Die Mauer um das Dorf

Die Politik Israels in Ost-Jerusalem und ihre Folgen für das Leben in Anata. Eine Reportage

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Heftige Kritik übten die EU-Vertreter in Ramallah und Jerusalem vor kurzem an der Ost-Jerusalem-Politik Israels. Der Verlauf der Mauer, die illegalen Siedlungen und die Landnahme palästinensischer Dörfer mache eine faire Zweistaaten-Lösung täglich unwahrscheinlicher, ja, sie führe einen Status Quo herbei, dem kein Palästinenser zustimmen könne, heißt es dort. Durch den Verlauf der Mauer würden palästinensische Bauern ihr eigenes Land nicht mehr betreten können, durch Hausabrisse und neue Checkpoints werde die Bevölkerung Ost-Jerusalems, die bis jetzt noch als gemäßigt galt, regelrecht radikalisiert. Der Bericht der EU-Außenminister soll aus diplomatischen Gründen erst später veröffentlicht werden. Derzeit gehen Mauerbau und Straßenkämpfe täglich weiter. Leila Dregger besuchte Anata, einen Vorort 4 km vor Jerusalem, der komplett von der Mauer eingeschlossen werden soll

Es ist, als wollten sie eine Generation von Terroristen heranzüchten. Vor dem Mauerbau ging nie eine gewaltsame Tat von dieser Schule aus. Mit welchen Argumenten sollen wir jetzt die Schüler noch daran hindern, Steine zu werfen?

Nasefah Ibraheam, Lehrerin an der Secondary School von Anata, ist empört. Vor zwei Monaten, nach einem schulfreien Freitag, stand eine über 6 Meter hohe Mauer mitten im Schulhof. Eine Information dazu hatte es vorher nicht gegeben, beteuert Nasefah. Sie muss es wissen, schließlich ist sie auch Mitglied des Gemeinderates von Anata. Seitdem steht den Schülern nur noch ein Bruchteil des bisherigen Schulhofes zur Verfügung. Wo die 13-18jährigen Jungen vorher noch in den Pausen Fußball spielten, gibt es jetzt einen anderen Pausensport. Und der beginnt pünktlich um 11.30 Uhr.

Mauer, im Hintergrund die Siedlung

Es ist soweit. Rund zwei Dutzend 13-14jährige Jungen stehen an den Ritzen der Mauer und warten. "Jehud!" ruft einer. Tatsächlich, pünktlich zur Pausenzeit taucht unten an der Straße ein gepanzerter Jeep der israelischen Grenzpolizei auf. In wenigen Sekunden wird er von einem Steinhagel begrüßt, der auf sein Dach prasselt. Der Jeep zieht sich wieder zurück. Die nächste Schulstunde beginnt. Alltag in Anata.

Das 9.000 Einwohner zählende Dorf Anata liegt 4 km nordöstlich von Jerusalem. Die israelische Mauer, die in der ganzen Westbank israelische Siedlungen von palästinensischen Dörfern trennen soll, verläuft direkt um den Dorfkern. Zu vierzig Prozent ist sie hier bereits fertiggestellt. Um die Baustelle gibt es fast täglich Straßenkämpfe zwischen Jugendlichen und Grenzpolizisten, die den Mauerbau schützen sollen. Der Ort ist im Ausnahmezustand. Ein Checkpoint bildet die einzige Zufahrtsmöglichkeit von und nach Anata.

Wir leben wie in einem Gefängnis. Wenn es so weiter geht, ist Anata in wenigen Jahren ein Flüchtlingslager.

Nasefah Ibraheam

Vom Dach der Schule kann man weit in den Osten schauen, wo die Wüste beginnt. In weiten Bögen übersieht man den Verlauf der Mauer aus Betonfertigeinheiten, die teilweise bis 8 Meter hoch aufgerichtet sind. Mit den Straßen, Zäunen und Sicherheitsstreifen auf beiden Seiten ist die offiziell "Security Fence" genannte Anlage rund 70 Meter breit. Ihr Verlauf ist keineswegs identisch mit der sogenannten Grüne Linie (Green Line), die nach dem Oslo-Abkommen die Grenze zwischen Israel und Palästina bilden sollte.

