Grenzerfahrung auf dem Operationstisch

Wie wenig wir über uns selbst und über die Funktionsweise unseres Körpers wissen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Den eigenen Körper zurücklassen und in eine fremde Welt gleiten, wo verstorbene Verwandte warten: Das sind typische Elemente von Nahtod-Erlebnissen. Manche halten Nahtod-Erlebnisse für "Besuche im Jenseits". So auch die Amerikanerin Pam Reynolds, die nach einer lebensgefährlichen Hirnoperation von einer solchen Erfahrung berichtete. Sind solche Erlebnisse ein Beweis für ein Leben nach dem Tod?

Seit der Bericht des Kardiologen Michael Sabom1 das Nahtoderlebnis der Pam Reynolds bekannt machte, wird es oft als definitiver Beweis für das Paranormale und das Leben nach dem Tod angeführt. Wieder und wieder hat man ihre Geschichte erzählt, so dass sie inzwischen beinahe mythische Dimensionen angenommen hat. Endlich war ein Mensch vom "klinischen Tod" zurückgekehrt, um zu berichten, dass es wirklich ein Dasein jenseits des Schleiers irdischen Lebens gibt. Für viele der langersehnte Beweis!

In der Tat, Pam Reynolds´ Bericht ist die Geschichte einer wunderbaren, und sicher auch tiefen Erfahrung. Pam Reynolds erlebte mehr als nur eine gewöhnliche Halluzination. All das, wovon sie später berichtete, hatte sie tatsächlich "gesehen", gefühlt und erfahren. Sie machte eine wunderbare, scheinbar unerklärliche Erfahrung, die ihr Leben verändern sollte, die tief verwurzelte Erwartungen über ein Weiterleben nach dem Tode und über die Natur des Universums bestätigte und ihr auf diese Weise vielleicht großen seelischen Trost spendete. Scheinbar beweist diese Erfahrung, dass es ein Weiterleben nach dem Tod gibt. Aber stimmt das wirklich? Ich beschloss, zu untersuchen, wie groß die Beweiskraft wirklich ist.

Eine fantastische Geschichte

35 Jahre alt war die Frau hinter dem Pseudonym Pam Reynolds, als die Ärzte bei ihr ein großes Aneurysma einer Arterie in ihrem Hirnstamm feststellten und operierten. Das war 1991. Ein Aneurysma ist eine lokale Erweiterung (Aussackung) einer Arterie, und im Fall von Pam Reynolds handelte es sich um ein großes Aneurysma der Hauptarterie, die ihren Hirnstamm mit Blut versorgte. Ein großes Aneurysma einer Hirnarterie ist wie eine Zeitbombe. Es kann jeden Augenblick platzen, die Folge ist eine starke Hirnblutung, welche die von dieser Arterie versorgten Hirnareale von der Blutzufuhr abschneidet. Bei Pam Reynolds war genau diese Eskalation sehr wahrscheinlich. Dies hätte ihren sofortigen Tod bedeutet, denn der Hirnstamm ist dasjenige Hirnareal, welches Bewusstsein, Atmung und viele andere lebenswichtige Körperfunktionen steuert. Deshalb musste das Aneurysma operativ entfernt werden.

Der geplante Eingriff war kompliziert. Zunächst wurde Pam Reynolds anästhesiert. Man eröffnete ihren Schädel und legte das Aneurysma frei. Da dieses sich aber als zu groß für eine gefahrlose Entfernung erwies, schloss man die Patientin an den Herz-Bypass an, um ihre Körpertemperatur durch eine Vene und eine Arterie in ihrer Lende bis auf 15 Grad zu senken. Dann wurde ihr Herz zum Stillstand gebracht, das Blut aus ihrem Kopf abgezogen, und das Aneurysma vorsichtig entfernt. Danach erwärmte man ihrem Körper wieder, stellte den normalen Herzschlag und Blutkreislauf wieder her und schloss die Kopfwunde und alle anderen Wunden, ehe man sie langsam im Aufwachraum zu Bewusstsein kommen ließ. Nachdem sie die Sprechfähigkeit wiedererlangt hatte, berichtete Pam Reynolds von einem wahrhaft erstaunlichen Erlebnis, während sie scheinbar bewusstlos mit still stehendem Herzen und gesenkter Körpertemperatur in Vollnarkose befand.

