Der Gipfel tagt in einem Schwarzen Loch des Internet

Ausgerechnet in Tunesien, wo von Informations- und Meinungsfreiheit keine Rede sein kann, tagt der Weltgipfel der Informationsgesellschaft

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Welche Idee auch, einen „Weltgipfel zur Informationsgesellschaft“ ausgerechnet in einem Land stattfinden zu lassen, in dem die Informations- und Meinungsfreiheit nicht einmal in Spurenelementen existieren. Vom 16. bis 18. November findet dieser Gipfel unter der Ägide der Vereinten Nationen in der tunesischen Hauptstadt Tunis statt. Doch zum ersten Mal wurden seit dem vergangenen Wochenende nicht nur einheimische Menschenrechtsaktivisten oder Oppositionelle wie die Journalistin Sihem Bensedrine oder die Anwältin Radhia Nasraoui, sondern auch ausländische Journalisten durch Schlägerbanden im Solde der tunesischen Staatsmacht körperlich attackiert. Heute wurde schließlich auch der Leiter von Reporter ohne Grenzen, Robert Menard, auf dem Flughafen in Tunis daran gehindert, das Land zu betreten, um am Weltgipfel teilzunehmen. Reporter ohne Grenzen haben Tunesien wegen derf Verfolgung von Oppositionellen, der Unterdrückung von Meinungsfreiheit und der Zensur als eines der weltweit 15 "Schwarzen Löcher des Internet" gebrandmarkt (Besuch unerwünscht).

Deshalb haben nun erstmals auch die Hauptstützen des tunesischen Regimes, die US-Administration und die französische Regierung, in den letzten Tagen offene Kritik geübt, auch wenn die Reaktion von Frankreichs Außenminister Philippe Douste-Blazy drei Tage auf sich warten ließ. Er ermahnte das Regime in Tunis am Dienstagabend, es sei „sehr wichtig, dass in Tunesien die Menschenrechte eingehalten werden“; Frankreich werde in dieser Hinsicht „sehr aufmerksam“ sein, auch wenn es „keine Vorwürfe gegen die tunesischen Behörden“ erheben wolle. Wie Douste-Blazy gleichzeitig erklärte, wird Paris aber weiterhin durch einen offiziellen Repräsentanten – den Staatssekretär für Industriepolitik, François Loos – auf dem Gipfel vertreten sein, der offiziell zur Bekämpfung der "digitalen Kluft“ zwischen ärmeren und reicheren Ländern beitragen soll und vom tunesischen Regime zu Prestigezwecken genutzt wird.

Am Samstagabend war der französische Journalist Christophe Boltanski in Tunis zusammenschlagen worden und durch einen Messerstich verletzt worden, der das Rückgrat des Opfers nur um einen Zentimeter verfehlte. In der französischen Presse beschreibt Boltanski den auf ihn gerichteten Überfall, der auf einer Straße unter starker polizeilicher Überwachung stattfand, so:

Es war (am Samstag) gegen 21.30 Uhr. Ich ging zu meinem Hotel zurück. Ich war 40 Meter vorher an einem Polizeiposten vorbei gegangen, da stürzten sich zwei Personen auf mich. Zwei weitere Männer kamen zum gleichen Zeitpunkt von hinten herbei gerannt. Einer hat mir Tränengas ins Gesicht gespritzt, während die anderen auf mich einprügelten.

In den französischen Medien glaubt niemand an eine andere Hypothese als an die, wonach es sich um Repressalien handelte, die durch die tunesische Staatsmacht angeordnet wurden. Wenige Stunden vorher war in der Wochenendausgabe der linksliberalen Pariser Wochenzeitung Libération, für deren Redaktion Boltanski von dem Gipfel in Tunis berichten sollte, ein Artikel aus seiner Feder über die Lage der Informationsfreiheit in dem autoritär regierten Mittelmeerstaat erschienen. Boltanski hatte sich mit den sieben Prominenten aus der tunesischen Zivilgesellschaft – vorwiegend Rechtsanwälte und Ärzte – getroffen, die bereits seit dem 18. Oktober im Hungerstreik sind und die internationale Aufmerksamkeit für den Gipfel nutzen wollen, um auf die politischen Häftlinge im Land und die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen.

