Der Mensch als Tourist

Fernwehgesteuerte Gehirnwaschgänge und narrative Tickets zur Emanzipation: Die Kolonisierung der Wirklichkeit durch den Tourismus und die strategischen Dimensionen des Reisens

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Touristikanbieter werben gerne damit, keine Wünsche unerfüllt zu lassen. Tatsächlich lässt der Reisekosmos heute nichts unversucht, um jeden Millimeter unseres Lebens mit Sinn zu erfüllen. Was sich mit Blick auf die Ferne sagen lässt, gilt auch für unseren Alltag im Hier und Jetzt: Der Tourismus ist überall. Doch was ist daran so erstaunlich? Im Grunde doch nichts. Der Tourismus ist nach der Automobilindustrie die zweitgrößte Branche der Welt. Aber der Punkt ist: Wir vergessen das allzu oft und damit auch die Tatsache, dass wir durch den Tourismus maßgeblich geprägt werden. Zeit also, sich das bewusst zu machen und die strategischen Dimensionen des Reisens ins Blickfeld zu rücken.

Der Mensch als Tourist: Badelustiger an der Costa del Sol. Bild: Greenpeace

Kaum eine Werbung kommt ohne eine atemberaubende Landschaft aus. Neue Locations aus dem Exotik-Versandkatalog werden auch ständig von Hollywood präsentiert. Und das Fernsehen? Als „Reisebüro des kleinen Mannes“ (Bessing) ist es wohl die zuverlässigste Quelle für Bilder, die eine Erholung vom urbanen Arbeitsalltag in Aussicht stellen. Die Trivialisierung von Fernweh kennt keine Grenzen. Damit aber auch die Naturalisierung von touristischen Impulsen. Auch bei unseren Aktivitäten vergessen wir den Kontext leicht. Windowshopping in München, ein Museumsbesuch in Dresden oder ein Gesangswochenende an der Ostsee werden wohl kaum mit der Tourismus-Industrie in Verbindung gebracht. Warum auch? Mobilität gehört zum Alltag und damit auch Freizeitangebote, die nicht in unmittelbarer Nähe der eigenen Haustür liegen.

Dabei ist der Kulturtourismus heute ein beträchtlicher Teil der Tourismusbranche. Städte wie New York, Barcelona und Paris sind nicht zuletzt aufgrund dieses Sektors zu weltbekannten Hotspots avanciert. Abgesehen davon gibt es unzählige Spielarten des touristischen Konsums, Angebote, die von Gesundheits- bis hin zu Bildungsreisen reichen. Nichts ist undenkbar in dieser Branche. Wie in jedem kapitalistischen Sinnsystem werden auch im Tourismus stets neue Produkte ersonnen und Zielgruppen konstruiert. Es versteht sich von selbst, dass in diesem Zusammenhang auch Medien als Fortbewegungsmittel begriffen werden: Virtuelle Reisen in exotische Metropolen, Joystick-gestützte Tauchfahrten ins viktorianische Zeitalter, cineastische Ausflüge nach Mittelerde.

Der Mensch als Tourist: Soldat in Bagdad. Bild: US Army

Wenn man sich intensiver nach touristischen Spielarten umschaut, kommt man sich bald wie ein Verschwörungstheoretiker vor. Irgendwie scheint nichts nicht mit dem Reisen zu tun haben: Der Weg zur Arbeit führt durch den Großstadtdschungel und bedarf einer besonderen Ausrüstung, die Modeartikelhersteller als Survival-Kit im kolonial-urbanen Khakigrau präsentieren; das eigene, mit dem PC ausgestattete Büro, ist ein Cockpit (Fasten your Seatbelts, please!); die Kantine serviert Gerichte, die wie im Flugzeug portioniert sind; die Sekretärin kleidet sich wie eine Stewardess; das Diner gestaltet sich nach getaner Arbeit wie ein Urlaub im fernen Osten oder am Mittelmeer, jedenfalls muten die asiatischen und mediteranen Gastronomien wie touristische Themenparks an.

Wir sind alle Touristen

Wann sind wir eigentlich nicht Touristen? Als ob die Antwort darauf „niemals“ wäre, spielt die Werbung ein Sinnangebot nach dem anderen durch, in dem selbst das Touristik-fernste Unternehmen den Schulterschluss mit dem Reisekosmos sucht. Versicherungen, Krankenkassen, Bestattungsunternehmen, etc. Kaum ein Wirtschaftszweig verzichtet darauf, touristische Codes in seine Appelle einzubauen. Die aktuelle Kampagne einer Zigarettenfirma ist in diesem Zusammenhang besonders bezeichnend. Sie heißt schlichtweg „Roadmovie“ und stellt „wild trips on the road to glory“ in Aussicht. Gewinner werden in die USA verfrachtet und dort mit einem Auto und einer Kamera ausgestattet. Das Ziel besteht darin, seinen eigenen Roadmovie zu drehen.

Beworben wird diese Kampagne mit einem Postkarten-ähnlichen Prospekt, das eine Geschichte („Die Straße ruft“), eine Karte mit eingezeichneter Route („Du fährst mit offenem Verdeck...“) und acht Abziehbildchen bereit hält: Ein Autostopper einsam am Wegesrand, ein alter Sportwagen, Billiardkugeln, Billboards eines Drive-Ins, Tachometer, Tankstelle, Cafékanne und Plattenteller. Es gilt, die Bilder auf der Karte anzuordnen. Sprich: sie in eine narrative Reihenfolge zu bringen. Wie es einem gerade passt. Die Idee dieser partizipativen Werbung baut auf zweierlei. Erstens, die rituelle Gewohnheit, Schnappschüsse aus dem Urlaub in einem Album anzuordnen. Zweitens, das Bedürfnis, die persönliche Lebenswelt in einen narrativen Zusammenhang zu stellen. Das Bezeichnende nun ist, dass das (Post-)Urlaubsritual und das Ordnungssystem der Narration (an das Kino angelehnt) hier in eins fallen.

