vor allem aber geht es gar nicht so sehr um die Frage ihrer Selbstbeschreibung. Es geht um die Faktizität der anfänglich verschiedenen, heute bekanntlich im Computer konvergierenden Medientechnologien. Die vielen, um sie einmal so zu nennen, Relativitätstheorien des Faktischen, also dass alles Faktische doch immer schon Theorie ist, dessen – zugegeben – Beobachtungs- und Beschreibungsabhängigkeit, dessen Fiktivität, der wiederum korrespondiert, dass alle fiction ihrerseits fact ist: All dies darf man dabei freilich nicht ausblenden. Aber es bleibt doch die Tatsächlichkeit, um die es geht.

In einem berühmten Interview hat Heidegger einmal die Kybernetik als die Erbin der Philosophie hingestellt, und das, glaube ich, sollte man ernst nehmen. Medienwissenschaft hat dann zum einen die Aufgabe herauszufinden, was das historisch bedeutet. Was hieß in den 1960er Jahren Kybernetik? Wie kam es zu ihrem Ruf bis in die Provinz oder Waldheimat? Was ist seitdem aus ihr geworden? In welcher Weise haust sie noch oder zumal in der heutigen Multimediawelt?

Zum anderen gilt es zu erproben, wie sich eine Medienwissenschaft, die solchen Fragen nachgeht, denn also zur Philosophie verhält. Die Philosophie als akademische Disziplin, als Studienfach zu ersetzen, ist nun gewiss nicht die Idee. Genauso wenig ist es um ihre Ausweitung in Richtung der so genannten Medienphilosophie zu tun. Ziel ist eine Denkanstrengung, zu der man statt Philosophie auch Grundlagenforschung sagen könnte, das Bemühen nämlich zu erkennen, was ist.

Medienwissenschaft, wie sie mir vorschwebt, ist weder, um eine etwas angestaubte Dichotomie zu bemühen, eine erklärende noch eine verstehende, sondern eine sichtbar machende Wissenschaft. Also kann sie nicht wie die traditionelle Philosophie im strengen Sinne fragen, warum etwas ist und nicht vielmehr nichts. Aber sie kann aufzeigen, dass dieses und nicht jenes ist. Obwohl oder weil sie überwiegend gerade das offen Sichtbare sichtbar zu machen, zu entdecken hat – etwa wie in Poes Purloined Letter. Ihr Gegenstand ist daher weniger die Weltgesellschaft als vielmehr die Welt als solche, die sich verändernde historische Welt.

Das „Sichtbare sichtbar zu machen“, wie du sagst, hat aber so seine Tücken. Unlesbare Zahlenreihen, die zwischen vernetzten Computern zirkulieren, Schaltpläne, die hinter tiefgestaffelten Benutzeroberflächen verborgen bleiben, und Informationsströme, die dem unerlaubten Zugriff durch den untrusted user entzogen werden, operieren bekanntlich weit unter- bzw. oberhalb menschlicher Sinneswahrnehmung.

Bernhard Dotzler: Da sind der Beobachtung gewiss Grenzen gesetzt. Indes basiert schon der Film darauf, dass er das Auflösungsvermögen unserer Sinneswahrnehmung unterläuft, und doch kann man erkennen, wie er funktioniert. Wenn ich von Sichtbarkeit spreche, meine ich damit nicht notwendig den Augenschein, sondern jede Form von Intelligibilität. Auch wenn es paradox ist: Man wird lernen müssen, den Begriff der Beobachtung von dem der Rezeptivität bzw. Rezeption loszulösen.

Könnte es dann nicht passieren, dass die Medienwissenschaft zur „Gespensterwissenschaft“ wird, weil der Beobachter einer ständigen „Logik des Verdachts“ (Boris Groys) unterliegt und Opfer von Verschwörungstheorien wird. Braucht es dann nicht doch, um das „tatsächliche“ und nicht bloß fiktive oder mögliche (virtuelle) Tun und Wirken von Medien zu beschreiben und sich dabei in Mythenkunde oder bloßen Erzählungen zu verlieren, wie es möglicherweise gewesen sein könnte, der Ergänzung und Zuarbeitung durch Soziologie oder, wie ich meine, der Raum- und Geowissenschaften?

