Kampf um die Gehirne

Wer schleppt wem die Forscher ab?

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Viel ist darüber diskutiert worden, dass die besten deutschen Gehirne das Land verlassen und wie dieser Aderlass überhaupt von Wissenschaft und Wirtschaft verkraftet werden kann. Brain Drain wird diese Migration neudeutsch genannt und nur allzu oft wird in der nationalistisch eingefärbten Debatte vergessen, dass internationale und interdisziplinäre Forschungs-Teams hervorragende Ergebnisse liefern. Das gilt ganz besonders für die großen Probleme der längst globalisierten Welt.

In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science schreibt der ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Hubert Markl unter der schönen Überschrift „Battle of the brains?“ ein leidenschaftliches Plädoyer für die Internationalisierung der Wissenschaft.

(Bild: Metamorphosis Foundation)

Natürlich sind junge Wissenschaftler daran interessiert, dort zu arbeiten, wo ihnen die besten Möglichkeiten geboten werden. Das führt seit vielen Jahren zu einer intensiven Wanderungsbewegung der besten Köpfe. Inzwischen gibt es viel Kritik von Politikern, Akademiker und Wirtschaftsverbänden an dieser Abwanderung der jungen Intellektuellen und bestens Gebildeten. „Brain Drain“ trockne die Zukunftschancen ganzer Regionen aus, so lautet das Hauptargument.

Nach der Definition der Initiative für Marktwirtschaft – der umstrittenen PR-Organisation der Arbeitgeber (Der Reform-Glanz schwindet) – bedeutet Brain Drain auf Deutsch

„Abfluss von Intelligenz bzw. Verstand“. Damit wird eine Entwicklung beschrieben, bei der ein Land Spitzen- und Führungskräfte aus Forschung und Wirtschaft an andere Länder verliert, weil sie dort bessere Bedingungen für ihre Arbeit vorfinden. Die hoch qualifizierten Migranten profitieren in aller Regel persönlich davon, wenn sie ihre Arbeit in einem anderen Land fortsetzen. Ihr Heimatland verliert nicht nur einen klugen Kopf, sondern vor allem wichtiges Potenzial für seine Wirtschaft und seine internationale Wettbewerbsfähigkeit.

Das umgekehrte Phänomen, bzw. die umgekehrte Betrachtung des gleichen Vorgangs, also die Zuwanderung von Mitgliedern der Wissenselite, nennt sich Brain Gain und wird aus nationaler Sicht folglich positiv bewertet:

„Brain Gain“ ist englisch und heißt auf Deutsch „Gewinn von Intelligenz bzw. Verstand“. Der Begriff beschreibt eine Entwicklung, bei der ein Land Spitzen- und Führungskräfte aus Forschung und Wirtschaft aus anderen Ländern gewinnt, weil sie die Arbeitsbedingungen als schlechter empfinden. Während sich die hoch qualifizierten Migranten in ihrer Wahlheimat besser entwickeln und vor allem auch mehr verdienen können als in ihrer Heimat, profitiert ihre neue Wirkungsstätte von ihnen als zusätzlichem Potenzial im Kampf um Spitzenpositionen im internationalen Wettbewerb.

Wirtschaft und Schule

Die Besten hauen ab, die Besten kommen

Tatsächlich verlieren vor allem die ärmsten Staaten der Erde den Löwenteil ihrer geistigen Überflieger am Ende ihrer akademischen Ausbildung, wie ein Bericht der Weltbank dieses Jahr zeigte (Brain Drain und Brain Waste). Sobald sich die politischen Verhältnisse und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten ändern, kehren aber viele nach einer Weiterbildungsphase oder einigen Berufsjahren zurück. Das verdeutlicht nicht zuletzt das Beispiel Indiens (Indien boomt). Und sie bringen neue Eindrücke, erweiterte Perspektiven und kulturelle Kompetenzen mit, die ihren Herkunftsregionen zugute kommen.

Dorthin zu gehen, wo sich bessere Lebensmöglichkeiten bieten, liegt in der Natur des Homo sapiens. Mehr als 120 Millionen Menschen sind weltweit unterwegs, um Krieg, Verfolgung oder schlichtem Elend zu entkommen ("Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten" und Ansturm auf die neue Mauer). Die Eliten können sich aussuchen, wohin sie gehen wollen – und das tun sie auch. Das ist kein neuer Trend, es sei nur daran erinnert, dass ein beträchtlicher Teil der deutschen Kultur- und Wissenselite zu Beginn oder während des Nationalsozialismus emigrierte.

Die Ergebnisse der globalen Vermischung von Wissen, des gemeinsamen Erarbeitens internationaler Teams oder Kooperationen lassen sich sehen. Heute versucht jedes Forschungsinstitut die besten Köpfe aus aller Welt zu rekrutieren – oder mit ihnen zusammenzuarbeiten. Bei der Max-Planck-Gesellschaft stammt ein Viertel der 278 wissenschaftlichen Direktoren aus dem Ausland.

Hubert Markl stellt klar, dass wissenschaftliche Talente kein nationaler Besitz sind, es handelt sich bei den Human Ressources um menschliche Individuen, die jedes Recht haben, über ihren Lebensweg selbst zu bestimmen. Sie entscheiden selbst, wo sie sich für eine Weile oder auf Dauer niederlassen, lernen oder arbeiten wollen.

Für Deutschland spielt Brain Drain keine sehr große Rolle, im Grunde führt eine vorübergehende Migration von Wissenschaftlern sogar zu einem Brain Gain, denn sie kommen fortgebildet, mit neuen Ideen, erweiterten Sprachkenntnissen und kulturellen Fähigkeiten zurück. Eine Studie der deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zeigte vergangenes Jahr, dass zwar knapp drei Viertel der Stipendiaten die Chance für einen Auslandsaufenthalt nutzen, aber 85 Prozent arbeiten heute an deutschen Universitäten oder Instituten (Wissenschaft und Karriere). Allein durch diese Stipendiaten entstand ein internationales und zugleich persönliches Netzwerk, denn sie bleiben mit ihren ehemaligen Kollegen im Ausland in Kontakt. Wissenschaft muss über den eigenen Tellerrand hinausschauen. Hubert Markl schreibt:

Wissenschaft ist ein globaler gesellschaftlicher Betrieb, der kontinuierliche Stimulation durch die Vielfalt kultureller Traditionen, Sprachen und Literaturen, Bildungssysteme, Geschlecht und Begabungen braucht. (…) Wir sollten uns weniger Sorgen über Brain Drain machen und stattdessen die wissenschaftlichen Verbindungen stärken, indem wir Drainagen in beide Richtungen fördern. (…) Wir sollten uns darauf konzentrieren, zusammen zu kommen, um die beunruhigenden Herausforderungen anzunehmen, die in einer globalen Gesellschaft auf die Wissenschaftler zukommen.

Zu den Themen, die einen globalen Austausch des Wissens erfordern – einen gemeinsamen Kampf der Gehirne statt des Kampfes um Gehirne – zählt Markl den Klimawandel, die Zukunftsenergien, das Wassermanagement und die epidemischen Infektionskrankheiten. Bei der Suche nach Lösungen dieser Probleme ist das Bildungskapital, ganz unabhängig von seiner Herkunft, sicher gut angelegt.