"Hat nicht so gut geschmeckt"

Mitten unter uns: der Hunger auf Kannibalismus

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Spätestens seit dem spektakulären Kannibalismus-Fall von 2001, bei dem der mittlerweile inhaftierte Armin Meiwes aus Rotenburg den Berliner Ingenieur Bernd Jürgen Brandes, den er über das Internet kennen gelernt hatte, mit dessen Einverständnis tötete und teilweise verspeiste, ist das Thema "Kannibalismus" wieder in aller Munde. Die Art und Weise des Umgangs mit dem Tabu offenbart ein "kannibalisches Verlangen" nach solchen Geschichten.

Der Fall kursierte in sämtlichen Medien - am häufigsten und detailliertesten widmeten sich ihm jedoch die Boulevard-Blätter. Da erklärt sich ein Berliner Ingenieur dazu bereit, einem anderen Mann als Menschenopfer zu dienen. Beide verabreden sich über das Internet, es kommt zum Treffen und schließlich zur Tötung und Verspeisung des Opfers, was vom "Kannibalen aus Rotenburg", wie der Täter von der "Bild"-Zeitung in Anlehnung an andere spektakuläre Fälle apostrophiert wurde, auch noch auf Video festgehalten wurde.

Das Landgericht Kassel schien gegenüber der Tat hilflos: Für Kannibalismus, zumal mit dem Einverständnis des Opfers, gibt es keinen Strafgesetzparagrafen. Die recht milde Strafe (8,5 Jahre für Totschlag) wurde vom Bundesgerichtshof wieder aufgehoben und Meiwes muss nun mit lebenslanger Haft für Mord rechnen. Entscheidend für die Aufhebung des Urteils war, dass Meiwes' Verteidigung, er habe den Mord begangen, um sich danach an der Videoaufnahme der Tat zu delektieren, den Verfassungsrichtern unglaubwürdig schien.

Dass eine solche Verteidigungsstrategie im größeren Zusammenhang betrachtet allerdings gar nicht so abwegig ist, und dem Täter daher vielleicht als plausibel erschien, ist symptomatisch für das Thema "Kannibalismus", das seit jeher ein Medien-Thema ist. Schon die augenscheinliche Entrüstung der Boulevard-Zeitungen, die an diesem Fall ihre ganze Doppelzüngigkeit offenbarte, zeigt das paradoxe Verhältnis der Gesellschaft zum Tabuthema: In der Art und Weise der Berichterstattung offenbart sich Abscheu und Attraktion gleichermaßen.

In immer blumigeren Metaphern und immer detailreicheren Ausschmückungen des kannibalistischen Szenarios bekamen die Texte teilweise literarische Qualität. Fast schien es so, als würde dem Leser solcher Berichte durch die detailreiche Art und Weise der Vermittlung ein latentes kannibalisches Begehren unterstellt.

Kannibalische Katharsis

Im Sommer 2005 erschien im Bielefelder Aisthesis-Verlag eine Publikation des Bonner Kulturwissenschaftlers Christian Moser, der genau diese paradoxe Annäherung in der westlichen Auseinandersetzung mit dem Kannibalismus sieht: "Die ästhetische Rezeption des Kannibalismus, wie sie mir für die westliche Kultur charakteristisch zu sein scheint, markiert das paradoxe Zugleich von Identifikation und Distanzierung", so Moser, und weiter:

Die westliche Kultur verhält sich dem Kannibalen gegenüber zugleich anthropophagisch und anthropemisch - sie nimmt gierig in sich auf, was sie zugleich verabscheut und auszugrenzen sucht. In diesem Sinne verhält sie sich selbst "kannibalisch". "Kannibalismus" ist in diesem Zusammenhang die Metapher für ein verfehltes Verhältnis zum Anderen - eine Beziehung, die in dem Maße vereinnahmt und appropriiert, in dem sie ausstößt und ausgrenzt.

