Die Zwei-Klassen-Medizin ist nicht haltbar

Ein Gespräch mit dem SPD-Gesundheitsexperten und Professor für Gesundheitsökonomie Karl Lauterbach über die Reform der Krankenversicherung

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Bürgerversicherung oder Kopfpauschale – Schlagworte bestimmen schon wieder die Debatte. Ohne Übergang setzt sich der alte Streit (Klassenkampf im Krankenhaus zwischen SPD und CDU um eine grundlegende Reform des Gesundheitssystems in der großen Koalition fort. Dabei drängt das Problem auf eine Lösung. Zwar haben die Kassen durch die Belastung der gesetzlich Versicherten – Praxisgebühr und Beitragserhöhung – in den vergangenen Jahren Luft holen können. Doch die prekäre Lage auf dem Arbeitsmarkt und die demographische Entwicklung droht denen einen Strich durch die Rechnung zu machen, die darauf gehofft haben, so wie bisher fortzufahren. Telepolis sprach mit Karl Lauterbach, SPD-Gesundheitsexperte und Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Köln.

Noch vor dem Start der großen Koalition haben Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und Sie mit der Forderung Aufsehen erregt, privat Versicherte künftig stärker zur Kasse zu bitten. Ist das nicht ein Schritt hin zur Bürgerversicherung, die von den Sozialdemokraten in den vergangenen Jahren immer wieder gefordert wurde?

Dazu muss ich zunächst einmal sagen, dass ich nach wie vor von der Richtigkeit und Notwendigkeit der Bürgerversicherung überzeugt bin. Aber bei unseren aktuellen Vorschlägen geht es um ein bescheideneres Anliegen. Die gesetzliche Krankenversicherung trägt derzeit den Hauptteil der Kosten derjenigen, die über geringe Einkommen verfügen und daher auch vermehrt erkranken. Das betrifft Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Behinderte und Menschen hohen Alters mit geringem Einkommen. Sie werden fast ausschließlich von der gesetzlichen Krankenversicherung versorgt. Die privaten Kassen beteiligten sich an diesen Belastungen kaum. Und das wollen wir ändern.

Führt an der Ausweitung der Mitgliederzahl der gesetzlichen Versicherung also kein Weg vorbei?

Karl Lauterbach: Das Konzept der Bürgerversicherung setzt im Kern auf die Ausweitung des Versichertenkreises. Ich bin persönlich nach wie vor der Meinung, dass wir ein gutes Gesundheitssystem für alle brauchen und nicht zwei Systeme, die parallel nebeneinander existieren. In der Konsequenz entsteht schließlich eine Zwei-Klassen-Medizin. Unser Vorschlag ist folgender: Wenn die zehn Prozent privat Versicherten schon nicht in die Krankenversicherung der restlichen 90 Prozent einbezogen werden können, dann sollten sie sich wenigstens stärker an den entstehenden Lasten der Allgemeinheit beteiligen. Es kann nicht sein, dass alle Problemfälle bei den gesetzlichen Kassen landen und sich weder die privaten Kassen noch die privat Versicherten an den entstehenden Aufwendungen hinreichend beteiligen. Wenn diese Situation weiterbestünde, müssten die Beitragssätze der gesetzlichen Versicherungen regelmäßig erhöht werden.

Tatsächlich ist das gesamte deutsche Sozialsystem in seinen verschiedenen Komponenten mindestens 100 Jahre alt. Inzwischen sorgt die neue Realität auf dem Arbeitsmarkt ebenso wie die demographische Entwicklung aber für Probleme an allen Ecken und Enden. Ist die Existenz privater Kassen vor diesem Hintergrund überhaupt noch tragbar?

Karl Lauterbach: Meines Erachtens ist die Parallelexistenz beider Kassensysteme langfristig nicht mehr haltbar. Man darf nicht vergessen, dass es diese Unterteilung mit einer so genannten Versicherungspflichtgrenze gibt. Privat versichern können sich demnach nur diejenigen, die ein Mindesteinkommen nachweisen können. Dieses System gibt es in Europa kein zweites Mal. Nicht ohne Grund, denn die direkte Konsequenz ist eine Zwei-Klassen-Medizin. Die Einkommensstarken, Jungen und Gesunden versichern sich privat und bekommen eine deutlich bessere Versorgung als die gesetzlich Versicherten. Jene müssen zugleich aber einen höheren Beitrag zahlen, weil sie die Solidargemeinschaft unterstützen. Einer kleinen Gruppe von Privilegierten wird es also erlaubt, sich aus dem Solidarsystem zu verabschieden. Das halte ich nicht für tragbar.

2003 haben Sie in einem Zeitungsbeitrag einen „Wettbewerb privater und gesetzlicher Kassen innerhalb eines solidarischen Systems“ gefordert. Die von Ihnen geschilderte Situation ist aber alles andere als solidarisch. Was müsse sich also ändern?

Karl Lauterbach: Jede Kasse muss jeden Versicherten aufnehmen, ohne dass Gesundheitszustand oder Alter eine Rolle spielen. Die Aufnahme muss zudem unabhängig von Einkommen stattfinden. Dies würde sicherstellen, dass sich die Risiken gerecht verteilen, zugleich würde die Rosinenpickerei zwischen den Krankenkassen beendet. Jeder vernünftige Wettbewerb setzt doch voraus, dass die Leistung das Hauptkriterium ist, nicht die Mitgliederstruktur. Ein Wettbewerb, der darauf hinausläuft, die Jüngsten, Gesündesten und die Einkommensstärksten zu gewinnen – und diese Situation besteht derzeit zwischen den privaten und gesetzlichen Versicherungen –, kann nicht funktionieren. Dabei wäre ein echter Qualitätswettbewerb in dieser Branche dringend notwendig.

Gesetzliche Kassen beruhen also auf dem Solidarprinzip, das für alle Mitglieder gilt. Private Kassen hingegen orientieren auf Profit. Lässt sich dieser dem System immanente Widerspruch überhaupt auflösen?

Karl Lauterbach: Es gibt zwei denkbare Lösungen. Es wäre auf der einen Seite möglich, den privaten Kassen das Profitmotiv weiterhin zuzugestehen, sie aber an der Finanzierung der Lasten aller Versicherten zu beteiligen. Es darf keinen Profit der privaten Kassen auf Kosten der Solidargemeinschaft geben. Und das muss auch in einer großen Koalition gefordert werden. Die andere Möglichkeit wäre, dass auch die privaten Kassen jeden Versicherten aufnehmen müssten. Diese Lösung ist mit der Union aber offensichtlich nicht zu machen.

Wie erklären Sie sich denn diesen Widerspruch aus den Reihen der Union?

Karl Lauterbach: Die Union will im Grunde keine medizinische Versorgung unabhängig vom Einkommen etablieren. Anders ist der Widerstand an dieser Stelle nicht zu erklären. CDU und CSU vertreten die Position, dass es einkommensabhängige Unterschiede in der Medizin geben sollte. Und das ist eine Haltung, die ich aus ethischen Gründen nicht mittragen kann.