Bernhard Dotzler: Das kann passieren. Nicht anders als das klassische Kausalitätsdenken nicht durchgängig das Gegenteil magischen Denkens ist oder war, sondern – siehe Kants Kritik – seinerseits wie der Glaube an Magie funktionieren kann. Ähnlich kann die pynchoneske operative Paranoia natürlich in schlichte Paranoia umkippen.

Dennoch ist die Verdächtigung des Verdachts, also die Unterstellung, dass die Strategie des Verdachts – als das Interesse herauszufinden, welche unsichtbaren Vorgänge die sichtbaren lenken – von der Qualität von Verschwörungstheorien sei, nichts als üble Nachrede. Die Frage ist, welche Instantiierung man erwartet. Luhmanns Abschiedsvorlesung endet, wie du weißt, mit der vorhersehbaren Pointe: „Und was steckt dahinter? Gar nichts!“ Aber das heißt ja nur, dass die Soziologie hier eben nicht weiter hilft. Weder die von Luhmann ironisierte noch die Luhmannsche selbst, die es bei dieser Art Ironie belässt. Und die Raum- und Geowissenschaften bringen erst einmal auch nichts, indem umgekehrt diese der Zuarbeitung durch die Medienwissenschaft bedürften, um die Möglichkeiten und Grenzen der Raumnahme etc. neu zu bestimmen. Aber dahingehend wäre eine gegenseitige Ergänzung wohl denkbar.

Geschichte oder Theorie?

Warum ist es dem Fach, trotz massiver Forderung und Förderung, noch nicht einmal im Ansatz gelungen, Konsens über das herzustellen, was denn überhaupt ein Medium ist? Wäre ein solcher einheitlichen Medienbegriff, auf den sich das Fach berufen kann, nicht auch nötig, um die Zuständigkeit und den Gegenstandsbereich von MW abzuklären und das babylonische Sprachen- und Stimmengewirr zu minimieren, das im Fach mittlerweile zu beobachten ist?

Bernhard Dotzler: Wie ich schon sagte (bloß mit anderen Worten): Es ist gerade das Tolle am Fach, dass es in dieser Weise toll ist. Doch deine Frage – vielleicht ein bisschen sehr solidarisch mit dem Steuerzahler – zielt auf den vermeintlichen Kern des Fachs, und da gibt es gleichzeitig keine und ganz viele Antworten. Nur ein paar, die mir direkt einfallen:

  1. Wie gesagt, gibt es zwar nicht das eine Paradigma, den einen Medienbegriff, aber ganz so unklar ist die Sache doch auch wieder nicht. Man streitet über Definitionen, und man kann im Randbereich variieren, den Mond, die Formel 1 und den existierenden oder nicht existierenden rapport sexuel einbeziehen. Niemand indes würde bestreiten, dass Photographie und Film, Telegraphie und Telephonie, Radio, Fernsehen und das Internet zum Gegenstandsbereich der Medienwissenschaft gehören.
  2. Die babylonische Verwirrung ist noch am ehesten das Symptom einer ‚normal science’. Herrscht sie etwa nicht auch in der Mathematik und in der Physik? Statt auf eine Berufungsinstanz, auf die man sich zurückziehen kann, sollte eine Wissenschaft, die sich ernst nimmt, darauf pochen, dass jeder Beitrag, jede Arbeit für sich selbst einsteht: die gestellten Fragen, das Vorgehen, die – sei es dogmatisch, sei es tentativ vorgetragenen – Antworten.
  3. Der Zustand der Verwirrung bietet den Vorteil, dass nicht der Einheitsbrei dominiert, sondern dass Korrespondenzen sich einstellen und (im Sinne der Chaostheorie) zu ‚seltsamen Attraktoren’ werden.
  4. Die Frage nach einer allgemeingültigen Definition von „Medium“, „Medien“ und „Medialität“ ist als heuristische Selbstverpflichtung des Fachs sinnvoll und wichtig, aber nicht mehr und nicht weniger. Frag' heute einen Biologen, was das Leben ist – : Die erfolgreichen Biotechnologen verstehen dich gar nicht erst, und jene Biologen, die die Frage verstehen, werden doch ebenfalls keine verbindliche Antwort liefern können, um dir statt dessen von der Sozialordnung der Hyänen, von der Photosynthese durch andere Substanzen als das Blattgrün oder von den Mitochondrien zu erzählen.