Für Moser ist der Fall des "Kannibalen von Rotenburg" symptomatisch für einen Bedeutungswandel des Tabus. Kannibalismus wird heutzutage nicht mehr in der exotischen Ferne vermutet - "er ist mitten unter uns; ja, er steckt gewissermaßen in uns allen. Ihren deutlichsten Ausdruck findet diese Tendenz in der erstaunlichen Karriere, die die Figur des kannibalischen Serienkillers seit einigen Jahren im Kino und in der Literatur durchlaufen hat."

Doch diese "Annäherungen" sieht der Bonner Kulturwissenschaftler weniger als Indiz für einen Willen zur Auseinandersetzung mit dem der Kultur eigenen Kannibalismus, als vielmehr eine Desymbolisierung und Ästhetisierung des Themas zum reinen Amusement.

Das Schweigen der Lämmer

An solchen Ästhetisierungs- und Desymbolisierungspraktiken ist die Kulturproduktion der Nachkriegszeit wirklich nicht arm. Spätestens seit dem berüchtigten Fall des Serienmörders Edward Gein, der Mitte der 1950er Jahre der Menschenfresserei bezichtigt wurde, kursieren Geschichten von "kultivierten Kannibalen" in allen Medien, haben es literarische und kinematografische Kannibalen wie Hannibal Lecter ("The Silence of the Lambs", USA 1990 etc.) und Patrick Bateman ("American Psycho", USA 2000) in alle Wohnzimmer geschafft. Das Kino sah sich seit den 1970er Jahren mit mehreren Kannibalenfilm-Wellen konfrontiert, von denen die jüngste offenbar noch nicht ganz verebbt war, als der Fall Meiwes den Stoffhunger der Filmindustrie erneut weckte. Neben rein fiktionalen Erzählungen wie der aus "Dänische Delikatessen" (Dk 2003) und "Dumplings " (HK 2004, vgl. Ekelig, empörend und überhaupt geschmacklos?) referenzieren jetzt gleich mehrere Filme auf den deutschen Kannibalenfall.

Der Mann und das Fleisch

Es war kaum verwunderlich, dass das Medieninteresse am "Kannibalen von Rotenburg" nicht nur berichterstatterischer Natur war. Vor allem der Täter selbst erkannte schnell das Potenzial "seiner Geschichte" und plante vom Gefängnis aus deren Vermarktung. In seinem Verlangen nach Öffentlichkeit dem bislang berüchtigtsten "Kannibalen" aus Deutschland, Fritz Haarmann, kaum nachstehend (dieser hatte sogar eine Statue für sich gefordert), begann Meiwes den Markt zu sondieren, um seine Geschichte möglichst selbst finanziell ausschlachten zu können. Wenigstens drei Produktionen kamen ihm jedoch zuvor.

In Brett Leonards "Feed" (USA 2005) geht es eigentlich gar nicht um Kannibalismus - wohl aber auch um das Thema "pathologisches Essen": Ein Webseiten-Betreiber bietet Filme an, die zeigen, wie er Frauen mit deren Einverständnis zu Tode füttert. Ein Polizist, der auf den Fall angesetzt wird, hat einschlägige Erfahrung mit "Ess-Verbrechen", sahen wir ihn doch bereits im Prolog eine Hamburger (sic!) Wohnung stürmen, in deren Küche gerade Körperteile zubereitet wurden (die Untertitel-Einblendung "Hamburg, Germany 2001" dürfte als Hinweis auf den aktuellen deutschen Kannibalismus-Fall ausgereicht haben).

Feed

Wesentlich ausführlicher nimmt sich der Film "Cannibal" des Ulli-Lommel-Mitarbeiters Marian Dora des Falles an. "Cannibal" wurde im Sommer dieses Jahres fertig gestellt, ist aber noch nicht erschienen. Dora erzählt die Geschichte Meiwes' und seiner Tat recht direkt und baut etliche Fakten des authentischen Falls in seinen Film ein. Direkt verfremdet/verfremdend sind hier neben der "märchenhaften" Rahmenhandlung lediglich der Herkunftsort des Opfers (Freiburg) und die Tatsache, dass die beiden Protagonisten, gespielt von Carsten Frank ("Der Mann") und Victor Brandl ("Das Fleisch") lediglich metonymische Namen tragen. Ansonsten verschweigt der Film jedoch alle Fakten, die Zeit und Ort des Geschehens andeuten könnten.