Mokhtar Trifi, der Vorsitzender der tunesischen Menschenrechtsliga (LTDH), die den Hungerstreik unterstützt, und die Hochschullehrerin Sana Ben Achour, die Vorsitzende des Unterstützerkomitees, waren ihrerseits beide am 8. November durch Zivilpolizisten angegriffen und zusammen geschlagen worden. Die Attacke gegen sie erfolgte unmittelbar nach dem Ende einer kleinen Kundgebung für die Hungerstreikenden, die durch uniformierte Polizeikräfte gewaltsam aufgelöst worden war.

Wie am Montag bekannt wurde, ist mittlerweile auch noch ein Kamerateam des belgischen Sender RTBF körperlich attackiert worden. Am folgenden Tag rief der französische Fernsehsender TV5 sein Drehteam aus Tunesien zurück, nachdem dieses einer lückenlosen Kontrolle durch Zivilbeamte, die ihm auf den Fersen folgten, unterworfen worden war. Im Hinblick auf den Angriff gegen den Libération-Journalisten Christophe Boltanski hat das tunesische Regime mittlerweile ein Untersuchungsverfahren eingeleitet, das von Oppositionellen sogleich als Operettenschauspiel bezeichnet wurde, etwa durch die Hochschullehrerin Khadija Cherif gegenüber der Pariser Abendzeitung Le Monde. Der Pariser Außenminister Douste-Blazy forderte die tunesischen Behörden in seiner Reaktion vom Dienstag dazu auf, man möge ihn über den Fortgang des Ermittlungsverfahrens genau unterrichtet halten.

Informationsfreiheit? Unbekannt

Ein paar Blicke in die tunesische Presse – jene, die im Land selbst und nicht nur im europäischen Exil erscheinen kann - überzeugen davon: Kritik und freie Diskussion sind hier nicht auch nur in Ansätzen vorhanden. Das Foto von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali, der sich vom General und in den USA ausgebildeten Geheimdienstmann über den Posten als Innenminister in den 80er Jahren bis zum Staatschef hoch arbeitete, findet sich dutzendfach in den Zeitungen. Schlechtes über den Gorilla-Präsidenten zu schreiben, käme bei dieser Presse niemandem in den Sinn.

Selbst beim Internet gehört Tunesien zu den wenigen Ländern, deren Behörden das World Wide Web auf ihrem Staatsgebiet erfolgreich und auf effiziente Weise zensieren. Und das geht ganz einfach: Die Providergesellschaft gehört einer Tochter des Präsidenten. Ihre Untergebenen wachen sorgfältig darüber, auf welche Webseiten man sich von Tunesien aus einloggen kann. Zugang zu Webpages der tunesischen Opposition, die von Europa aus ins Netz geschaltet werden, würde man von Tunesien aus vergeblich suchen. Über spanische und niederländische Server konnten tunesische Emigranten in jüngster Zeit eine Kampagne „Yazi“ (Es reicht) in Gang bringen, bei der sich tunesische Staatsbürger – mit unkenntlichen Gesichtern und einem Schild mit der Aufschrift „Es reicht“ – fotografieren lassen und die Bilder ins Netz gestellt werden.

Die Staatsmacht schaffte es sogar, in den späten neunziger Jahren die Homepage der internationalen Menschenrechtsorganisation amnesty international zu zensieren: Auf sie konnte man von tunesischem Boden nicht gelangen, stattdessen geriet man auf eine eigens freigeschaltete Homepage von „amnesty Tunisia“, auf der man sinngemäß lesen konnte, dass in Menschenrechtsfragen im Lande nun wirklich alles in bester Ordnung sei. Auf der tatsächlichen Homepage der Menschenrechtsorganisation und in ihren Jahresberichten klingt das freilich alles ganz anders: Dort ist von hundert politischen Häflingen, Folter und Misshandlungen die Rede.

Wehe dem aber, der versuchen sollte, in den Tiefen des Internet andere Dinge als die erlaubten zu suchen: Übel wird es ihm bekommen. Im Januar und März 2003 wurden mehrere Jugendliche und junge Erwachsene aus dem tunesischen Zarzis verhaftet. Ihnen wurde von der Staatsmacht vorgeworfen, sich im Internet Informationen über „terroristische Aktivitäten“ beschafft und einen Anschlag mittels einer Bazooka auf einen Militärposten der tunesischen Küstenwache verabredet zu haben. Von der angeblich in ihrem Besitz befindlichen Bazooka fand sich jedoch keine Spur, ebenso wenig wie von den behaupteten Attentatsplänen.