Welchem Medienbegriff würdest du denn den Vorzug geben? Das Angebot, das derzeit auf dem Markt herrscht, ist, wenn ich mich nicht sehr täusche, doch sehr vielfältig und – auch widersprüchlich.

Bernhard Dotzler: Da ich kein „Handelsvertreter“ bin, werde ich dir jetzt nicht die Palette auffächern. Meine Vorliebe ist klar. Ich präferiere einen technologischen Begriff von Medium. Das heißt: Medium ist alles, was einen informationellen Bezug zwischen (mindestens) zwei Elementen stiftet.

Woher kommt eigentlich die Präferenz für historiographische Studien und die Abneigung gegen Theorie, die wir bei Medienwissenschaftlern feststellen? Warum ist es so schwer oder nicht möglich, die Geschichte der Medien in eine Theorie der Medien einmünden lassen?

Bernhard Dotzler: Ich sehe eigentlich keinen Mangel an Theoriebildung. Aber es trifft sicher zu, dass ein gewisser Gegensatz zwischen Medienhistorikern und Medientheoretikern besteht. Und bei mir rennst du offene Türen ein: Wenn ich mich zwischen Theorie und Geschichte entscheiden müsste, würde ich allemal die Geschichte wählen. Nur gibt es ja keinerlei historische Arbeit ohne theoretische Reflektion. Umgekehrt dagegen – und das ist das Paradox – wüsste ich keine überzeugende Theorie zu nennen, die durch Historiographie entstanden wäre.

Geschichte, sonst wäre sie keine, ist nicht theoriefähig. Andernfalls könnte man nicht nur die Zukunft vorhersagen, was schon einigermaßen langweilig wäre (und derzeit ein ernsthaftes Problem darstellt: man weiß schon immer die nächsten Segnungen der Gates'schen Road Ahead), sondern selbst die Vergangenheit böte keine Überraschungen mehr – und damit wäre die Langeweile noch durch Stupidität besiegelt.

Friedrich Kittler hat die Bezeichnung „Medientheoretiker“ für seine Person immer vehement von sich gewiesen. Liegt dieses Desinteresse, das viele zeigen, vielleicht auch einfach daran, dass Theorie ein äußerst mühsames Geschäft ist und, wie Luhmann das mal in einem Gespräch ausgedrückt hat, vielen einfach zu schwer ist?

Bernhard Dotzler: Noch so ein Bonmot vom Großaphoristiker. Aber ich glaube nicht, dass – scheinbar – keine Theorie zu haben, so viel einfacher ist. Dazu ist das Bedürfnis nach mentaler und das heißt eben immer schon: theoretischer Orientierung viel zu groß. Im Übrigen glaube ich nicht, dass Kittler die Etikettierung als Medientheoretiker aus Ablehnung jedweder Theorie von sich wies. Medienscheu zu sein, kann man ihm auch nicht nachsagen. Wie alle, die überhaupt in die Verlegenheit kommen, Etikettierungen abwehren zu müssen, will er halt am liebsten gar keins verpasst bekommen. Ahnenreihen wären ihm vielleicht lieber: Friedrich Hegel, Friedrich Nietzsche ...

Wild oder diszipliniert?

Ist das, was manche als Beweis für Lebendigkeit oder Zukunftsfähigkeit sehen, andere in Anlehnung an Lévi-Strauss oder Nietzsche als „wild“ „undiszipliniert“ oder „fröhlich“ nennen, nicht vielleicht auch Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit darüber, welchen Weg das Fach künftig einschlagen soll oder muss? Wie soll sich das Fach im Kanon der Wissenschaft verorten oder positionieren, wenn ihr Gegenstand unklar ist und sie sich mal für dieses (Film, Fernsehen, Theater), mal für Jenes (für Marketing, Trendanalyse, Management-Seminare) oder anderes (Geschichte, Technik, Philosophie) interessiert oder zuständig fühlt.

