Journalismus und Mediendämmerung

Zum Strukturwandel der virtuell irritierten Öffentlichkeit

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„Müntefering hat sich keineswegs nur von Merkels Lachen becircen lassen. Auch die neue Sozialsemantik der Kanzlerin hätte gereicht, ihn zutraulich zu machen.“ (Der Spiegel, Nr. 49, 5.12.05). Wir vernehmen also ein circensisches Lachen, geeignet dazu, ein Hündchen namens „Münte“ zutraulich zu machen, das aber vollends dem diskreten Charme der bourgeoisen Sozialsemantik erliegt. Das ist nicht erst seit heute Journalismus. Aufgeboten wird nicht weniger als der Mythos des einfühlsamen journalistischen Superbeobachters, der nach Gefühlen fragt, wo andere noch vordergründig in politische Programme und Inhalte verstrickt sind. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Gefühlsnaivität, die ihn, bis der "Spiegel" kam, die geheimen Motive der Mächtigen zwischen verführerischem Lachen und klingenden Worten nicht durchschauen ließ. Von der Sozialsemantik Merkels bis zu den Untiefen der interpretatorisch offenen Foltersemantik der Condoleezza Rice gibt es journalistisch also scheinbar alle Hände voll zu tun.

Matt Drudge und andere haben im Angesicht des gegenwärtig noch juvenilen Informationsmolochs „Internet“ dagegen das Ende des Journalismus verkündet. Das Internet ist der Ort permanenter Mediendämmerung. Klassische Medien und ihre Sachwalter werden im guten Hegelschen Sinne einverleibt, schlicht gefressen oder auf traurige Nischen beschieden. Der klassische Journalismus ist jedenfalls mächtig angeschlagen. Das rechtfertigt sich bereits vor jeder medientheoretischen Reflexion im Blick auf die verheerenden ökonomischen Einbrüche im Zeitschriften- und Zeitungsgewerbe. Das Anzeigengeschäft wird zunehmend durch das Netz effektiver erledigt.

Google Base ist die neueste Schreckensmeldung. Google präsentiert eine kostenlose Webdatenbank, die Kleinanzeigenmarkt, Jobbörse oder irgendetwas sein kann, dessen Verwendungsweisen wir heute nicht mal ahnen. Das Internet ist so geschmeidig, rasant und unvorhersehbar, dass klassische Medien wie die Presse kaum noch mithalten können. Und während die Zeitung von gestern im Müll landet, sendet das Netz immer weiter und weiter und weiter.

Im Weltinnenraum des Journalismus

Der Strukturwandel der Öffentlichkeit durch das Internet geht indes weit über die Effektuierung von medialen Angeboten hinaus. Zeitungen und Zeitschriften und selbst das müder werdende TV sind keine medial unangefochtenen Herrschaftszentren mehr, die allverbindlich in das weite Hinterland der Meinungen strahlen. Wenn die Online-Nutzung wächst – und nichts spricht gegen ihren weiteren Siegeszug - reduziert sich die Kommunikationsmacht klassischer Medien. Die Medienverschmelzungen sind ihrer Form und ihrem Inhalt nach so weitreichend und unabgeschlossen, dass alle Bestandsaufnahmen einer „real-virtuellen“ Öffentlichkeit höchst vorläufig sind.

Das zentrale Dilemma journalistischer Tätigkeit in diesem unwirtlichen Milieu ist die Vielzahl der neu sprudelnden Informationsquellen und Meinungsmacher, sind die unzähligen Sender, digitalen Tagebücher, Foren, Chatrooms, Blogs, die zur Entprofessionalisierung des Gewerbes im guten wie im schlechten Sinne beitragen. Nach Spiegel-Online gibt es inzwischen mehr Blogger als deren Leser. Die „Blogistik“ präsentiert jedoch einen für ein Nachrichten- und Meinungsmedium paradoxen Medienautismus der besonderen Art: Vier Prozent von mehr als 100.000 Befragten besuchen nach einer Umfrage regelmäßig einen Blog. Zwölf Prozent dieser Gruppe beschreiben sich als aktive Blogger.

Die fundamentale Kritik an der Mediengesellschaft bezog sich immer auf die demokratisch anrüchige Einseitigkeit der Sendeverhältnisse. Wenigen Sendern stehen viele Medien-Subjekte gegenüber. Die Verkehrung der klassischen Sendeverhältnisse, die unsere altvordere Medienkritik weitgehend Makulatur werden lässt, wurde zunächst euphorisch begrüßt: Potentiell wird jeder Medienunterworfene in den Online-Herrlichkeiten zum autonomen Sender. Der Kampf um die Meinungsmacht kann nach dieser kopernikanischen Wende nicht mehr mit den klassischen Parametern der Pressekonzentration vermessen werden. Zwar gibt es neue mächtige Medienkonglomerate wie etwa AOL Time Warner. Aber wer vor Medienoligopolen oder -monopolen warnt, kommt ideologisch zu spät.