Der Grund für diesen "Sekundärzaun" liegt weiter oben am Hang, in rund einem Kilometer Entfernung: Dort stehen ordentliche Reihen neuerer Häuser. Sie gehören zu Neveh Brat, einer der vier israelischen Siedlungen, die zwischen 2001 und 2003 rund um Anata entstanden sind. Es ist das Bedürfnis der Siedler nach Sicherheit, welches das Argument liefert, Anata einzumauern. Illegalerweise, jedenfalls nach Auffassung des UN-Sicherheitsrates. In dessen Resolution Nr. 465 von 1980 heißt es speziell: Alle israelischen Unternehmungen, die den physikalischen Charakter, die Bevölkerungszusammensetzung (...) der seit 1967 besetzten, palästinensischen oder anderen arabischen Gebieten einschließlich Jerusalem verändern sollen, haben keine legale Gültigkeit.

Der Gemeinderatvorsitzende zeigt vom Dach der Schule die tägliche Auseinandersetzung zwischen Soldaten und Kindern

Legal oder nicht, im März 2004 erhielt der Gemeinderat ein Schreiben der israelischen Militärbehörde, in dem ihnen mitgeteilt wurde, dass das Land nördlich und östlich des Ortes konfisziert werden würde. Ihr eiliger Protest nützte nichts. Am 27. Juni begann die Planierung des Baugrundes. Die derzeitige Baustelle liegt genau unterhalb der Schule, in nur etwa 20 Meter Entfernung. Die Mauer im Schulhof, so erfuhren die Lehrer nach mehrmaligem Nachfragen, sei nur temporär, um den eigentlichen Mauerbau vor Steinwürfen zu schützen. Auch die Fenster in Richtung Mauerbau dürfen nicht mehr geöffnet werden.

"Wenn es wirklich um Sicherheit ginge", fragt Mohamed Aburafia, Vorsitzender des Gemeinderates von Anata, den wir auf dem Dach der Schule treffen, "warum bauen sie dann die Mauer nicht um ihre Siedlungen herum? Oder meinetwegen auch auf halber Strecke zwischen dem Dorf und der Siedlung? Statt dessen werden wir hier regelrecht stranguliert. Und unser Land fällt an die Israelis."

Mit fast 30.000 Dunum (= 30 Quadratkilometer) gehörte Anata bis vor kurzem zu den größten Dörfern Palästinas. Es erstreckt sich zwischen Jerusalem im Westen bis Jericho im Osten. Durch den Bau der vier Siedlungen, einer Militärstation und zwei Siedlerstraßen verbleiben dem Ort nur noch etwa 1300 Dunum.

Die Mauer ist ja nur der jüngste Akt. Schon durch die Straßen, die nur von den Siedlern benutzt werden dürfen, können unsere Bauern seit Jahren nicht mehr auf ihr Land.

Mohamed Aburafia

Nicht nur die Landwirtschaft liegt brach. Auch die Steinbrüche, die Marmor nach Jerusalem und bis nach Amman lieferten, liegen still. Und: Es stinkt in der Stadt: Der Müll wird auf der Straße verbrannt, für Müllentsorgung steht nicht mehr ausreichend Land zur Verfügung. Israelische und palästinensische NGOs haben Protest eingelegt:

Den Prozess haben wir verloren, jedenfalls was den Gesamtverlauf der Mauer angeht. Aber über das Teilstück unterhalb der Schule steht noch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes aus. Bis dahin darf eigentlich nicht weitergebaut werden. Wie Sie sehen, geschieht es dennoch. Die Wut der Bewohner von Anata ist für mich vollkommen verständlich.

Amit Weiss von der Friedensgruppe Middleway

Leidtragende des Mauerbaus gibt es viele. Die Arbeitslosigkeit ist in die Höhe geschnellt, Arbeitnehmer mussten ihre Arbeit in Jerusalem aufgeben, da sie durch den Checkpoint nicht mehr zuverlässig hinkamen; Studenten kommen nicht mehr zur Universität; Lehrer erreichen ihre Arbeit nicht mehr pünktlich; laut der israelischen Koalition gegen Hauszerstörung (ICAHD) wurden 400 Häuser in Anata für Mauerbau und Siedlerstraßen abgerissen; Moslems wurden auf dem Weg zu heiligen Plätzen am Checkpoint zurückgehalten; die medizinische Versorgung ist erschwert.