Bei den jungen Leuten handelte es sich auch keineswegs um islamistische Aktivisten, sondern um ehemalige Teilnehmer an der Protestbewegung der Oberschüler im Jahr 2000, die aus diesem Grunde den Repräsentanten der Staatsmacht bereits ein Dorn im Auge gewesen waren. Durch unautorisiertes Surfen im Internet waren sie dann erneut „negativ aufgefallen“. Sechs der unliebsamen Internetbenutzer wurden, trotz vielfacher auch internationaler Proteste, am 6. Juli 2004 in einem fingierten Prozess zu 13 Jahren verurteilt: Hamza Mahroug, Ridha Belhajj Ibrahim, Abdelghaffar Guiza, Omar Rached, Aymen Mcharek und Omar Chlendi. Ungehinderte Informationssuche im Internet kann teuer zu stehen kommen.

Eine Polizeistaatsdiktatur im arabischen „Musterländle“

Naziba Rija vom Internetmagazin Kalima (Das Wort) vergleicht die Situation der Gesellschaft unter der tunesischen Diktatur mit der Situation „einer Person, die unter inneren Blutungen leidet. Man lehnt ihre Notaufnahme im Krankenhaus ab, weil nicht offen Blut fließt“, weil es nach außen hin nicht dramatisch genug aussieht.

Tatsächlich gilt Tunesien vielfach im Westen bzw. im Norden noch immer als eine Art „Musterländle“ im arabischen Raum. Das liegt vor allem an den engen wirtschaftlichen Verknüpfungen und der Rolle von 5 Millionen – vorwiegend europäischer - Touristen, darunter besonders viele Franzosen, Deutsche, Schweden und Tschechen, die jährlich ins Land kommen. In aller Regel bekommen sie vom wirklichen Leben der Tunesierinnen und Tunesier nichts mit, oftmals interessieren sie sich auch gar nicht dafür, sondern genießen das Land als sonniges Billigurlaubsparadies, indem man für umgerechnet 300 Euro - außerhalb der Saison mitunter weniger – eine volle Woche verbringen kann.

Besonders aus Sicht der Europäischen Union könnte Tunesien gerade geradezu als “Musterstaat” gelten. Hat das Land doch als erster unter den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers bereits am 17. Juli 1995, also noch ein halbes Jahr vor der Konferenz zur “euro-mediterranen Partnerschaft" in Barcelona, ein Freihandelsabkommen mit der EU abgeschlossen. Bis zum Jahr 2010 sollen dessen Bestimmungen volle Wirksamkeit erlangen.

Wahlen in Tunesien...

Auch in politischer Hinsicht wurde (und wird) Tunesien nördlich des Mittelmeers lange Zeit als Modellfall gehandelt. Zwar ging es nicht eben demokratisch zu unter der autoritären Herrschaft der Staatspartei - früher Néo-Destour (Neue Verfassungspartei), jetzt RCD (Demokratische verfassungsmäßige Sammlung) – die übrigens noch immer Mitgliedspartei der Sozialistischen Internationalen ist, des transnationalen Zusammenschlusses sozialdemokratischer Parteien, auch wenn es insbesondere französischen Sozialisten allmählich peinlich darüber zumute wird. Aber immerhin schien es sich um ein "modernes" Regime zu handeln. Doch sehen wir genauer hin.

Am 24. Oktober 2004 fanden die letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Tunesien statt. Dabei gewann, ohne jegliche Überraschung, der Amtsinhaber Ben Ali mit, laut offiziellen Zahlen, 94,48 Prozent der Stimmen. Man könnte dies freilich, sofern man will (wie im Pariser Elysée-Palast), als "demokratischen Fortschritt" betrachten. Denn die letzten Präsidentschaftswahlen von 1989, 1994 und 1999 gewann Ben Ali mit jeweils über 99 Prozent der Stimmen.

Andere demokratische Neuerung: Dieses Mal kandidierten noch drei andere Bewerber, die vom Verfassungsgericht zugelassen worden waren. Zwei von ihnen wurden durch Beobachter als "Blumentöpfe" bezeichnet, weil sie nur zur Dekoration da waren: Mohammed Bouchiha und Mounir Beji gehören zur erweiterten Verwandtschaft Ben Alis und verbrachten die meiste Zeit damit, die tolle Bilanz des Amtsinhabers zu loben; sie erhielten zusammen gut 4 Prozent.