An Stelle der Meinungsmachtlehren von gestern gilt heute eine mediale Brandstifter-Theorie: Eine Botschaft, die nicht mal gut platziert sein muss und oft nicht mehr als Verschwörungs-Hautgout ausstrahlt, kann sich über die magischen Kanäle der unzähligen Netzkoordinaten so schnell bewegen, dass die klassischen Mediensaurier allenfalls nacheilen. Sollte man diese Informationsbrandstiftung nicht mit virtuellen Viren vergleichen, deren Verbreitung kettenreaktiv verläuft und die mit derselben Rohrpost ausgelöst werden mag?

Das uns geläufige Medienverständnis ist ein Restposten der Aufklärung, der nun in einer Öffentlichkeit überleben will, die sich als ein diffuses Milieu privater und öffentlicher Meinungen präsentiert. Der alte Begriff der Öffentlichkeit wird obsolet, wenn Meinungsfilter nicht mehr existieren und für das seit je fragile Ethos der Trennung von Information und Meinung keine Zeit mehr und noch weniger Verständnis übrig bleibt. Die strikte Sonderung von Textsorten ist in der Hyperlinko-Manie vollends Vergangenheit.

Meinung und Nachricht zu differenzieren war schon immer ein frustrationstauglicher Anspruch, den viele erfolgreiche Publikationen nie allzu ernst nahmen. Nicht nur „Bild dir eine Meinung“ macht klar, dass in Zeiten schreiender Aufmerksamkeit primär Meinung zählt, vor jeder Verifikation der Fakten. Selbst Spiegel-Leser haben diese Differenz eher von ferne kennen gelernt, weil das Besondere dieser Art von omnipotenter Berichterstattung doch gerade darin besteht, den Leser noch über die dunkelsten Hintergründe zu unterrichten, noch zwischen den undurchschaubarsten Machtverhältnissen die verstecktesten Motive zu wittern – was schließlich in der Kolportage „gut unterrichteter Kreise“ endet.

Früher bedeutete Öffentlichkeit, dass Filter, Zensur und diverse Ausgrenzungssysteme durchlaufen werden mussten, bis eine Meinung überhaupt als öffentliche das Licht der Welt erblickte. In einer Demokratie durfte zwar jeder mehr oder weniger sagen, was er wollte – indes: das war gut zu verkraften, so lange diese Meinung wenig Chance hatte, die Öffentlichkeit zu behelligen. Diese Ausschlussverfahren gegenüber weniger talentierten Demokraten bzw. „politisch nicht korrekten“ Meinungsinhabern brechen weg. Zuvor waren die Positionen klar konturiert, es existierten, wie es wenige Parteien gab, vertretbare Meinungen und daneben der riesige Stammtisch bzw. die privaten Zirkel ohne öffentlichen Geltungsanspruch. Die einsame Masse gab es zwar nie, aber sie konnte soziologisch so definiert und in ihrer politischen Bedeutung ins Niemandsland verräumt werden, weil sie eben keine echten Sprachrohre besaß.

Neue Herrlichkeit oder Untergang der Meinungsdemokratien?

Matt Drudge, Betreiber des bekannt-berüchtigten Drudge Report, meint nun: "Das Zeitalter der Zeroes (der Nullen), der Reporter, die tun und lassen können was sie wollen, ist angebrochen."

Vor jeder selbst gefälligen Polemik ist aber festzuhalten, dass es dem nicht hintergehbaren Meinungsideal der Demokratie doch angeblich entspricht, wenn multiperspektivische Verhältnisse entstehen. Tagesschau und Tageszeitung haben nicht mehr die Lufthoheit über dem Gebiet der Meinungen. Der Informationsstand von Online-Lesern ist oft sehr gut, weil viele heterogene Informationsquellen verfügbar sind und augenscheinlich – den Kommentaren nach zu schließen – auch genutzt werden.

Bedenklich ist diese Veränderung der Medienverhältnisse, weil der Meinungswildwuchs, der sich nicht in das pastörliche Bild der vielfach beschworenen „Meinungsvielfalt“ fügt, Meinungen überhaupt diskreditiert. Mediengesellschaften fehlen Instanzen, die Meinungen wiederum verbindlich evaluieren. Solche Meta-Meinungen wären auch zu Recht verdächtig, wiederum bloße Meinungen zu sein - so verdächtig wie die nicht zufällig im virtuellen Biotop besonders gut sprießenden Verschwörungstheorien, die den Verdacht zum Fetisch machen, um darin schließlich keine andere Wahrheit mehr gelten lassen zu können als jene, die den Verdacht nährt.

Dabei war vordem für den Journalismus, der entgegen seinem Namen auch über den Tag hinaus wirken will, doch alles so bequem: Das öffentliche Subjekt, der aufgeklärte Demokrat, der Idealtyp des gesellschaftlich verantwortlich Handelnden hingen an redaktionell vorfabrizierten Informationen wie am Tropf der Demokratie. „Die von der Redaktion erarbeiteten Inhalte dienen als effiziente Informationsquelle für die Zielgruppe der gut ausgebildeten Nutzer“, behauptet heute noch die F.A.Z. Electronic Media GmbH.

