Parlamentswahlen in Tschetschenien

Pünktlich zur Wahl sind im deutschen Kino zwei Dokus über Menschenrechtsverletzungen in der russischen Teilrepublik angelaufen

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Offiziell gibt es keinen Krieg in Tschetschenien. Jedenfalls hat der russische Präsident Putin bei seinem Deutschlandbesuch im Januar verkündet ("Aussitzen, mürbe machen"), der Krieg in Tschetschenien sei schon seit drei Jahren vorbei. Gleichzeitig jedoch sollen in Tschetschenien "im Moment etwa 80.000 Mann des Verteidigungs- und des Innenministeriums stationiert sein. Insgesamt stehen im Nordkaukasus 250.000 Angehörige der russischen Armee. Dazu kommen 30.000 Tschetschenen in pro-russischen Einheiten." So der aktuelle Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker zur Menschenrechtslage in Tschetschenien. Im September gab Putin zu, "dass im Nordkaukasus mehr Sicherheitskräfte im Verhältnis zur Zivilbevölkerung stationiert seien als irgendwo anders in Europa oder Nordamerika". Trotzdem, so Putin weiter, komme "es dort zu Terroranschlägen und Verschleppungen von Menschen". Glaubt man dem Bericht der GfbV, dann handelt es sich dabei nicht um Einzelfälle. Vielmehr stehen Mord, Verschleppung und Folter in Tschetschenien auf der Tagesordnung.

In Tschetschenien wird gewählt. 600.000 Wähler können ihre Stimme abgeben, 34.000 Sicherheitskräfte überwachen die Wahl

Wenn heute in in der russischen Teilrepublik Tschetschenien gewählt wird, dann sind nicht nur mehrere hunderttausend Wahlberechtigte auf den Beinen, sondern auch zigtausend Soldaten und eine Handvoll "Wahlbeobachter". Wobei die fünf Abgesandten des Europarats keine Wahlbeobachter im eigentlichen Sinn, sondern nur eine "Präsenz vor Ort" sind. In einer Pressemitteilung des Deutschen Bundestags vom 24. November 2005 heißt es:

Mehrere internationale Organisationen, so die OSCE und der Europarat, haben entschieden, keine "offiziellen Wahlbeobachter" nach Tschetschenien zu entsenden, weil bei der Sicherheitslage und den eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten in Tschetschenien eine wirklich unabhängige Wahlbeobachtung nicht möglich ist. Um aber bei der Berichterstattung und Information über das Geschehen nicht nur auf russische Informationsquellen angewiesen zu sein, ist vom Europarat die Form einer "Präsenz vor Ort" gewählt worden.

Insgesamt sollen 21 Abgeordnete ins Oberhaus (in den Republikrat) und 40 Abgeordnete ins Unterhaus (in die Volksversammlung) gewählt werden. Nach Angaben der Wahlkommission kandidieren bei der Parlamentswahl 577 Personen. Ein Dutzend Parteien hat erklärt, an der Wahl teilnehmen zu wollen.

Eine korrekte Wahl wird von den Tschetschenen nicht erwartet

Schon in vergangenen Wahlen wurde allerdings klar, dass nur russland-freundliche Kandidaten eine reale Chance haben. Das Ganze läuft offiziell unter dem Stichwort "Tschetschenisierung" und bedeutet, dass Moskau die Macht in pro-russischen Hände abgibt. Ein Prozess, der durchaus nicht ohne Gewalt abläuft. So wurde der pro-russische Präsident Achmed Kadyrow just am "Tag des Sieges" im Mai 2004 bei einem Sprengstoffanschlag getötet. Flugs wurde Sergej Abramow von Putin zum Interims-Präsidenten ernannt. Und bei den Neuwahlen im August 2004, die von der Gesellschaft für bedrohte Völker bereits im Vorfeld als Wahlfarce bezeichnet wurden, wurde der bisherige Innenminister Alu Alachnov Tschetscheniens Präsident. Die eigentliche Macht im Land liegt jedoch in Händen des 29-jährigen Vize-Premier Ramzan Kadyrow. Er hat die Leibgarde seines ermordeten Vaters Achmed übernommen und ausgebaut. Laut GfbV sind seine "Kadyrowzy" genannten Anhänger inzwischen für zwei Drittel der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien verantwortlich.

Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse einer Umfrage von „SK-Strategia“ unter 1200 Tschetschenen im Oktober 2005 durchaus verständlich. So erwarten 72% der Befragten, dass der Ausgang der Wahlen von Vize-Premier Kadyrow bestimmt wird.

Frage: Wer wird den Ausgang der Wahlen bestimmen?

  1. Präsident Putin: 9%
  2. Vize-Premier Kadyrow: 72%
  3. Das Volk, die Wähler: 2%
  4. Präsident Alchanov: 2%
  5. Schwer zu sagen: 2%

Frage: Denken Sie, die Wahlen am 27.11. werden fair ablaufen?

  1. Ja: 8%
  2. Nein: 68%
  3. Nicht gänzlich: 20%
  4. Keine Antwort: 4%

Die Frage, ob sie am Wahltag Terroranschläge erwarteten, wurde von 68% der Befragten bejaht. Nur 2% sagten, die Wahlen seien notwendig, um Frieden in Tschetschenien herzustellen, 60% sagten, sie würden die momentane Lage zementieren.

Wobei man sich die "momentane Lage" vor Ort ungefähr so vorstellen muss: zerstörte Städte, verseuchte Umwelt, rasant steigende Aids- und Krebszahlen. Die Krankenversorgung ist katastrophal. Gleichzeitig gibt es laut GfbV nirgendwo auf der Welt so viele Minen wie in Tschetschenien und nirgendwo sterben so viele Menschen durch Minen. 70% des Territoriums wurden von der pro-russischen Regierung zum ökologischen Katastrophengebiet oder zu Territorien mit weitgehender Zerstörung der Umwelt erklärt. Dazu kommt in einigen Gegenden eine Arbeitslosenquote von 90% - ebenso hoch ist dem russischen Handelsminister zufolge der Anteil der Bevölkerung, der unter der Armutsgrenze lebt.

Warum es nicht zur Anklage kommt

"Nach elf Jahren Krieg" sind dem Bericht der GfbV zufolge "die Informationen über Menschenrechtsverletzungen, die Verletzung der Genfer Konvention, der Menschenrechtskonvention und der Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord in Tschetschenien erdrückend." Trotzdem fehlt laut GfbV eine "angemessene Reaktion, wie etwa die Einberufung eines Tribunals zur Aufklärung dieser Verbrechen mit dem Ziel des Endes der Straflosigkeit. […] Die fehlende Reaktion auf den Krieg in Tschetschenien hängt einerseits ursächlich mit der Position Russlands und dem Verhalten der russischen Regierung zusammen, andererseits aber auch mit der Krise, in der sich die internationalen Mechanismen der Menschenrechtswahrung befinden."

Die GfbV räumt zwar ein, dass die EU nicht immer tatenlos zugeschaut hat, wenn es um Tschetschenien ging. Doch leider habe sich das Vorgehen der EU in der jüngeren Vergangenheit gewandelt und ähnelt nun stark der Taktik gegenüber China:

Während es zwischen 1999 und 2003 jährlich Resolutionen in der UN-Menschenrechtskommission gab, die das russische Vorgehen in Tschetschenien verurteilten, wurde 2005 von der EU nicht einmal mehr eine Resolution vorgeschlagen. Stattdessen ließ sich die EU auf einen Handel ein: Russland willigt ein, Menschenrechtskonsultationen mit der EU aufzunehmen, wenn diese keine Resolution einbringt.

Die humanitäre Hilfe, die seitens der EU schon seit Jahren nach Tschetschenien fließt, sei durchaus löblich. Die GfbV ist jedoch der Meinung, sie reiche "für einen solch wichtigen politischen Akteur wie die EU nicht aus. Die EU muss sich politisch um ein Ende des Krieges in Tschetschenien bemühen."

Kyril und seine Freundin. Bild: Weißer Rabe/Piffl

Zahlreiche Experten haben aufgegeben

Mehr als zehn Jahre Krieg jedoch machen mürbe. Zahlreiche Experten für Menschenrechte haben den Kampf um bessere Verhältnisse in Tschetschenien aufgegeben. "Einzig der deutsche SPD-Abgeordnete Rudolf Bindig, der so oft wie kaum ein anderer nach Tschetschenien reiste und als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und Leiter der deutschen Delegation die Demokratieentwicklung in Russland beobachtete, stellte immer wieder angemessene Forderungen, z.B. nach einem Tribunal, auf." In seiner Eigenschaft als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ist der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Rudolf Bindig denn auch Teil der "Präsenz vor Ort" bei den heutigen Wahlen.