Bezeichnend, weil eigentlich auf der Hand liegen müsste, dass die Omnipräsenz des Touristischen einerseits dazu führt, dass die Realität als Reise nicht nur wahrgenommen, sondern auch modelliert wird. Und damit als Geschichte mit einem Anfangs- und Endpunkt. Stopover inklusive. Freilich, die partizipative Werbung des Tabakherstellers bietet nicht viele Möglichkeiten, eine eigene Geschichte zu konstruieren. Zu viel ist bereits vorgegeben. Zu wenig Raum bleibt, um einen eigenen Weg einzuschlagen. Sind das die Bedingungen unserer Realität? Oder kommt hier nur ein Mangel von Fantasie zum Ausdruck? Sollten wir uns darauf einstellen, auf engstem Raum unsere Individualität zu entfalten? Oder sollte es vielmehr darum gehen, neue Möglichkeiten der Aneignung und Selbstermächtigung aufzuzeigen?

Kulturtouristen in Angkor Wat

Gott ist ein Reiseleiter

Letzteres scheint auf der Agenda von Reproducts zu stehen. Die Hamburger Künstlergruppe, die sich mit ihrem Fernsehmuseum-Projekt bundesweit einen Namen gemacht hat, arbeitet in letzter Zeit immer wieder zu Themen rund um Reisen und Tourismus. Bei ihrer jüngsten Arbeit, die Ende November im Hamburger Theater Kampnagel präsentiert wurde, setzte sie ein fiktives Redaktionsbüro zur Reisevermittlung in Szene. Dabei wurden Reisepakete vorgestellt, die – selbst geschnürt – das Publikum in Staunen versetzten sollten. Und dies auch taten. Am Spektakulärsten war wohl das von Reproducts Ko-Gründer Stefan Eckel vorgestellte Angebot der Taufreisen, die ein Geistlicher aus den USA organisiert.

Swimming Pools, Badeanstalten und Seen stehen bei seinem Angebot an der Tagesordnung – alles Orte, an denen die Tourischäfchen entspannt getauft werden können. Wasserfalltaufen. Schlammtaufen. Gebirgsseetaufen. Was das Herz begehrt. Motto: Wer hält es länger unter Wasser aus? Das Angebot wurde mit Postkarten, Archivaufnahmen und Hochglanzfotos präsentiert – der spirituelle Grundton verdichtete den Tenor aller Angebote, die im Rahmen dieser denkwürdigen Performance gemacht wurden. Kraftfelder und Kraftplätze wurden angepriesen. Geteilte Abende, aufgeladene Erlebnisse und authentische Täler in Aussicht gestellt. Gott ist ein Reiseleiter – ein solcher Slogan hat nur noch gefehlt. Unausgesprochen blieb er die ganze Zeit im Raum stehen.

Religion zu dekontextualisieren, ist immer gut für einen Witz. Doch verweisen Bibel-Anleihen hier nicht nur auf das Zwerchfell. Beziehungsweise: Wie guter Humor, eröffnen Reproducts mit ihren fiktiven Reiseangeboten Räume zur Reflexion. Das Gegenüberstellen von arbiträr scheinenden Motiven mit einer kohärenten Erzählung, stellt einen relationellen Rahmen her, in dem beide Ebenen einander im Blickwechsel hinterfragen. Vielleicht inspiriert so etwas dazu, bei der Produktion des nächsten Fotoalbums einen Hollywoodfilm nachzustellen. Oder mit vergleichbaren Werkzeugen des Hausgebrauchs die Marketingfiktionen des Tourismus auf ihre Legitimität hin abzutasten, gleichzeitig aber auch eigene, unerhörte Verbindungen und narrative Muster herzustellen. Die persönliche Biographie als eine Odyssee, die nicht vorgezeichnet ist.

Ohnehin ist klar: Niemals kann es darum gehen, sich vor dem touristischen System zu verbeugen. Sondern eher darum es zu kommentieren, es zu reflektieren und im sprichwörtlichen Sinne des Wortes, auf sein Wesen hin zu dekonstruieren. Also auf seine Bauprinzipien hin zu beleuchten, auseinanderzunehmen und neu zusammensetzen – auf dass die Konstruktion transparent wird. Die spirituellen Referenzen der Reproducts-Performance deuten an: Tourismus ist zu einer Ersatz-Religion geworden (Kingdom of Promotion). Immerhin heißt es, die Ökonomie habe heute jene Rolle inne, die einst die Kirche hatte. Kein Wunder also, dass Tourismus als zweitgrößte Branche der Welt im Lichte des Heiligenscheins erstrahlt. Aber auch daran ist ablesbar: Ging man gestern zur Beichte, zieht man es heute vor, ohne Gepäck zu reisen. Las man gestern die Bibel, blättert man heute vor dem Einschlafen im TUI-Katalog.

Der Mensch als Tourist könnte sich emanzipieren, wenn er begänne, die Heilige Schrift selbst zu verfassen. Sprich: Vorhandene Bilder zu Reiseerzählungen zu verdichten und fiktive Angebote zu ersinnen, persönliche Fetischobjekte im Sinnsystem des Tourismus neu zu ordnen und dabei hin und wieder – natürlich ironisch gebrochen – auf die Religion als Beschreibungsebene zurückzugreifen.