Bernhard Dotzler: In welchem Kanon bitte? Der Kanon der Wissenschaft? Den gibt es doch seit Diderots und oder d'Alemberts Encyclopédie-Entwurf nicht mehr. Auswüchse wie Management-Seminare sind sicher ärgerlich, aber solange die Universität sich nicht ganz vergisst (die Gefahr freilich besteht zunehmend), sind die Angebote und Interessen hinreichend unterschieden. Allenfalls eine schlecht beratene Politik will, dass das universitäre Kursangebot und die Wochenendvergnügungen von Supervisern – und dazu am besten noch der Brennpunkt gewitzte Fernsehtalk – sich zum Verwechseln ähneln (ähnlicher als „lechts“ und „rinks“).

Im Übrigen klingt deine Frage ein wenig nach dem Beliebigkeitsvorwurf, der gegenüber wie in fast allen ehemals so genannten Geisteswissenschaften schon zum ceterum censeo geworden ist. Doch so beliebig laufen die Dinge gar nicht. Die Perspektiven und Gegenstände können mancherlei sein. Aber zum Beispiel die Geschichte des Buchdrucks kann man nicht einmal mehr in Mainz ohne Bezug zum Ende der Gutenberg-Galaxis durch elektronische Medien behandeln. So gibt es vielleicht nicht (das hoffe ich jedenfalls) den Weg, der dem Fach vorgezeichnet wäre. Aber es gibt – negativ: Trends und Sonderforschungsbereiche; positiv: Dringlichkeiten, die mehr oder weniger zwingen, bestimmte Fragestellungen aufzugreifen.

Kann es sich die MW auf Dauer leisten, im Plural, also als Medienwissenschaften in und mit unterschiedlichen Konzeptionen vorzukommen, wenn sie als „Wissenschaft“ ernst genommen werden und dort einen festen Platz einnehmen will?

Bernhard Dotzler: Noch einmal, einen Kanon und damit einen festen Platz gibt es nicht, und den Plural lehne ich ab. Nicht, weil ich diesen oder jenen Ansatz für die eine und einzige Medienwissenschaft hielte, sondern weil er sprachlich unsinnig ist. Alle Arten, sich wissenschaftlich mit Medien zu befassen, betreiben Wissenschaft von den Medien, so wie man zu all seinen Freunden und Feinden Freundschaft und Feindschaft empfindet.

In der gängigen Rede von Freundschaften wird schon die Vielfalt der Beziehungsarten und der Beziehungsobjekte mit dem Sachverhalt der Beziehung selbst verwechselt. Auf akademischem Gebiet hat man sich vielleicht im Gefolge der Rede von den Biowissenschaften an den Plural gewohnt. Von Medizinen oder Physiken zu reden, ist unüblich, obwohl es nicht falscher wäre (jedenfalls nicht so falsch wie „falsch“ im Komparativ).

Mit „Kanon“ meinte ich jetzt nicht den „Himmel der Ideen“, sondern eher den rauen „Boden des Marktes“, also da, wo um Zuweisungen, Befugnisse und Zuständigkeiten heftig gerungen und gestritten werden. Wer sich da nicht einigermaßen verorten und positionieren kann, siehe aktuell: die Soziologie, die Philosophie oder „die“ Geisteswissenschaften insgesamt, wird im Kampf um Gelder und Stellenzuweisungen, aber auch um Ruhm und Anerkennung auf den hinteren Plätzen landen.

Bernhard Dotzler: Na und? Man kann sich diesem Kampf zwar nicht entziehen, aber man sollte sich durch ihn auch nicht korrumpieren lassen. Zumal das Positionierungsgehabe nur zu den flüchtigsten Erfolgen führt. Böse Zungen behaupten sogar, wissenschaftlich unfruchtbar gewordene Fragen erkenne man am besten daran, dass ihnen ein Sonderforschungsbereich (im universitären Betrieb ein ziemlicher Erfolg) eingerichtet wird.