Blieb der dritte. Es handelt sich um Mohammed Ali Halouani, den Vorsitzenden der Partei At-Tajdid (Die Erneuerung), einen gütig dreinblickenden Herrn mit weißem Schnurrbart, der nach offiziellen Zahlen 0,95 Prozent der Stimmen erhielt. Seine Partei ist der Überrest der früheren KP, der ein Jahrzehnt lang als offizielle Opposition von Ihro Präsidenten Gnaden überwinterte. Dafür gab es Subventionen vom Ben Ali-Regime; aber ihre "konstruktive Opposition" bedeutete, dass ihre Abgeordneten im Parlament gegen keine einzige Gesetzesvorlage der Staatspartei RCD stimmten. Kürzlich war die Partei ein wenig aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht und hatte beschlossen, unter dem Namen "Initiative démocratique" zusammen mit Vertretern von Zivilgesellschaft und Menschenrechtsgruppen zur Präsidentschaftswahl anzutreten. Leider missfielen jedoch einige Äußerungen Halouanis dem Regime von Präsident Ben Ali. So wurde ihm die Viertelstunde Fernsehauftritt, auf die er Aussicht hatte, gestrichen. Auch wurden seine Plakate nie ausgeliefert und sein Wahlprogramm wurde, auf Anordnung des Innenministers, in der Druckerei blockiert. Ein Flugblatt wurde beschlagnahmt.

Dabei müssen die Zahlen nicht einmal unbedingt auf materielle Manipulationen zurückzuführen sein: Die meisten Opponenten in Tunesien sind derart eingeschüchtert, dass viele Bürger glauben, noch in der Wahlkabine von Kameras beobachtet zu werden, selbst wenn das - den Wahlbeobachtern zuliebe - nicht stimmt. Die Wahlbeteiligung betrug offiziellen Angaben zufolge 91,52 Prozent, was eher in Zweifel zu ziehen ist als die Stimmenverteilung selbst.

Praktischerweise hatte das Regime auch gleich noch die Parlamentswahlen auf denselben Sonntag angesetzt. Vorab bekannt dabei war, dass die Staatspartei RCD - der zwei von insgesamt zehn Millionen Tunesiern angehören, oft aus Gründen des Joberhalts - sich, wie immer, 80 Prozent der Sitze sichern würde. Sie strich alle 152 (von 189) Sitzen ein, die offiziell "in freier Wahl" vergeben wurden. Der Rest wird von Amts wegen auf handzahme Oppositionsparteien aufgeteilt.

Eine Opposition, die nicht mitspielt, findet sich freilich woanders wieder. Tunesien weist, mit 23.000 Gefängnisinsassen, die weltweit vierthöchste Häftlingsrate gemessen an der Bevölkerungszahl auf, hinter den USA, Russland und Südafrika. Menschenrechtsorganisationen sprechen von 600 gewaltlosen "Meinungsgefangenen", mehrere Dutzend von ihnen sitzen seit Jahren in totaler Isolation. Mit 130.000 Beamten des Innenministeriums beschäftigt Tunesien mehr Polizisten als Frankreich, das sechsmal so viel Einwohner hat.

Aus westlicher Sicht eine "Musterdemokratie"?

Dennoch scheint Tunesien aus offizieller "westlicher" Sicht der Dinge geradezu ein Musterbeispiel für "Fortschritte auf dem Weg zur Demokratisierung" darzustellen: Die von den USA zum Jahreswechsel 2003/04 lancierte "Greater Middle East"-Initiative, die mittlerweile in "Middle East Partnership Initiative" (MEPI) umbenannt worden ist und die offiziell dem Anstoßen von politischen und marktwirtschaflichen "Reformen" im Nahen und Mittleren Osten dient, hat ihr Büro in Tunis installiert.

Freilich erklärte der stellvertretende Sprecher des US-State Department, Adam Ereli, nach der jüngsten tunesischen Präsidentschaftswahl-Maskerade kryptisch seine "Besorgnis" darüber, dass "Tunesien nicht sein gesamtes Potenzial (in Sachen politischer Partizipation) genutzt" habe. Aus dem Pariser Elysée-Palast kam dagegen, erwartungsgemäß, ein Glückwunschtelegramm für den Amtsinhaber Ben Ali. Denn in der französischen politischen Klasse hat das tunesische Regime, trotz zahlreicher Menschenrechtsverletzungen gerade in jüngerer Zeit, prominente Fürsprecher. Neben Präsident Jacques Chirac etwa auch den sozialdemokratischen Pariser Oberbürgermeister, Betrand Delanoë, der selbst während der französischen Protektoratszeit in Tunis geboren wurde.