Sie berichtete, sie sei aufgewacht und habe während der Anfangsphase der Operation eine außerkörperliche Erfahrung gemacht. Sie erlebte sich an einem Standort, von dem aus sie den Neurochirurgen bei der Arbeit beobachtete und die pneumatische Säge zur Öffnung ihres Schädels "sehen" sowie beschreiben konnte. Danach durchquerte sie einen schwarzen Wirbel und gelangte in eine Welt voller Licht, wo sie ihre verstorbene Großmutter und ihren Onkel sowie andere verstorbene Verwandte traf. Sie nahmen sich ihrer an, "nährten" sie und brachten sie schließlich zurück in ihren Körper, ehe sie im Aufwachraum wieder zu Bewusstsein kam2.

Diese Geschichte ist fantastisch, ja geradezu wundersam. Bei oberflächlicher Betrachtung wirkt sie wie der endgültige Beweis für ein Leben nach dem Tod. Aber das ist nicht der Fall. Ich kann auf mehr als 20 Jahre Berufserfahrung als Anästhesist zurückblicken, und es hat mich immer fasziniert, auf welche Weise Körperfunktionen in der Lage sind, scheinbar paranormale Erfahrungen zu erzeugen. Deshalb weiß ich, dass diese Erfahrung durch das Zusammenwirken der Reaktionen von Pam Reynolds´ Körper und ihrem Bewusstsein auf ihre Situation und ihre Narkose hervorgerufen wurde.

Das "Paranormale". Ein Exkurs

Erörtern wir aber zunächst kurz, ob das Paranormale wirklich existiert. Grund dafür ist, dass viele Menschen Pam Reynolds´ Beobachtungen auf ihre Fähigkeit zur außersinnlichen Wahrnehmung zurückführen. Ich selbst glaubte fast mein gesamtes Erwachsenenleben hindurch an außersinnliche Wahrnehmung, ehe ich zu dem Schluss kam, dass es dafür keinerlei Belege gibt. Mehr noch, ich vertrete den Standpunkt, dass Menschen überhaupt keine Fähigkeiten zur außersinnlichen Wahrnehmung besitzen! Aber welche Gründe führen mich zu dieser scheinbar starren und rigiden Behauptung? Die Belege fasse ich kurz zusammen:

Bei Umfragen in vielen Ländern berichteten regelmäßig etwa 25 bis 85% der vielen Tausend Befragten von einem oder mehreren "unerklärlichen" oder paranormalen Erlebnissen. Doch trotz der intensiven, sauber durchgeführten und methodologisch hervorragenden Forschungen in den letzten 120 Jahren wurde bisher noch kein überzeugender und reproduzierbarer Beweis für die Existenz des Paranormalen erbracht.

Räumen wir deshalb ein, dass sich außersinnliche Wahrnehmungen unter Versuchsbedingungen nicht einstellen. Die Untersuchungen von Zehntausenden spontaner außersinnlicher Wahrnehmungen und Ereignisse zeigen, dass 50 % davon im Traum stattfinden. Der Mensch träumt pro Nacht etwa vier bis sechs Mal und verbringt insgesamt rund zwei Stunden im Traum. Das bedeutet, dass 50 % aller außersinnlichen Wahrnehmungen auf nur ein Zwölftel des Tages entfallen. Sorgfältige Traumforschung aber hat nie schlüssige Resultate darüber erbracht. Traumberichte, besonders historische, wie Mark Twains Traum vom Tod seines Bruders Henry, bleiben Einzelfälle und entziehen sich einer kritischen Überprüfung.