Wenn dieser gut ausgebildete Informationshumunculus aber nur eine Fiktion ist, wäre das vormalige hehre Selbstverständnis von Journalisten und ihrer eifrigen Leser nur noch eine blässliche bis verblasene Attitüde. Der klassische Anspruch objektiver Berichterstattung und kritischer Begleitung des politischen und gesellschaftlichen Geschehens könnte anachronistisch sein, weil Politik sich als rationalisierbares Handeln gründlich diskreditiert hat und mehr oder weniger gut kaschierten Intuitionen folgt. Gibt es die von der FAZ herausgestellten „effizienten Informationsquellen“ überhaupt, wenn offensichtlich die Auguren selbst, etwa die gerade neu gewählten, nicht mehr wissen, wie zu handeln ist? Wie gut waren die Informationen der freien Welt, als Colin Powell eine Märchenstunde feierte, die ihm heute übel aufstößt? Hinterher sind natürlich alle klüger, nur können dann die kostbaren Info-Quellen für den präformatierten Intelligenzblatt-Leser nicht sehr effizient gewesen sein. Doch sollte es noch schlimmer kommen?

Journalismus als Erkenntnisgeschäft hat ausgedient

Wer will in komplexen Problemstellungen überhaupt ein politisches Handlungskonzept noch als richtig oder falsch bewerten? Journalismus schien zuvor für griffige Komplexitätsreduktionen einer letztlich doch von Menschen beherrschbaren Welt zuständig zu sein. Der bundesrepublikanische Journalismus bedient seit je die Fiktion eines mehr oder minder vernünftigen Politikbetriebs, einer Demokratie, die Meinungen und Informationen voraussetzt, um sich in diesem Wechselspiel selbst zu reproduzieren.

Die Redaktion der F.A.Z. Electronic Media GmbH (im Folgenden „die Redaktion” genannt) ist der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verpflichtet, wie sie Kernbestand des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 ist. Die Redaktion steht ein für die parlamentarische, gewaltenteilende und rechtsstaatliche Demokratie, deren unabdingbare Voraussetzungen die Möglichkeit freier Wahl zwischen mehreren Parteien, die Bindung allen staatlichen Handelns an die Gesetze und die Kontrolle allen staatlichen Handelns durch unabhängige Richter sind.

Dieser Anspruch liest sich wie ein von allen wählbares Parteiprogramm, das keine Abweichungen zulässt, darin aber eben völlig unverbindlich bleibt. Erst hinter diesem verfassungstreuen Apriori beginnt jedoch das eigentliche Minenfeld der Demokratie und nicht weniger das des Journalismus und hier wäre – wenn überhaupt - ein Redaktionskodex von Nöten, der sich als ein Unterschied bezeichnen lässt, der auch einen Unterschied macht.

Politik lässt sich kaum mehr als das zwangsläufige Ergebnis eines letztlich doch vernünftig steuerbaren Konsenses verkaufen, der, wenn nicht zur Sonne, so doch wenigstens zur Wahrheit führt, sondern erscheint vornehmlich als das sumpfige Ergebnis von Machtkämpfen klandestin veranlagter Meinungsführer. Die gegenwärtigen massiven politischen Auseinandersetzungen um die richtige Richtung von Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik haben den Glauben an die rationale Steuerbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse gründlich ruiniert. Der Glaube von wirklich aufgeklärten Demokraten an die Entscheidbarkeit politischer Fragen hat in einem Ausmaß gelitten, der sicher zum wenigsten durch einen Journalismus zu heilen ist, der sich integer demokratisch bis staatstragend präsentiert.

An der nicht mehr allzu neuen Unübersichtlichkeit der Verhältnisse vermag dieser Journalismus wenig zu ändern, so sehr er das auch prätendieren muss, weil alles andere für seine angeschlagene Existenz vollends tödlich wäre. Kaum dass wir es gemerkt haben, hat Journalismus als Erkenntnisgeschäft weitgehend ausgedient. Journalismus als Teilfunktion der Medien erscheint als ein selbstreferentielles System, obwohl doch gerade seine Einmischungsfunktion in politische Verhältnisse als seine herausragendeste Eigenschaft galt. Das heißt zwar nicht, dass der Journalismus keine Informationsherrschaft und damit politische Macht mehr besitzt, aber die konkreten Wirkungen auf das Demokratiepotenzial einer Gesellschaft und die Verbesserung der Verhältnisse sind kaum ermittelbar. Noch einmal die FAZ:

Best Practice: Die Redaktion bemüht sich, für ihre definierte Zielgruppe die jeweils interessantesten Angebote und Kooperationspartner zusammenzustellen, wobei die journalistische Qualität und Glaubwürdigkeit des Gesamtangebots oberste Priorität hat.

Wer so auf Medienmoral hält, hat vielleicht insgeheim den Glauben, wenn nicht an sich, so doch an die gute Sache längst verloren. Denn nicht nur das journalistische Ethos ist erschüttert, sondern auch der Leser, der aufgeklärte und mündige, der ständig von journalistischen Bescheidwissern nachmunitioniert wird, um die Welt noch besser zu durchschauen – und sie doch längst nicht mehr versteht.