Der ehemalige Militär und in den USA ausgebildete Nachrichtendienstler Ben Ali, der später zum Innenminister aufgestiegen war, hatte am 7. November 1987 die Macht ergriffen: Er ließ seinen offiziell auf Lebenszeit amtierenden Vorgänger Habib Bourguiba kurzerhand durch die Palastärzte für amtsunfähig erklären, und erfand so den so genannten "medizinischen Staatsstreich". Unter Bourguiba hatte eine Modernisierungselite, die sich aus der einheimischen Bourgeoisie rekrutierte, das Land immerhin noch, freilich auf autoritärem Wege, "entwickelt". Diese Phase der Modernisierung von oben brachte etwa den Frauen in Tunesien schon 1956 – noch vor der Verabschiedung der Verfassung – die gesetzliche Gleichberechtigung. Seit 1965 hatten sie das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, fast zehn Jahre vor ihren französischen Geschlechtsgenossinnen. Neben dem Modernisierungswillen der regierenden Elite waren diese einschneidenden Reformen damals freilich auch auf die Existenz einer kämpferischen Frauenbewegung zurückzuführen.

Heute dagegen stützt sich das Polizeistaats-Regime zu Legitimationszwecken zwar noch auf diese Errungenschaften, indem es sich darauf beruft, man müsse sie durch flächendeckende Repression gegen ihre potenzielle Bedrohung durch Islamisten verteidigen. Allerdings erstickt das Regime, während es in Lippenbekenntnissen regelmäßig "die Rechte der tunesischen Frau" zu seiner Rechtfertigung heranzieht, jede Lebensäußerung einer unabhängigen Frauenorganisation oder -bewegung im Keim - und auch sonst jeder Form von demokratischer Öffentlichkeit.

Von der einstigen Modernsierungsdiktatur unter Bourguiba ist nur noch eine halbmafiose Herrschaft zweier oder dreier großer Familienclans übrig geblieben, die sich auf die ungenierteste Weise um die materiellen Pfründe balgen.

Die Herrschaft der Familienclans

Da wäre die erweiterte Verwandtschaft von Ben Ali selbst, rund um seine zehn Brüder und Schwestern: Dieser Familienzweig ist vorwiegend im kriminellen Bereich tätig, etwa im Schmuggel- und illegalen Importgeschäft. Dagegen ist der Präsidentenbruder Moncef vor einigen Jahren in Frankreich mit seinem Drogenhändlerring, genannt "die Couscous-Connection", aufgeflogen; doch sein Sohn Sofiane ehelichte jüngst eine der Töchter des Chefs des tunesischen Unternehmerverbands Utica, Hedi Jilani.

Da wäre aber auch die für ihre besondere Gier bekannte Sippschaft seiner Frau in zweiter Ehe, Leila Trabelsi (eine ehemalige Friseuse, die Ben Ali in den 80er Jahren kennen lernte): Die Trabelsi hätten ursprünglich kein Geld, konnten sich aber seit der Vermählung des Präsidenten ein Vermögen auf Kredit aufbauen und kontrollieren etwa den einzigen privaten Radiosender im Land, die wichtigste Flug- und Hotelgesellschaft (Carthago), die Vermarktung von Computerprodukten und von Haushaltsgeräten... Und da wäre schließlich der Chiboub-Clan, angeführt von Slim Chiboub, dem Präsidenten des größten Fußballsclubs im Land und Ehemanns einer der Töchter Ben Alis aus erster Ehe. Die Chiboubs haben sich darauf spezialisiert, "Kommissionen" auf die durch die öffentliche Hand getätigten Geschäfte zu kassieren.