Bei Blinden und Gehörlosen entwickeln sich die verbleibenden Sinne schärfer, um den Verlust des Gesichts- oder Gehörsinns auszugleichen. Würden sie auch besondere paranormale Fähigkeiten ausbilden, hätte sich dies sicher in volkstümlichen Vorstellungen niedergeschlagen. Aber es gibt keinen Volksglauben, nach dem Blinde und Gehörlose paranormal begabt sind. Auch die Statistiken von Spielcasinos zeigen keine Hinweise auf eventuell paranormal begabte Besucher, die etwa Roulette-Ergebnisse voraussagen können. Zusammengenommen deuten all diese Beweisstücke darauf hin, dass außersinnliche Wahrnehmung und psychokinetische Fähigkeiten schlichtweg nicht existieren. Sie sind nichts als Fantasiegebilde, die indes eine tiefe Sehnsucht in uns erfüllen.

Wirkungen der Anästhetika

Nach dem Exkurs über derartige Fantasievorstellung können wir uns nun logisch mit den Wahrnehmungen von Pam Reynolds beschäftigen. Damit soll ihre Erfahrung jedoch in keiner Weise bagatellisiert werden. Denn für die Frau genannt Pam Reynolds war sie von immenser Bedeutung. Aber dies schließt nicht aus, dass sie sich auf Veränderungen ihrer Körperfunktionen zurückführen lässt.

Beginnen wir mit den Wirkungen der Narkose auf den Körper von Pam Reynolds. Sie unterzog sich im Jahr 1991 einem komplizierten Eingriff. Ich habe beträchtliche Erfahrung mit Narkose auf dem Gebiet der Neurochirurgie, und zur fraglichen Zeit war die Narkosetechnik in allen westlichen Ländern einheitlich. Pam hat sich einem Verfahren unterzogen, wie man es auch heute noch anwendet, einer standardisierten Kombinationsnarkose mit drei Komponenten:

  1. Narkotika, welche die Anästhesie herbeiführen und aufrechterhalten: Die beiden Funktionen können von ein- und demselben Mittel oder von verschiedenen übernommen werden. Nach Verabreichung eines schnell wirkenden, bewusstlos machenden Mittels wird entweder ein anderes Anästhetikum oder eine fortlaufende Infusion desselben Mittels eingesetzt, um diesen Zustand aufrecht zu erhalten.
  2. Starke Schmerzmittel: Die Narkose allein macht den Patienten noch nicht schmerzunempfindlich. Deshalb werden ihm starke Schmerzmittel verabreicht, welche unwillkürliche Schmerzreaktionen des Nervensystems unterdrücken.
  3. Muskellähmende Mittel, ähnlich Curare, dem tödlichen Pfeilgift der Amazonas-Indianer: Ein narkotisierter Patient, der unter der Einwirkung starker Schmerzmittel steht, befindet sich, medizinisch betrachtet, in einer besonderen Situation. Durch das Zusammenwirken beider Komponenten hört der Patient auf zu atmen. Die Schmerzmittel bewirken außerdem eine Anspannung der Muskeln, sodass nicht einmal die verbleibende Atmung ausreicht. Reflexartige Schmerzreaktionen lassen sich durch eine Kombination der Mittel indes nicht ausschalten. All diese Wirkungen, werden aufgehoben, indem man die gesamte Körpermuskulatur mit curareähnlichen Mitteln lähmt. Dies vereinfacht die Arbeit des Chirurgen, ja macht sie in manchen Fällen überhaupt erst möglich.

Bei der beschriebenen Kombinationsnarkose tritt jedoch ein Problem auf: Es kommt zum Atemstillstand. Deshalb führt man in der Regel einen Schlauch (Tubus) von einem bis zwei Zentimetern Durchmesser durch den Mund und die Stimmbänder in die Luftröhre. Eine aufblasbare Manschette (Cuff), die in der Luftröhre den Schlauch umschließt, sorgt für luftdichten Sitz. Der Tubus wird an ein Beatmungsgerät angeschlossen, das die künstliche Beatmung des Patienten übernimmt. Hierbei handelt es sich um eine gängige Methode, wie sie jährlich viele Millionen Mal auf der ganzen Welt angewandt wird. Unterzieht sich ein Mensch diesem Verfahren, so atmet er nicht selbständig, ist unbeweglich und wirkt abwesend - ein Mensch in dieser Situation ist nichts weiter als eine biologische Maschine, die gerade von einem Chirurgen repariert wird. Aufgabe des Anästhesisten ist es, diese Situation einzuleiten und aufrechtzuerhalten, bis der Chirurg seine Arbeit beendet hat, außerdem muss er den Patienten ungeachtet aller Auswirkungen des chirurgischen Eingriffs am Leben halten.