Die israelische Siedlung in Sichtweite der Schule

Bei all dem hat es Mohammed Alrifie besonders hart getroffen. Der kräftige 38-Jährige ist Pferdezüchter. Sein weißer Araberhengst Mahran ist mittlerweile 18 Jahre alt. Bis 2001 gewann dieser die höchsten Preise Israels. Jetzt steht das berühmte Zuchtpferd seit vier Jahren in einem käfigartigen Bretterverschlag. Es hat kaum Platz, um sich umzudrehen. Um seine Box, umgeben von Müll, stehen ein halbes Dutzend weitere Pferdekäfige; das Ganze befindet sich in einem kleinen Karree zwischen Wohnhäusern. Ein Bild des Elends. Rund 20 Tiere stehen hier, teilweise im Dunkeln, und sind zur Bewegungslosigkeit verurteilt. Einige haben aufgeschlagene Beine von den engen Käfigwänden. Eine Stute hebt und senkt unablässig das Haupt und den rechten Huf: Ganz offensichtlich ist sie hospitalisiert. In Europa dürfte kein Hund so gehalten werden. Doch einen Tierschutz gibt es nicht in Anata, ebenso wenig wie ein Krankenhaus oder eine Müllabfuhr.

"Meine Tiere leiden so, wie ich leide", klagt er. Die Wände seines Schuppens sind gepflastert mit Auszeichnungen und Preisen. "Ich verbringe jede Minute hier, ich versuche auch, die Tiere zu bewegen, aber das geht nur auf der Straße."

Vor acht Jahren hatte Mohammed das nötige Geld gespart, um seinen Lebenstraum zu erfüllen: 1997 beantragte er eine Baugenehmigung für ein Arabergestüt auf seinem eigenen Land. Doch Palästinenser einer C-Zone, zu der Anata gehört, erhielten schon lange keine Baugenehmigung mehr. Die C-Zonen Palästinas sind laut dem Oslo-Vertrag Bereiche unter voller israelischer Verwaltung.

Diskussion mit Natefah Ibraheam, Mohammed Aburafia, Amit Weiss

"Ich versuchte es ohne Genehmigung, was sollte ich tun?", erzählt er. Er baute einen Reitstall. Es wurde der einzige Platz in Palästina, wo junge Leute reiten lernen konnten. Doch er hatte Pech:

Das erste Mal kamen sie morgens um sechs. Soldaten. Sie gaben mir eine Stunde. Die Bulldozer warteten schon. Alles, was ich tun konnte, war die Stalltüren zu öffnen und die Pferde hinauszujagen. Von 40 Pferden kamen 20 später zu mir zurück.

Mohammed Alrifie

Sein Herz brach, und das ist wörtlich zu verstehen: Der damals 31-Jährige wurde mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus gebracht. Noch zweimal versuchte er zu bauen, das letzte Mal 2001. Dann gab ihm seine Familie dieses Stück Land mitten im Ort. Inzwischen entstand auf seinem Land tatsächlich ein Pferdestall: Gebaut von israelischen Siedlern. "Sie erhielten sofort eine Baugenehmigung, und das auf meinem Land, was ist daran Recht?"

Nach Auffassung des israelischen Informationszentrums für Menschenrechte in den besetzten Gebieten ist dies Teil einer Gesamtstrategie der israelischen Behörden, die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben. Auf deren Homepage findet sich folgende Formel: Keine Stadtplanung, keine Baugenehmigung, Wohnungsnot, illegaler Wohnungsbau, Zerstörung von Häusern, Auszug von Bewohnern. Mohammed Alirifie aber wird bleiben, schon wegen der Pferde.