Und so bleiben "Politik" und Geschäft im offiziellen Tunesien heute vorwiegend eine Familienangelegenheit. Wer im Land beispielsweise im Internet surfen will, muss sich über die einzige Servergesellschaft einwählen - aber die gehört der Präsidententochter Cyrine, seinem jüngsten Spross aus erster Ehe. Jüngst ehelichte diese Präsidententochter den Sprössling einer alteingesessenen Familie der Großbourgeoisie, Marouane Mabrouk. Prompt konnten die Mabrouk sich vor kurzer Zeit die Konzession für den Vertrieb von Fiat- und von Mercedes-Fahrzeugen, der durch die Regierung soeben privatisiert wurde, unter den Nagel reißen. Eine andere, bisher öffentliche Vertriebsgesellschaft namens Ennakl, die in Tunesien die Autos von Audi und Volkswagen weiterverkauft, wurde ebenfalls privatisiert. Diese lukrative Konzession ging an den Sprössling einer Offiziersfamilie, Sofiane Matri, der vor kurzem eine 18jährige Tochter von Ben Ali und Leila Trabelsi heiratete.

Ein wirtschaftliches "Erfolgsmodell" am Mittelmeer?

Auch in Teilen der tunesischen Bourgeoisie und der Mittelschichten ballt man in kalter Wut die Faust in der Tasche über so viel hemmungslose Clanwirtschaft. Doch die anödende, repressive Stabilität des tunesischen Polizeistaats wurde bisher - neben der bleiernen Last der Repression - auch dadurch abgesichert, dass die ökonomische Situation der Tunesier im Durchschnitt gar nicht so schlecht erschien.

Zwar kennen vor allem die Randzonen Tunesiens im Süden und Westen eine deutliche Unterentwicklung. Doch gleichzeitig schien eine manifeste Massenarmut, wie viele Menschen in Algerien oder Ägypten sie durchleben, lange Zeit unbekannt. Nach offizieller (geschönter) Darstellung gehören 60 Prozent der Tunesier zu einer "breiten Mittelschicht", die als Träger politischer und sozialer Stabilität präsentiert wird. Die materielle Basis dafür lieferte vor allem das Wachstum der Textilindustrie, das insbesondere in den Jahren 1997 bis 2001 hohe Zuwachsraten kannte. Das jährliche Durchschnittseinkommen der Tunesier liegt derzeit bei 3.500 tunesischen Dinar oder 2.275 Euro und damit höher als in Marokko, Algerien (wo es seit 1990 um über ein Drittel gesunken ist und nunmehr hinter das tunesische Niveau zurückfällt) oder Ägypten.

Dennoch ist das tunesische "Modell", d.h. die Kombination aus autoritärer politischer Kontrolle plus anhaltendem Wirtschaftswachstum gleich "Stabilität", seit längerem an seine Grenzen gestoßen. Nach (höchstwahrscheinlich untertriebenen) offiziellen Zahlen sind derzeit gut 16 Prozent der tunesischen Bevölkerung arbeitslos; andere Quellen sprechen von über 20 Prozent. Dabei existieren in dem Land keine Arbeitslosengelder oder -hilfen, sondern nur punktuelle Hilfszahlungen in Gestalt von Abfindungen, die im Falle von Entlassungen durch die Sozialversicherung ausgeschüttet werden. Schlimmer: 68 Prozent der (offiziellen Angaben zufolge) Arbeitsuchenden sind jünger als 30 Jahre, und zwei Drittel von ihnen haben mindestens Abitur oder sogar Hochschulabschlüsse. Das widerspiegelt einen Arbeitsmarkt, der nicht länger aufnahmefähig ist und den jüngeren Generationen nicht mehr viel zu bieten hat.

Tunesien, das (anders als seine Nachbarn Algerien und Libyen) keine Rohölvorkommen besitzt, hat sich seit längerem auf ökonomische "Nischen" spezialisiert: Auf die aus Europa abwandernde Textilindustrie sowie auf manche Zubehör-Produktionen, wie etwa die Herstellung von Sitzbezügen für die europäische Automobil-Zuliefererindustrie. Hinzu kommen natürlich der Tourismus und die damit zusammenhängenden Dienstleistungsbranchen. Zeitweise wurde auch auf die Fertigung von elektronischen Komponenten abgestellt, doch wurde hier rasch der Konkurrenzdruck durch die "noch billigere" ostasiatische Industrie spürbar. Doch nunmehr drohen ähnliche Auswirkungen der Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung, die oft als "Globalisierung" bezeichnet werden, auch andere Sektoren der tunesischen Ökonomie hart zu treffen. Dabei ist das Land besonders verwundbar, weil es besonders stark von der Weltmarktbindung abhängig ist.