Bisweilen aber reicht die Konzentration der Anästhetika im Körper eines Patienten für eine narkotische Wirkung nicht aus. Diese Personen bleiben wach: Sie hören, was in ihrer Umgebung vorgeht, sie spüren die Arbeit des Chirurgen und anderer Personen und sehen auch, was geschieht, sofern ihre Augen geöffnet sind. Aber dank der starken Schmerzmittel empfinden sie keinen Schmerz, und aufgrund der muskellähmenden Mittel können sie sich weder bewegen, noch sprechen oder atmen. Sie liegen still und unbeweglich, beobachten jedoch alles, was mit ihnen und in ihrer Umgebung geschieht. Später, nachdem sie die Sprechfähigkeit wiedererlangt haben, sind sie in der Lage, sehr ausführlich zu berichten, was während der Bewusstseinsphase mit ihrem Körper geschehen ist.

Manchen mag dies überraschen, aber jeder kann es selbst ausprobieren, indem er sich mit verbundenen Augen auf ein Bett legt. Sie können sich dann sehr deutlich vorstellen, was die Personen in Ihrer direkten Umgebung tun und sagen und was mit Ihrem Körper geschieht. Genau in dieser Situation fand sich Pam Reynolds wieder, als sie zu Beginn ihrer Operation erwachte.

Noch eine weitere Tatsache sollte bei der Beschäftigung mit diesem Fall bedacht werden. Pam Reynolds konnte erst dann von ihrem Erlebnis berichten, als die Operation beendet und der Schlauch aus ihrer Luftröhre entfernt war. Während der Narkose und der Operation, d.h. solange sich der Schlauch in ihrer Luftröhre befand, war sie nicht sprechfähig. Sie berichtete ihr Erlebnis also aus der Erinnerung. Das bedeutet nicht, dass sie diese Erfahrungen nicht machte, aber sie hatte Zeit, sie zu verarbeiten und diese Wahrnehmungen und Erfahrungen mit ihrem Wissen sowie mit früheren Erfahrungen zu verknüpfen. Ein simultaner Bericht von einer Erfahrung unterscheidet sich grundlegend von einem rückblickenden Bericht derselben Erfahrung. Weiteren Einfluss dürften mit Sicherheit die Schmerzmittel und Anästhetika ausgeübt haben.

Schließlich war sie während ihres Erlebnisses zwar bei Bewusstsein, fühlte sich aber ruhig und spürte die Schmerzen der Operation nicht - alles Hinweise, dass ihre Denkprozesse während des Erlebnisses unter dem Einfluss der Narkosemittel standen. Untersucht man die Einzelheiten ihres Erlebnisses, so stellt man fest, wie sich darin ihre Beobachtungen mit der Wirkung der Narkosemittel und persönlichen Erwartungen und Vermutungen zu einer wundervollen, kohärenten Geschichte zusammenfügen. So betrachtet, gewinnt ihre Geschichte einen Hintergrund und eine Perspektive, sodass wir sie Schritt für Schritt untersuchen können.

Pam Reynolds wird operiert

Zunächst wurde Pam Reynolds narkotisiert, und man begann, ihren Körper in die richtige Lage zu bringen und den Eingriff vorzubereiten. Dies allein kann bei neurochirurgischen Operationen bereits längere Zeit in Anspruch nehmen, aber im vorliegenden Fall musste darüber hinaus noch ein kardiopulmonaler Bypass vorbereitet werden. Während einer so langen Vorbereitungszeit können die Wirkungen der Muskelrelaxanzien, Schmerzmittel und Anästhetika unter das Niveau sinken, das zur Aufrechterhaltung der Narkose nötig ist. Es bedarf regelmäßiger Dosen dieser Mittel, um Narkose, völlige Muskellähmung und Schmerzfreiheit zu gewährleisten. Ich habe meine Arbeit als Anästhesist auf diesem Gebiet 1977 begonnen.