Natürlich macht Krieg nicht nur mürbe. Krieg zerstört Leben, und zwar nicht nur das Leben von Soldaten und Zivilisten, sondern auch das Leben der jeweiligen Angehörigen. Das zeigt die Doku "Weiße Raben" besonders deutlich. Portraitiert werden hauptsächlich blutjunge und nur unzureichend ausgebildete russische Soldaten, die es zunächst gar nicht erwarten können, endlichen ihren "Dienst" zu leisten – und dann kommen sie an Leib und Seele gezeichnet nach Hause.

Beim 19-jährigen Petja fehlen Arm und Bein. Sie sei wie tot, sagt seine Mutter, während sie zusieht, wie sich ihr Sohn mit den Prothesen abmüht. Andere sind psychisch gestört, wie der 19-jährige Kyril, der in Tschetschenien in Gefangenschaft geriet und drei Monate lang in einer Grube eingesperrt war. Die Mutter ist verzweifelt, weil der eigene Sohn sie nicht auf Anhieb erkannt hat. Als die Dokumentarfilmer zwei Jahre später Kontakt aufnehmen mit Mutter und Sohn, sitzt Kyril in Untersuchungshaft. Wohnungseinbruch und Vergewaltigung einer 14-Jährigen werden ihm vorgeworfen. Zehn Tage nach seiner Verurteilung zu 15 Jahren Haft stirbt die Mutter.

Die Dokumentarfilmer Johann Feindt und Tamara Trampe befragen in "Weiße Raben" mehrere junge Soldaten, eine Lazarettschwester sowie einen Afghanistan-Veteranen nach ihren Kriegserlebnissen. Mitunter kommen auch die Angehörigen zu Wort. Außerdem wird die Arbeit der Soldatenmütter Russlands vorgestellt, die unter anderem gegen den ihrer Meinung nach überflüssigen Krieg in Tschetschenien und für die Aufklärung zahlreicher Soldatenschicksale kämpfen. Nicht zuletzt treffen die Filmemacher einen russischen Kameramann, der eine so genannte "Säuberungsaktion" im tschetschenischen Komsomolskoje dokumentiert hat. Die Aufnahmen der Gefangenen ziehen sich durch den ganzen Film, immer wieder fragen die Filmemacher ihre Gesprächspartner, was ihrer Meinung nach auf den Bildern zu sehen ist.

Besonders das Schicksal von zwei jungen Frauen interessiert die Filmemacher. Natürlich wurden sie ermordet, erklärt der russische Kameramann am Ende des Films. Aufgegriffene Frauen gelten in Tschetschenien automatisch als "Scharfschützinnen", damit steht ihr Todesurteil von vornherein fest. Abgesehen von diesen Aufnahmen sieht man nicht allzu viel vom Krieg in Tschetschenien, die Befragten behaupten fast durchweg, nichts oder zumindest nicht viel mitbekommen zu haben vom Krieg und Menschenrechtsverletzungen. Auch sonst tun sie alles, um ihre Erlebnisse zu verdrängen.

Sainap Gaschajewa. Bild: Coca/GMfilms

Um Verdrängen und Vergessen und den Kampf dagegen geht es auch in Coca - die Taube aus Tschetschenien. Allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Nicht die Täter, sondern die Opfer werden in den Blick genommen. Im Zentrum der Doku steht die Menschenrechtlerin Sainap Gaschajewa, genannt "Coca", die am vergangenen Sonntag mit dem Lew-Kopelew-Preis ausgezeichnet wurde. In ihrer Heimat Tschetschenien dokumentiert sie unablässig Gräueltaten, um möglichst viel belastendes Material zu sammeln für den Tag, an dem es vielleicht einmal zur Anklage kommt, zum Beispiel vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Der Weg bis dahin ist zwar weit, aber Gaschajewa will nicht aufgeben. Ganz egal, wie die heutigen Wahlen ausgehen.