Tunesiens weitgehend "globalisierte" Ökonomie

Bichara Khader, der Herausgeber eines Sammelbands zur "euro-mediterranen Partnerschaft aus der Sicht des Südens” (Le partenariat euro-méditerranéen vu du Sud, Paris, Verlag L’Harmattan, 2001) hat für mehrere Länder einen "Öffnungsgrad” der jeweiligen Ökonomien dadurch errechnet, dass er die Summe der Importe und Exporte ins Verhältnis zum Bruttosozialprodukt des Landes stellt. Diese Berechnung mag vielleicht wissenschaftlichen Kategorien nicht völlig genügen, aber jedenfalls als Indiz einen gewissen Wert aufweisen.

Demnach beträgt dieser "Öffnungsgrad” für Mexiko heute 22 Prozent, hingegen für Marokko 39 Prozent und 43 Prozent für Algerien - für Tunesien aber bereits 82 Prozent. Tunesiens Binnenmarkt ist, bei zehn Millionen Einwohnern, relativ klein - vor allem aber blieb jede wirtschaftliche "Süd-Süd-Integration" aus, zugunsten einer Ausrichtung auf die Ökonomien des Nordens. 70 Prozent seines Außenhandels wickelte Tunesien zu Anfang des Jahrzehnts mit der EU ab. Sein mit Abstand größtes Nachbarland, Algerien, wiegt hingegen nach offiziellen Zahlen nur 2 Prozent der tunesischen Exporte.

Zum Jahreswechsel 2004/05 lief das "Multifaserabkommen" (Arrangement multifibres) aus, ein internationales Wirtschaftsabkommen, das den Textil-Exporteuren bis dahin bestimmte Importquoten in den "westlichen Industrieländern" garantierte. Nunmehr drohen kleinere Exportländer wie Tunesien unter die "Dampfwalze" der Massenproduktion in der VR China zu geraten. Tunesien wird nach Angaben der französischen Wirtschaftspresse zu den zehn Ländern gerechnet, die in diesem Kontext "am bedrohtesten" sind. Seit nunmehr sieben Jahre hat die Europäische Union ein Hilfsprogramm laufen, um die tunesische Textilindustrie zu modernisieren; aber fraglich ist, ob ihr das noch helfen kann, da ihr einziger Wettbewerbsvorteil bisher aus "nicht qualifizierten, aber billigen" Arbeitskräften bestand.

Nach Angaben der - tolerierten - Oppositionspartei "Front démocratique pour le travail et les libertés", die in der konservativen Pariser Tageszeitung Le Figaro vom 22.10.2004 zitiert werden, wird in Tunesien "allgemein damit gerechnet, dass ein Drittel der Textilbetriebe dicht machen müssen". Der Textilsektor entspricht bisher 50 Prozent der tunesischen Exporterlöse und 250.000 Arbeitsplätzen, das ist etwa die Hälfte der industriellen Arbeitsplätze im Land.

Und der nächste Schlag für die tunesische Ökonomie wird ab 2008 erfolgen: Dann ist das Land nämlich aufgefordert, im Rahmen des Freihandelsabkommens mit der Europäischen Union, das Tunesien bereits am 17. Juli 1995 als erster südlicher Anrainerstaat des Mittelmeers abschloss, seine Zollschranken abzubauen. Bis zum Jahr 2010 soll so eine Freihandelszone zwischen der EU und ihren südlichen Nachbarn entstehen: Marokko (1996) und Algerien (2002) haben ebenfalls entsprechende Assoziierungsverträge mit der EU abgeschlossen.

Bisher hat die tunesische Ökonomie noch von den Folgewirkungen des Abkommens profitiert, da es bisher vor allem von Exporterleichterungen in Richtung EU profitierte, die die (vorübergehende?) Ansiedlung bestimmter Wirtschaftszweige im Lande erleichterten. Doch in den Jahren ab 2008 muss nun umgekehrt auch Tunesien seinen Markt öffnen und damit Schutzzölle abbauen, die bisher noch lokale Produktionen gegen die übermächtige wirtschaftliche Konkurrenz aus dem Norden abschirmten. Bisher sagt selbst die Weltbank in diesem Zusammenhang den Verlust von mindestens 100.000 Arbeitsplätzen voraus. Dann könnte es mit der viel beschworenen Stabilität in Tunesien vielleicht vorüber sein.