Bei der Narkose von Pam Reynolds wurde Pentothal zur Anästhesie verwendet, ein Hinweis, dass der Anästhesist eine übliche und ausgewogene Kombination von Narkosemitteln anwandte, wenn er auch nicht auf die modernste damals verfügbare Methode zurückgriff. Penthothal dient zur Einleitung der Narkose und hält den Patienten für 10 bis 15 Minuten in diesem Zustand. Danach bewirken andere Gase in der Luftmischung des Beatmungsgeräts die Betäubung. Ihr Anästhesist hat den Schlaf sicher mit Lachgas (Stickstoffoxid) aufrecht erhalten, möglicherweise zusammen mit einem Gas wie Isofluran oder Enfluran, die beide damals häufig benutzt wurden.

Da Pam Reynolds während der Operation mehrmals bei Bewusstsein war, vermute ich jedoch, dass weder Isofluran noch Enfluran als zusätzliche Anästhetika verwendet wurden. Ohne Einsatz dieser Gase aber ist es wahrscheinlicher, dass der Patient während der Operation erwacht, und genau das geschah mit Pam Reynolds.

Zunächst begann der Neurochirurg. Er nahm einen Einschnitt am Kopf vor und begann dann, ihren Schädel mit einer pneumatischen Säge von der Form einer elektrischen Zahnbürste aufzusägen. Das Kreischen der Säge weckte Pam Reynolds auf - es war der von ihr erwähnte "Stammton D". Jetzt war sie bei Bewusstsein, durch das Muskelrelaxans jedoch teilweise gelähmt, und in ihrer Luftröhre steckte ein Schlauch. Deshalb konnte sie sich weder bewegen noch sprechen. Dank der starken Schmerzmittel spürte sie keine Schmerzen. Doch sie hörte, wie Personen miteinander sprachen und sich um sie herum bewegten, fühlte die Berührungen und Bewegungen der Chirurgen auf und in ihrem Körper, und sie nahm all dies bewusst wahr.

Die Anästhetika hielten sie ruhig. Eine Fehlfunktion ihres Gehirns, ausgelöst durch das Zusammenspiel dieser Mittel mit der abnormen Funktion ihrer Muskelfasern rief die außerkörperliche Erfahrung hervor3. Olaf Blanke und seine Kollegen haben ebenfalls einen bemerkenswerten Artikel über die Veränderungen im Gehirn bei fünf Patienten mit außerkörperlichen Erfahrungen veröffentlicht4.

Der Anästhesist überwachte die Lebensfunktionen der Patientin auf die übliche Weise, hinzu kam ein Elektroenzephalogramm, außerdem wurden die Reaktionen ihres Gehirns auf Klickgeräusche aufgezeichnet, die sie über zwei Kopfhörer wahrnahm. Bei diesem VEP genannten Verfahren (VEP = vestibular evoked potentials) handelt es sich um eine sehr zweckmäßige Methode, um die Tiefe einer Betäubung und den Grad des Bewusstseins zu messen. Manche Autoren betonen, dass Pam Reynolds trotz des Klickens in ihren Kopfhörern alles hören konnte. Ich antworte darauf, dass sie natürlich alles hören konnte - vergleichbare Fälle erleben wir überall um uns herum. Viele Menschen überall auf der Welt hören beim Spazierengehen über Kopfhörer laute Musik und können dennoch alles wahrnehmen und verstehen, was in ihrer Umgebung geschieht. Auch ein narkotisierter Mensch ist hörfähig, andernfalls wäre die vollkommen übliche VEP-Überwachung zur Messung der Narkosetiefe unsinnig.