Aus wissenschaftlicher Sicht müsste stets das Motto gelten: to the happy few. Ob es dann zu einer intensiven Förderung dieser Wissenschaft oder eher zu deren Vernachlässigung in institutioneller Hinsicht kommt, sollte klarer als Sache politischer Willensbildung und nicht unter dem Schein des Bedarfs oder der Unverzichtbarkeit oder irgendwelcher Sachzwänge – meist negativ vorgeschoben: man will ja, aber man hat einfach nicht das Geld – behandelt werden.

Die Medienwissenschaft klärt über die Entstehung, die Strukturen und die Effekte technischer Medien auf. Das muss man wollen oder nicht wollen. Allein, dass ‚die Medien’ unaufhaltsam expandieren, zwingt uns noch lange nicht zu solcher Aufklärung.

Ontologie oder Sinn

Obwohl eine starke Präferenz für konstruktivistische Lösungen erkennbar ist, scheint nach wie vor ungeklärt, welchen wissenschaftlichen Status MW einnehmen soll oder einzunehmen hat. Trifft sie Aussagen, wie die Dinge sich verhalten (Ontologie), oder soll sie dem kulturalistischen Trend hin zu Relativismus und perspektivischem Beobachter folgen? Was ist deine Haltung dazu?

Bernhard Dotzler: Nach dem, was ich bereits sagte, ist meine Antwort wohl klar: Es geht um Ontologie, also in der Tat darum festzustellen, was wirklich (los) ist. Nur kann man gerade deshalb nicht zu einem naiven Tatsachenglauben zurückkehren. Falsche Ontologisierungen sind seit Kant ebenso passé, wie man seit Nietzsche wissen kann, dass Perspektivismus und die wirkliche Welt keine Gegensätze, sondern die zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Die sich verändernde wirkliche Welt bedingt sich verändernder Perspektiven, gerade darin ist sie ja die wirkliche Welt. Und die verschiedenen Perspektiven bringen Realität hervor, sind Realität, treffen Realität. Insofern ist der Beobachter in jedem Fall eine Zentralfigur.

Der Trugschluss des so genannten „Radikalen Konstruktivismus“ besteht nur darin, den Beobachter für den Souverän seiner Beobachtungen zu halten. Er tut gerade so, als stünde es im Belieben der beobachtenden Instanz, welche Unterscheidungen er trifft. Aber freilich, er will hier nicht anders, und diese – so gesehen – Willensstärke finde ich theoretisch wie ethisch durchaus beachtenswert und achtenswert.

Ist Foucaults „Diskursarchäologie“ für ontologische Aussagen tatsächlich ein geeigneter Partner? Auch wenn man den Diskurs materialisiert und ihn, wie du, als Technologie behandelt oder beobachtet, operiert man dabei letztlich doch immer im Medium des „Sinns“. Müsste man die Medienwissenschaft nicht noch mehr „vererden“, sie stärker an Machtinteressen und Raumnahmen ankoppeln? Zumal damit auch eine Anbindung an ältere Forschungen, beispielsweise an die massenmedialen von Walter Lippmann, die Betrugstheorie der Kritischen Theoretiker oder die Großraumpolitik der Schmittianer möglich würde?

Bernhard Dotzler: Das hängt davon ab, was man will. Mich interessiert vorab die Wissenschaftsgeschichte oder allgemeiner die Wissensgeschichte der Medien – den Genitiv verstanden in beiderlei Sinn. Da ist dann Foucault durchaus der beste Ausgangspunkt.

Aber kommen wir noch einmal zu den Raum- und Geowissenschaften. Innis hat hier eine gute Basis geschaffen. Über den Zusammenhang zwischen Nationalstaatenbildung und Drucktechnologie wie auch über Kolonialpolitik und Telegraphenkabel ist einiges geforscht. Die aktuelle Schwierigkeit besteht darin, dass der Raum nicht mehr der des klassischen Begriffs der Raumnahme ist. Medien wie das Satellitenfernsehen und das Internet haben den Raum nicht nur im üblichen Sinn seiner Schrumpfung verändert, sondern auch dahingehend, dass sie sich nicht mehr an Grenzen halten. Der Riss zwischen den 'information rich' und den 'information poor' lässt sich nicht einmal mehr umstandslos auf die Nord- und die Südhalbkugel des Globus projizieren.

