Zensur durch Springer

Kein Sex im "Tatort"? Regisseurs-Proteste gegen Kampagne der BILD-Zeitung

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Während die ARD einknickt, und sich ein weiteres Mal zeigt, dass von den einst hehren Idealen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland nur noch wenig übrig ist und das Programm sich zunehmend auf rein ökonomische Ziele ausrichtet, protestieren deutsche Regisseure gegen die Zensur einer "Tatort"-Folge am vergangenen Sonntag.

Derzeit versucht der Hamburger Springer-Verlag mit der Senderkette "Pro Sieben-Sat1" zwei der wichtigsten deutschen privaten Fernsehsender zu kaufen. Parallel nahm er dieser Tage auch auf eine der erfolgreichsten Sendungen der öffentlich-rechtlichen Sender direkten Einfluss: Opfer wurde die jüngste "Tatort"-Folge, die Produktion "Racheengel" des saarländischen Rundfunks.

Ausschnitt aus dem BILD-Artikel

Am vergangenen Samstag erschien unter der Überschrift Wie versaut darf ein 'Tatort' sein? ein Artikel in der BILD-Zeitung, der sich über eine Sex-Szene erregte, die am darauf folgenden Sonntag im "Tatort" gezeigt werden sollte. In einer BILD-typischen Mischung aus scheinheiligem Voyeurismus und aufgesetzter Entrüstung präsentierte das Boulevardblatt die von ihr beanstandeten Szenen ausführlich, mit farbigen Ausschnittsbildern - gewiss zu Informationszwecken für die interessierte Leserschaft.

Die Kampagne zeigte Wirkung: Auf Anweisung des auftraggebenden Saarländischen Rundfunks wurde die monierte Szene noch am Sonntag wenige Stunden vor Ausstrahlung herausgeschnitten. Am gestrigen Dienstag feierte BILD unter der Überschrift ARD zensiert Tatort den eigenen Erfolg - und bediente die Leserschaft aufs Neue mit den monierten Bildern.

Die beanstandeten Szenen zeigen für etwa 60 Sekunden Sex zwischen einem Vater und seiner Adoptivtochter. Die junge Frau leidet an einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung. Nach Ansicht des Regisseurs Robert Sigl wurde damit "ein wichtiger psychologischer Aspekt des Films ausgehebelt. Die Szene hatte keinen voyeuristischen Charakter und wurde erst durch die BLD-Zeitung aus dem inhaltlichen Zusammenhang gerissen und in einen pornographischen Kontext gerückt."

Offenbar hatten sich bayerische Landespolitiker an den gegenwärtigen ARD-Vorsitzenden Thomas Gruber gewandt - der passenderweise zugleich Intendant des Bayerischen Rundfunks ist und bereits vor Jahrzehnten selbst durch das Ausblenden der Kabarett-Sendung "Scheibenwischer" bundesrepublikanische Zensurgeschichte schrieb. Zuvor hatte der nun beanstandete "Tatort" wie üblich sämtliche Senderinstanzen durchlaufen, von der Jugendschutzbeauftragten bis hin zu der für das ARD-Gesamtprogramm zuständigen Jugendschutzkommission. Der Intendant des Saarländischen Rundfunks, Fritz Raff, hatte zuvor den letzten "Tatort" des eigenen Hauses mit Kommissar Max Palü in einer Kino-Preview gefeiert.

Ausschnitt aus dem BILD-Artikel, der noch einmal die "zensierten Bilder" anpreist

Am Sonntag kam dann offenbar aus München die Weisung, die Folge nachträglich zu entschärfen oder ihn sogar ganz abzusetzen. Auf Nachfrage teilte Regisseur Sigl mit, er habe, "vor diese Wahl gestellt", die Szene nochmals gering überarbeiten lassen. Am Abend habe er jedoch seinen Augen nicht getraut: Die aus seiner Sicht essentielle Szene seines Fernsehspiels, die für die Psychologie der handelnden Figuren von großer Bedeutung sei, wurde derart verstümmelt, dass der Regisseur die Gesamtwirkung seines Films beeinträchtigt sieht. Das österreichische Fernsehen (ORF) hatte ähnliche Moralprobleme offenbar nicht und strahlte am selben Abend den "Tatort" unzensiert aus.

Gegen den Eingriff protestiert nun der Bundesverband Regie (BVR). Es sei, so BVR-Geschäftsführer Steffen Schmidt-Hug, "zynisch genug, dass die Bild-Zeitung zur Steigerung der eigenen Auflage vor der Ausstrahlung Standbilder aus einem Film veröffentlicht, sich gleichzeitig aber auf heuchlerische Weise zur Moralhüterin der Nation" aufspiele. Geradezu ungeheuerlich sei es aber, dass BILD "offenbar die Macht besitzt, den Vorsitzenden der ARD aufzuscheuchen und dazu zu zwingen, einen Fernsehfilm zu zensieren." Nach Ansicht von Schmidt-Hug lasse dies "erahnen, was der Springer-Verlag unter den mit der Übernahme von ProSiebenSat1 propagierten 'Cross-Media-Effekten' versteht."

Tatsächlich stellt sich die Frage, falls Szenen, wie sie etwa in Ingmar-Bergman-Filmen zur Dramaturgie gehören, nach den von BILD propagierten, am amerikanischen Puritanismus orientierten Moralvorstellungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht mehr gezeigt werden dürfen, ob der Springer-Verlag gleich strenge Maßstäbe auch bei den eigenen Fernsehsendern anlegen wird - oder ob hier mit der Taktik der Skandalisierung nicht nur ein unliebsamer Konkurrent beschädigt werden soll.