Indes wird oft betont, dass die VEP-Überwachung kein Erwachen der Patientin anzeigte. Nun ist die VEP-Überwachung zwar, genau wie ähnliche Verfahren, sehr zuverlässig, aber eben nicht zu 100 %. Diese demütigende Tatsache begleitet unsere Arbeit, und alle erfahrenen Anästhesisten sind sich dessen bewusst. Deshalb beobachten sie ihre Patienten stets sehr genau, um etwaige Anzeichen eines Erwachens festzustellen, aber eine hundertprozentige Sicherheit gewährleistet auch dies nicht. Der Bericht von Pam Reynolds ermöglicht es uns, einige Ereignisse zeitlich genau zu bestimmen. Durch ihre Wiedergabe der Worte5 eines der Chirurgen etwa lässt sich der Zeitpunkt ihres Erwachens ganz genau einordnen:

Jemand sagte, meine Venen und Arterien seien sehr eng. Ich glaube, es war eine weibliche Stimme, und zwar die von Dr. Murray, aber sicher bin ich nicht. Sie war die Kardiologin. Ich erinnere mich, dass ich dachte, ich hätte es ihr vorher sagen sollten.

Zur Zeit ihres außerkörperlichen Erlebnisses war sie noch nicht an der Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, denn beim Versuch, den Schlauch der Herz-Lungen-Maschine in die Blutgefäße ihrer rechten Lende einzuführen, war eine Schwierigkeit aufgetreten. Die Gefäße hatten sich als zu eng erwiesen. Weil aber der Einsatz der Herz-Lungen-Maschine unabdingbar war, benutzten die Ärzte schließlich die Gefäße in ihrer linken Lende. Das bedeutet, dass Pam Reynolds zu dieser Zeit eine normale Körpertemperatur hatte und wie eine Gelähmte reagierte, auch wenn die Ärzte sie in Vollnarkose wähnten.

Wahrnehmungen während der Narkose

Kommen wir nun zu Pam Reynolds´ Beschreibung der pneumatischen Säge, die sie während ihrer Out-of-body-Erfahrung beobachtete. Auch hierbei kann nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden, dass es sich um eine Beschreibung aus der Erinnerung handelt. Zur Zeit des Geschehens war sie gar nicht in der Lage, das Erlebte zu beschreiben. Außerdem wusste sie, dass ihr Schädel nicht etwa mit einer eine großen Kettensäge oder einem Winkelschneider geöffnet würde. 1991, zum Zeitpunkt ihrer Operation, war sie 35 Jahre alt. Sie wurde also 1956 geboren und gehörte damit zu der Generation von Amerikanern, die mit hervorragender Zahnpflege gesegnet waren. In den späten 1970er und 80er Jahren benutzte man oft pneumatische Bohrer und vergleichbar geformte Geräte, die ähnliche Geräusche machten wie die pneumatische Säge, die bei der Eröffnung ihres Schädels zum Einsatz kam.

Deshalb ist es beinahe sicher, dass sie Zahnfüllungen oder andere zahnmedizinische Arbeiten besaß, sie Zahnarztbohrer kannte und wusste, wie sie angewendet werden. Der Hochfrequenz-Ton des leerlaufenden, luftgetriebenen Motors der pneumatischen Säge hat gemeinsam mit dem anschließenden Gefühl, dass ihr Schädel aufgesägt wurde, sicher in ihrer Erinnerung das Bild eines Gerätes wachgerufen, das einem Zahnarztbohrer ähnelte. Noch ein weiterer Gesichtspunkt sollte an dieser Stelle berücksichtigt werden. Möglicherweise hatte Pam Reynolds bereits vor ihrer Operation von pneumatischen Sägen erfahren und war deshalb in der Lage, das Gerät so treffend zu beschreiben.