Informationelle ‚schwarze Löcher’, wie Manuel Castells sie genannt hat, gibt es genauso in den Armengebieten der reichen Welt, und vor allem: Sie sind nicht statisch, sondern wandern und verändern sich. Natürlich geht es schon immer auch noch ein wenig um Territorien, sofern diese Bodenschätze und Ressourcen wie Öl haben oder von potentiell explosiven Bevölkerungsmassen besiedelt sind. Hier werden dann Waffentechnologien zum Gegenstand von Medienwissenschaft. Darüber hinaus müsste man aber einen Begriff der Raumnahme für flexible Topographien entwickeln. Vielleicht auch einen Begriff der Raumnahme bezogen auf die innere Topographie von Computernetzwerken – die Matrix sozusagen. All das hat mich bislang nicht sehr beschäftigt, aber ich gebe sofort zu, dass das ein Versäumnis ist.

Zweckfreie Forschung oder Arbeitmarkt bedienen

Du hast vorhin die Medien als Wissenstransformatoren bezeichnet, die Wissen zugleich verkörpern und prozessieren. Wie wird sich deiner Ansicht nach die Aufnahme, Verarbeitung und Weitergabe von Wissen in den nächsten Jahren verändern und welche Rolle wird dabei der Mensch noch spielen?

A>: Da wird man leider schnell kulturkonservativ. Im Moment sind vor allem Auflösungserscheinungen zu beobachten. Informationsbeschaffung tritt in den Vordergrund und verdrängt die Fähigkeit, Zusammenhänge zu begreifen. Der Mensch wird nur noch Endabnehmer von Mobiltelefon-Orientierungsinformationen sein – undsoweiter undsofort. All das wissen wir längst, und es braucht hier keine weiteren tollen Prognosen, meine schon gar nicht. Eine noch offene Frage ist, wie es um das kulturelle Gedächtnis steht, das sich unter Bedingungen des WorldWideWeb herausbildet. Ist das Internet eher ein vergessliches Medium oder ein Medium, das nie etwas vergisst? Aber mit und ohne diese spezielle Frage, wichtig scheint mir weniger ein nach vorne gerichteter Weitblick als vielmehr der Rückblick, und je weiter, je besser.

In gewisser Weise erinnert mich die Eile, mit der in den letzten Jahren an fast allen Hochschulen Lehrstühle für MW eingerichtet worden sind, an jenen Hype, der nach dem Sputnik-Schock um die Bildung und die Sozialwissenschaften entstanden ist. Quasi über Nacht wurden damals Diplomstudiengänge für Soziologen, Pädagogen und Psychologen aus den Boden gestampft, ohne dass die Reformer genau wussten, was die Studierenden hinterher mit dem darin erworbenen Wissen auf dem Arbeitsmarkt anfangen sollten. Die Folgen dieser „Psychologisierung“ und „Pädagogisierung“ kann man heute in den sozialen Systemen, in der Bildung, in den Medien oder in der Politik beobachten.

Daher meine Schlussfrage: Was können die Studentinnen und Studenten der MW nach ihrem Studium damit anfangen? Gibt es diesen Arbeitsmarkt, für den sie ausbildet sind, die Abnehmer dafür überhaupt? Oder wird es den angehenden Medienwissenschaftlern wie jenen Sozialwissenschaftlern damals ergehen, die sich Arbeitsmarkt und Arbeitsfelder erst selbst noch „schaffen“ müssen?

Bernhard Dotzler: Also zunächst: Der Sputnik-Schock hatte auch noch andere, lustigere Folgen wie z. B. die „Fantastic Four“. Die erste Episode dieser Comic-Serie erzählt, wie die Vier zu ihren über- oder transmenschlichen Eigenschaften kamen. Sie machten nämlich einen etwas übereilten Weltraumflug auf eigenes Risiko. Und warum? Weil, wie eine der Figuren – rhetorisch – fragt: „Sollen die Russen die ersten sein?“ – Doch wie auch immer: Hoffen wir, dass der ‚Hype’ um die Medienwissenschaften (hier scheint mir der Plural angebracht) bessere Folgen hat als die Psycho- und Soziologisierung – obgleich leider einiges dafür spricht, dass das ein frommer Wunsch bleibt.