Auf einmal liegt scharfer Gasgeruch über dem Hügel des Wohnviertels und treibt uns Tränen in die Augen. Unten, vor der Schule, stehen ein paar Dutzend Polizisten, zwei davon auf Pferden. Dazwischen, auf halber Höhe zu uns, eine Gruppe Jugendlicher. Sie schleudern Steine und CDs, besonders die letzteren fliegen weit. Die Polizisten warten nicht lange und antworten mit Tränengas. In wenigen Sekunden liegt eine dichte Rauchwolke über dem Wohnviertel. Auch der Kindergarten liegt im Nebel. Die Schaulustigen, meistens Frauen, flüchten sich von den Dächern und Terrassen in die Häuser; die Jugendlichen haben sich zerstreut.

Diskussion mit Polizei

"Meine Pferde", schreit Mohammed und rennt los, ein Tuch um den Mund gebunden. Drei Tränengasbomben sind mitten in den Ställen gelandet. Die braune Stute hustet, ein anderes Pferd muss beruhigt werden, eine Schockbombe landete in seinem Stall.

"So geht das jeden Tag", schimpft Mohammeds Schwester. "Wir haben einen Säugling im Haus, er muss seit Tagen würgen. Eine Lehrerin der Schule, May Hefzi, hatte eine Fehlgeburt." Auch auf der anderen Seite gibt es Verletzungen. Am Sonntag verlor ein Polizist ein Auge.

Ovad Attar, Offizier der israelischen Grenzpolizei, tut seit vier Monaten Dienst in Anata. Ausgerechnet Mohammeds hochgelegenes Elternhaus sucht er als strategischen Ort, um von dort aus Kontrolle über die Stadt zu erlangen. "Wir müssen so hart vorgehen, die Einwohner haben keine Kontrolle über ihre Kinder", rechtfertigt er sein Vorgehen. "Wir müssen den Mauerbau schützen, das ist unser Auftrag."

Auf unsere Frage, warum er einen illegalen, in den Augen des UN-Sicherheitsrates geächteten Bau schützt, ist seine Antwort knapp: "Ich habe meine Befehle, denen ich folgen muss. Um Politik kümmere ich mich nicht."

Ein Kind vor der 8 m hohen Mauer in Israel-Palästina

Die offizielle Stellungnahme des Verteidigungsministeriums ist nicht viel ausführlicher: "Die Mauer wird aus Sicherheitsgründen gebaut. Ihr Verlauf wurde so ausgewählt, dass der ökonomische Schaden minimiert wird." Auf die Fragen nach Anatas Landverlust von mehr als 90 % wurde keine Antwort erteilt. Der Bau der Mauer geht weiter.

"Wenn die Mauer fertig ist", fürchtet Mohammeds Schwester, "wird es noch schlimmer werden. Wir werden uns nie damit abfinden, in einem Gefängnis zu leben."

Sie steht mit ihrer Furcht nicht alleine da. Umfragen von NGOs in der Bevölkerung bestätigen, dass Anata nichts Gutes von der Zukunft erwartet. "Unser ganzes Land wird konfisziert werden. Wir sind jetzt schon arm, aber dann werden wir völlig abgeschnitten von unseren Nachbardörfern sein und keinen Handel mehr treiben können."

Was für Möglichkeiten des zivilen Widerstandes stehen den Einwohnern noch zur Verfügung?

Die rechtlichen Schritte sind so gut wie ausgeschöpft. Wir versuchen jetzt vor allem, die israelische und die internationale Bevölkerung zu informieren. Vielen ist nicht bewusst, dass dies keine Mauer zwischen zwei Ländern ist, sondern eine Mauer, die die Westbank in sehr kleine Abschnitte zerteilt und dabei immer mehr Land für israelische Siedler gewinnt. Wir haben friedliche Besetzungen von Baustellen organisiert, und es ist auch schon gelungen, Baustellen ganz zum Stillstand zu bringen. Natürlich nur vorübergehend. Letztlich ist es ein Thema der Politik: die Besetzungspolitik Israels muss beendet werden. Ein Mittel, das wir diskutieren, ist ökonomischer Boykott von Produkten, die aus Siedlungen kommen.

Amit Weiss