Ihrer eigenen Darstellung zufolge war sie wacher und aufmerksamer als im Normalzustand, mit schärferer Wahrnehmung. Diese Beschreibung ist typisch für Menschen, deren Gehirn unter dem Einfluss von vielen Medikamenten, Toxinen und Abfallprodukten steht oder aber unzureichend mit Sauerstoff versorgt wird. Die Patienten haben den Eindruck, dass ihre Gedanken klarer, ihr Geist leistungsfähiger und ihre Wahrnehmungen schärfer sind als gewöhnlich. Verschwommene oder unklare Gedanken erleben sie nie. Pam Reynolds´ Eindruck täuschte, die Narkosemittel in ihrem Körper beeinträchtigten ihre Hirnfunktionen. Auf die geistigen Fähigkeiten wirkt sich eine unzureichende Versorgung mit Sauerstoff genauso aus wie die Narkosemittel, welche bei ihr eingesetzt wurden. Die Auswirkungen lassen sich wie folgt beschreiben6:

Hypoxie (unzureichende Sauerstoffversorgung) beeinträchtigt schnell die höheren geistigen Funktionen und führt zu einer Schwächung der verfeinerten Gefühle sowie zum Verlust von Urteilsfähigkeit und Selbstkritik. Dennoch hat der Patient den Eindruck, sein Denken sei vollkommen klar, ja, sogar ungewöhnlich scharf.

Nach Freilegung des Aneurysmas wurde der Herz-Bypass angelegt, und man brachte ihr Herz bei einer Körper- und Hirntemperatur von 15 °C zum Stillstand, und ihr Blut wurde aus dem Kopf abgeleitet. Bei dieser Temperatur ist der Mensch ohne Bewusstsein, sodass Pam Reynolds in dieser Operationsphase keine bewussten Erfahrungen machen konnte. Aber sie war in der Lage, sich an einige Details vor diesem hypothermischen Herzstillstand zu erinnern, denn die konnte sich an ihre außerkörperliche Erfahrung erinnern.

Mancher mag dieses Verfahren für wunderbar und ungewöhnlich halten. Aber in den 1960ern und 1970ern war es eine von mehreren Standardtechniken bei Operationen am offenen Herzen. Wenn die Temperatur von Körper und Gehirn auf 15 °C und weniger herabgesenkt wird, lassen sich für die Zeit des Eingriffs Herzschlag und Atmung stoppen. Danach wird die Körpertemperatur wieder erhöht und der normale Herzschlag wieder aktiviert. Sofern der Herzstillstand weniger als 45 Minuten anhält, trägt der Patient keinen Hirnschaden davon. Es ist auch überhaupt nichts Übernatürliches daran, dass das Gehirn 45 Minuten ohne Blutkreislauf überlebt. Die Kühlung verlangsamt alle chemischen Reaktionen und damit auch den Stoffwechsel von Körper und Gehirn, sodass viel weniger Sauerstoff und Nährstoffe benötigt werden. Ganz ähnlich ist es mit Fleisch im Kühlschrank: Je kälter der Kühlschrank, desto besser ist das Fleisch vom Verderben geschützt.

Das Nahtoderlebnis

War Pam Reynolds während ihres Herzstillstandes "tot"? Natürlich nicht! Nur ihr Stoffwechsel war auf ein Minimum reduziert. Die Symptome Atem- und Herzstillstand treten zwar auch beim Tod auf, kennzeichnen ihn aber nicht eindeutig. In manchen Situationen schlägt das Herz nicht und es findet auch keine Atmung statt, aber der Mensch ist doch am Leben, etwa beim Einsatz einer Herz-Lungen-Maschine. Dieses Verfahren wird sogar bei Patienten mit vollem Bewusstsein eingesetzt7.

Nach der erfolgreichen Entfernung des Aneurysmas wurde die Körpertemperatur von Pam Reynolds schrittweise bis auf den normalen Wert erhöht und ihr Herzschlag aktiviert. In dieser Phase setzten Durchblutung und Hirnfunktion wieder ein. Aber Pam Reynolds´ Gehirn arbeitete noch nicht normal. Erstens nahm ihr Hirnstamm seine Funktion wieder soweit auf, dass sie das Bewusstsein erlangte. Andernfalls hätte sie das Gleiten durch den dunklen Wirbel nicht wahrnehmen können. Es folgte ein typisches amerikanisches Nahtoderlebnis, in dessen Verlauf sie von verstorbenen Angehörigen geleitet und unterstützt wurde8.