Auch wenn ich spontan jetzt nicht zu sagen wüsste, welcher Schock konkret der Auslöser gewesen sein soll, ist ja wieder ‚die Bildung’ eines der Hauptargumente, Stichwort: Medienkompetenz. Also hier lauern wohl tatsächlich die Gefahren einer bloßen Inflationierung des Fachs, bei allen positiven Gründen für seine Extensivierung.

Etwas anderes ist dagegen die Frage nach dem Arbeitsmarkt. Was wäre schlecht daran, wenn sich die Absolventen medienwissenschaftlicher Studiengänge ihn erst zu erfinden hätten? Es wäre, im Gegenteil, nur wünschenswert. Denn darin liegt zum einen die Chance, nicht einfach mit vorgefertigten Nischen vorlieb nehmen, d. h. falsche Erwartungen bedienen zu müssen; und zum anderen ist es schon eine falsche Erwartung, wenn man von geistes- oder kulturwissenschaftlichen Fächern eine direkte Berufsausbildung verlangt.

Es gibt da im letzten Buch des letzten Philosophen eine wunderbare Anekdote, die mich auf den Sputnik-Schock zurückbringt. Dieser, erzählt Blumenberg, habe an seiner einstigen Alma mater einen rührigen Wissenschaftsadministrator zu Rundschreiben veranlasst, die dazu aufforderten, den Forschungsrückstand mit allen Mitteln aufzuholen, und das hieß damals schon: so viele Drittmittel einzuwerben wie möglich. Alle die Fächer, die mit teurem wissenschaftlichem Gerät ihren Aufwand treiben, hatten damit keine Probleme. Aber was sollte, in Blumenbergs Fall, ein Philosoph hier fordern und bieten? Blumenbergs Einfall war die Entwicklung eines Projekts, das er auf den Namen „Astronoetik“ taufte, und das die „Erforschung der Rückseite des Mondes durch reines Denken“ zum Ziel hatte.

So viel Ironie können sich natürlich nur die Exzellentesten der Exzellenten leisten. Aber an das zugrundeliegende Ethos einer zweckfreien, einfach nur klüger machenden Intellektualität zu erinnern, scheint mir doch gerade gegenwärtig wieder auf die wissenschaftspolitische Tagesordnung zu gehören. Nach meinem Begriff von Medienwissenschaft jedenfalls ist diese besser beraten, wenn sie sich einer solchen Intellektualität verpflichtet weiß, als wenn sie sich den Anschein gibt, irgendwelche Zukunftsarbeitsmärkte zu bedienen.

Seit Winter letzten Jahres hat Bernhard Dotzler, Jahrgang 1963, den neu geschaffenen „Lehrstuhl für Medienwissenschaft“ an der Universität Regensburg inne. Nach seinem Germanistikstudium in Freiburg und Bochum, u. a. auch bei Friedrich Kittler, war er Mitglied des ersten deutschen Graduierten-Kollegs an der Universität Siegen, das damals Hans Ulrich Gumbrecht dem damaligen Bundesminister für Wissenschaft und Bildung Jürgen Möllemann abgetrotzt hat. Vor seiner Berufung an die Regensburger Universität war Bernhard Dotzler Projektleiter im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medien und kulturelle Kommunikation der Universität zu Köln. (Teilprojekt: "Archäologie der Medientheorie") sowie Forschungsdirektor für Literatur- und Wissenschaftsgeschichte am Zentrum für Literaturforschung in Berlin. Während dieser Zeit hat er sich besonders für eine Anbindung der Literaturwissenschaft an die Kybernetik stark gemacht und in diesem Zusammenhang auch ältere Schriften, Texte und Aufsätze von Alan Turing (Intelligence Service), Charles Babbage (Rechen-Automate) und Norbert Wiener (Futurum Exactum) herausgegeben.