Während der ersten Stunde versucht er das komplizierte emotionale Geflecht zwischen den beiden Männer zu ergründen, zeichnet den "Mann" als einfühlsam, eher ins sich zurück gezogenen, hilfsbereit und nett, während das "Fleisch" voller Ungeduld und Aggressionen zu sein scheint. Im letzten Drittel des Films, in dem der Mord, die Zerlegung des Opfers, dessen Zubereitung und Verspeisung gezeigt wird, ändern sich diese Zuschreibungen schließlich. Wegen seiner großen Nähe zum authentischen Fall und einer damit einher gehenden Gefahr der Verletzung von Persönlichkeitsrechten, hatte der Berliner Verleiher cmv Laservision von einer Veröffentlichung des Films abgesehen - "Cannibal" hätte es jedoch aufgrund der Drastik seiner Darstellung auch nicht leicht mit der bundesdeutschen Filmzensur.

Dein Herz in meinem Hirn

Auf den diesjährigen Hofer Filmtagen erlebte vor kurzem der zweite Kannibalen-Film, der sich auf den Meiwes-Fall bezieht, seine Weltpremiere. Niemand geringeres als der deutsche Autoren-Filmer Rosa von Praunheim ("Die Bettwurst", "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt") hat den Film mit dem Titel "Dein Herz in meinem Hirn" gedreht. Nachdem von Praunheim bereits im Sommer 2004, ein halbes Jahr nach Meiwes' erster Verurteilung, angekündigt hatte, den Fall adaptieren zu wollen, und dafür eine großzügige Förderung von der Filmstiftung NRW erhalten hatte, prasselte gleich von mehreren Seiten Kritik auf ihn ein.

Dein Herz in meinem Hirn

Zum einen beschwerte sich der rechtspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Hessischen Landtag, Axel Wintermeyer, darüber, dass solch "einem perversen Straftäter ein Denkmal gesetzt" (Spiegel) werde und das auch noch mit Mitteln der Filmförderung. Zum anderen meldete sich unverzüglich Meiwes' Anwalt Harald Ermel zu Wort, gab bekannt, dass sein Mandant die Rechte für seine "Lebensgeschichte" (noch) nicht verkauft hätte, bezeichnete Praunheims Ansinnen als "geschmacklose Wichtigtuerei" (Spiegel) und kündigte schon einmal an, dass sein Mandant selbst zu gegebener Zeit über eine "wahrheitsgemäße Dokumentation" entscheiden werde.

Dass von dem Geld für die Rechte Meiwes' Anwaltskosten finanziert werden soll, bindet dieses offensichtlich ökonomische Interesse am Kannibalismus zurück in den juristischen Diskurs. Die Justizminister aller Bundesländer hatten auf die Vermarktungslogik Meiwes' reagierend eine Gesetzesinitiative hervorgebracht, nach der es künftig Straftätern verunmöglicht werden soll, durch Ästhetisierung Gewinne aus ihren Verbrechen schlagen zu können. Ganz unterdrücken will die Judikative die kulturelle Produktion (wie in diesem Fall am Kannibalismus) jedoch nicht: Die Einnahmen aus solchen Vermarktungen sollen künftig Opferschutzvereinen zufallen.

Praunheim ließ - wie sich nach der Premiere vermute lässt: mit Erfolg - sein Drehbuch von einem Anwalt für Persönlichkeitsrechte prüfen und konterte die Anschuldigungen mit seiner schon seit 20 Jahren andauernden Beschäftigung mit dem Thema "Kannibalismus", die sich am Fall Meiwes nun nur noch einmal konkretisiert hätte. Sein Film ist Zeuge dieser Beschäftigung, die mehr der Frage nachgeht, was den Kannibalen in seinem Wünschen und Tun antreibt, als der Abbildung kriminalistischer Fakten zum Fall Meiwes.