Der Inhalt dieser Nahtoderfahrung war unter anderem von ihrem Wissen beeinflusst, dass die Operation möglicherweise tödlich verlaufen würde. Diesen Punkt betone ich deshalb, weil sie während ihrer Nahtoderfahrung verstorbene Verwandte sah, die ihr behilflich waren und sie ins Totenreich geleiteten. Dies ist typisch für Nahtoderlebnisse von Menschen, die auf eine lebensbedrohende Situation gefasst sind9.

Nachdem die Hirnfunktion wiederhergestellt war und sich normalisiert hatte, wurde sie beim Aufwachen von Musik empfangen. Das Stück schien ihre Situation ironisch zu kommentieren10:

Als ich zurückkehrte, spielten sie "Hotel California", wo es heißt: "You can check out anytime you like but you can never leave". ("Du kannst auschecken, wann immer Du möchtest, aber du kannst nicht fort.") Als ich (später) gegenüber Dr. Brown erwähnte, dass dies unvorstellbar gefühllos war, sagte er mir, ich müsse noch etwas schlafen. (Lachen). Als ich wieder zu Bewusstsein kam, war ich noch an das Beatmungsgerät angeschlossen.

Zwar war Pam Reynolds jetzt wach, aber durch das Muskelrelaxans gelähmt. Deshalb konnte sie sich auch jetzt weder bewegen noch atmen. Sie war buchstäblich eingesperrt in ihrem Körper, konnte nicht fort. Ferner machten ihr die Muskellähmung und der Schlauch des Beatmungsgeräts in ihrer Luftröhre das Sprechen unmöglich.

Später kam sie im Aufwachraum zu Bewusstsein. Erst jetzt wurde der Schlauch aus ihrer Luftröhre entfernt, und die Patientin erlangte ihre Sprechfähigkeit wieder, sodass sie allen von ihrem wundersamen Erlebnis erzählen konnte. Und ein einschneidendes persönliches Erlebnis war es wirklich, wenn es auch in der Funktionsweise ihres Körpers bedingt war. Dazu beigetragen hatten auch Vorstellungen aus den tiefsten Bereichen ihrer Psyche und die Tatsache, dass sie mehrmals während ihrer Operation bei Bewusstsein war.

Diese Bewusstseinsphasen sind in ihrem Bericht deutlich zu erkennen. Wahrscheinlich spiegelt dies das Zusammenwirken ihrer unzweifelhaften Besorgnis über den Eingriff und der Narkosemethode wider. Es ist schwieriger, besorgte Patienten in Narkose zu halten als solche, die ruhig und entspannt sind. Die Geistestätigkeiten während ihrer Wachphasen waren eindeutig beeinflusst von den Narkotika, ihren Sorgen und den Nachwirkungen ihrer tiefen Körpertemperatur. Deshalb zeigen auch ihre Erinnerungen den Einfluss der Narkosemittel, der gesenkten Körpertemperatur, des chirurgischen Eingriffs, ihren Sorgen und ihrer Persönlichkeit.

Nichtsdestoweniger führen uns Erlebnisse wie das von Pam Reynolds vor Augen, wie wenig wir über uns selbst und über die Funktionsweise unseres Körpers wissen. Was sich wirklich hinter ihnen verbirgt, zeigen erst sorgfältige und kritische Forschungen. So enthüllt uns jedes solcher Erlebnisse ein wenig mehr von der wahren, komplexen Natur des Menschen hinter der Maske des alltäglichen Bewusstseins.

Übersetzung von Inge Hüsgen, Mitglied der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP).

Der Text erschien erstmals unter dem Titel "Pam Reynolds: Ein Nahtoderlebnis aus der Sicht eines Anästhesisten" in der Zeitschrift Skeptiker (4-2004). Dr. Gerald M. Woerlee ist Anästhesist in den Niederlanden.