"Hat nicht so gut geschmeckt"

Wie Adrian Doras Film verfremdet auch "Dein Herz in meinem Hirn" seine Erzählung auf schon fast Brecht'sche Weise. Im ganzen Film tauchen nur Figuren auf, die von den beiden männlichen Darstellern Martin Molitor und Martin Ontrop gespielt werden. Weder der Handlungsort noch die Biografien der Beteiligten stimmen mit dem authentischen Fall überein - was einer derart künstlerisch-analytischen Auseinandersetzung, wie sie von Praunheim durchführt, auch im Weg gestanden hätte.

Hier ist der Kannibale, Achim (Martin Ontrop), ein geschiedener, arbeitsloser Lehrer aus Berlin Spandau, der in einem Internet-Schach-Chat einen vermeintlichen Kollegen, Peter (Martin Molitor), kennen lernt, mit dem er sich zunächst zum Schachspielen verabredet, dann jedoch langsam Freundschaft mit ihm schließt. Die Beziehung der beiden Männer ist, wie bei "Cannibal", zunächst von der Aggression des späteren Opfers bestimmt. Dieser gibt jedoch bald zu erkennen, dass er nicht der ist, als der er sich vorgestellt hat. Vielmehr scheint Peter ein Obdachloser zu sein, der wie Achim jemanden gesucht hat, mit dem er sein Leid teilen kann. "Dein Herz in meinem Hirn" erzählt zunächst von mehreren Begegnungen der beiden Männer, zeigt sie in ihrem Alltag und wie sie eine behutsame homosexuelle Beziehung zueinander aufbauen, bis Peters Wunsch, Schmerzen zu erleiden und verspeist zu werden, immer konkreter wird. Auch hier kulminiert die Filmhandlung in der Tötung und Verspeisung des Opfers, wenn auch von Praunheim dabei weniger naturalistisch und mit geringerem kulinarischem Eifer zu Werke geht wie Dora.

Filmreif

In beiden Filmen ähnlich ist die frappierende "Gewaltlosigkeit" der Gewalttat. Der "Kannibalen-Fall von Rotenburg" ist ja bereits zuvor als eine zwar perverse aber dennoch sehr eindeutige homosexuelle Beziehungsgeschichte durch die Medien gegangen. Die "Zärtlichkeit" mit der der Fall nun filmisch nacherzählt wird, offenbart neben dem intensiven Wunsch des "Verstehen-Wollens" von Opfer und Täter auch gewisse Sympathien für diese. Fast scheint es, als habe die kulturelle Produktion auf einen solchen Fall gewartet, um die paradoxe Haltung gegenüber dem Thema Kannibalismus, von der Christian Moser spricht, einmal buchstäblich ausdrücken zu können.

Moser konstatiert, "dass das Kannibalismus-Thema 'aktuell' ist, genauer, dass es sich dabei derzeit geradezu um eine Obsession der westlichen Kultur handelt." Wirft man einen Blick auf Anzahl und Art der hier vorgestellten Ästhetisierungen, die sich mal mehr mal weniger genau an den Fall Meiwes anlehnen, findet sich diese These bestätigt. Das "Besteck", mit dem uns diese Kannibalen-Geschichten aufgetischt werden, sind die Medien - allen voran der Film. Das hat auch Meiwes verstanden, der die Rechte an seinem Fall bereits im September letzten Jahres, nur zwei Monate nachdem er von Praunheims Ansinnen erfahren hat, an eine Hamburger Produktionsfirma verkauft hat. Diese plant nun zwei Dokumentarfilme und mindestens eine Buchpublikation daraus zuzubereiten.

Literatur: Christian Moser: Kannibalische Katharsis. Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis. Bielefeld: Aisthesis 2005