WTO-Watch fürs deutsche Publikum

NGOs nutzen die Aufmerksamkeit der WTO-Ministerkonferenz für ihre Inhalte. Mit "radiohongkong.de" gibt es sogar eine kritische Video-Berichterstattung vom Ort des Geschehens

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Hochrangige Delegationen aus 149 Staaten verhandeln derzeit in Hongkong über die Zukunft des Welthandels. Auch die Gegner der WTO-Verhandlungen nutzen das Ereignis, um ihre Sicht der Dinge zu vermitteln. Deutsche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) setzen bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit diesmal verstärkt auf das Internet. Schon vor Beginn der Verhandlungen wurde eine Online-Demonstration gestartet. Parallel zu den offiziellen Verhandlungen liefert der Hongkong-Weblog von Attac atmosphärische Eindrücke aus der Welt des Widerstands und der Evangelische Entwicklungsdienst (EED) betreibt gemeinsam mit WEED (World Economy, Ecology & Develoment) einen „kritischen Kanal zur WTO-Konferenz“: Auf ihrer Internet-Homepage www.radiohongkong.de finden sich täglich aktuelle Berichte aus Hongkong.

Aus einem Video von Radio Hongkong über eine Protestveranstaltung

Das Thema „Welthandel“ lockt kaum jemanden hinterm Ofen hervor. Um einigermaßen durchzublicken, bedarf es einer intensiven Einarbeitung sowie einer hohen Toleranz gegenüber umständlichem Behördendeutsch und einem grassierenden Abkürzungswahn. Wer mit Glück schon einmal etwas über „GATS“-Verhandlungen gehört hat, auf den wartet schon die Enträtselung von „TRIPS“, „AoA“ oder „NAMA“. Doch die Entzifferung lohnt sich, schließlich sind mit den Begriffen realen Konsequenzen verbunden. Die seit zehn Jahren laufenden WTO-Verhandlungen haben unmittelbare Auswirkungen auf das Leben von nahezu allen Menschen rund um den Globus.

So versteht sich Attac ja seit langem als eine Art Bildungseinrichtung, die zur ökonomischen Alphabetisierung der Gesellschaft beitragen möchte. Damit der Aufmerksamkeitsfaktor in der Öffentlichkeit gewahrt wird, hat die Organisation gemeinsam mit internationalen Partner-NGOs im Vorfeld der WTO-Ministerkonferenz eine Online-Demo gestartet. Die Teilnehmer wurden aufgefordert, sich mit einem Foto für das Ende der derzeitigen Verhandlungsrunde einzusetzen. Alle Bilder zusammengesetzt ergaben ein Bild der Welt, versehen mit dem Slogan „Stop WTO“, das während der Konferenzdauer als riesiges Transparent in Hongkong zu sehen ist. Bislang haben sich allerdings nur etwa 1.200 Menschen daran beteiligt. Gemessen an den massiven Vorwürfen der armen Länder gegenüber den Industriestaaten müsste der Protest allerdings durchaus stärker ausfallen. Vielleicht wird ja stattdessen der Attac Hongkong-Weblog mehr gelesen, der mit angenehm luftigen Texten die Stimmung in Hongkong vermittelt. Oder die Kampagnenseite Hongkong platzen lassen.

Um beim Thema WTO Verständnishürden abzubauen und die eigene Sicht der Dinge ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu heben, haben EED und WEED ein für deutsche NGOs bislang einzigartiges Videoprojekt ins Leben gerufen. Ihr Radio Hongkong verbindet aktuelle Berichterstattung über die Verhandlungen und den vielfältigen Widerstand in Hongkong mit umfangreichen Hintergrundinformationen zu allen Themen, die derzeit innerhalb der WTO verhandelt werden. Neben der Dokumentation der Vorberichterstattung, in der auch Vertreter aus Industrie und Politik ihre Standpunkte darlegen, werden die wichtigsten Verhandlungsthemen und WTO-Schlüsselbegriffe vorgestellt. Derzeit stehen bereits über 40 Clips auf der Website zur Verfügung. Den technischen Support liefert kanalB, die in der Vergangenheit beispielsweise vom G-8 Gipfel in Genua berichtet haben. Vorbild für das Projekt ist die Seite radiohongkong.org. Sie wird vom amerikanischen Institute for Agriculture and Trade Policy unterhalten. Peter Fuchs von WEED:

Die Idee entstand vor zwei Jahre bei der letzten WTO-Ministerkonferenz in Cancún, als wir radiocancún.org entdeckt haben. Deren Macher sind ja diesmal auch mit radiohongkong.org dabei. Das hat uns damals inspiriert, so etwas für den deutschsprachigen Raum zu machen. Wir wollten kritische Kommentare zu den laufenden Verhandlungen besser in die Öffentlichkeit bekommen und die oft nicht leicht verdaulichen Zusammenhänge durch Bilder und Töne auf lebendigere Art rüberbringen. Wir haben andere NGOs zur Mitarbeit eingeladen, damit wir ein möglichst umfassendes Panorama der verhandelten Themen und Bereiche abbilden können. So sind ja auch Vertreter von Greenpeace oder dem BUND zu sehen. Und dann war uns wichtig, internationale globalisierungskritische Aktivisten aus den sozialen Bewegungen zu Wort kommen zu lassen. Wir sprechen mit radiohongkong.de hoffentlich auch andere Szene an, zusätzlich zu den Leuten, die unsere Arbeit schon kennen und z.B. unseren Newsletter abonniert haben. Zielgruppe ist jetzt auch so eine Art „Technik-Elite“ mit schnellem DSL-Zugang. Peter Fuchs

Auf die „Technik-Elite“ warten Interviews mit Stars der globalisierungskritischen Szene wie Walden Bello von der philippinischen NGO „Focus on the Global South“ und Eindrücke von Demonstrationen und Widerstandsaktionen. In der Tat werden sich nur DSL-Nutzer Filme wie den 8 MB großen 5-minütigen Clip von der Störung der offiziellen WTO-Eröffnungsfeierlichkeiten [http://radiohongkong.de/video.php?clipId=1249&Viam=Clip] ansehen können. Vielleicht liegt es an dieser technischen Hürde, dass es bislang noch nicht ausreichend gelungen ist, die potenziellen neuen Nutzer und Interessierten auf ihre Seite zu locken. Wahrscheinlicher ist, dass die Etablierung von neuen Internetseiten entweder einen Werbeaufwand benötigt, der die Möglichkeiten der von NGOs wohl übersteigt, oder mehr Zeit braucht. Rudolf Bunzel vom EED sieht auch, dass sich neue Zielgruppen nicht über Nacht ansprechen lassen. Für ihn geht der Nutzen des Projektes über den konkreten Anlass hinaus:

Insgesamt ist radiohongkong.de für uns schon ein Experiment, da wir bislang eine eher technikferne Klientel bedient haben. Mal schauen, wie das funktioniert. Aber das Projekt ist ja auch auf lang Sicht interessant, als Archiv und für unsere Bildungsarbeit. Und wir entziehen uns damit auch ein Stück der Kontrolle der Bedienberichterstattung und sind bei der Vermittlung unserer Anliegen nicht mehr nur auf etablierte Medienvertreter angewiesen.

Rudolf Bunzel

Dass die etablierten Medien nur begrenzte Aufmerksamkeit für globalisierungskritische Inhalte aufbringen, ist keine Neuigkeit. Zumal, wenn die Kritik die aktive Rolle der EU-Kommission und der europäischen Regierungen bei der Fortschreibung der globalen sozialen Ungleichheit betrifft. So weigert sich die EU immer noch standhaft, ihre Agrarsubventionen substanziell abzubauen, was in den nächsten Tagen zum Abbruch der Verhandlungen führen könnte. Peter Fuchs sieht radiohongkong denn auch als Plattform, um die EU-kritische Sichtweise zu stärken:

Ich finde übrigens auch, dass wir in der Vergangenheit zu artig und zu brav aufgetreten sind. Wir haben so viele Pseudo-Dialoge mit EU- und Regierungsvertretern geführt. Gerade hier in Hongkong ist es eines unserer zentralen Anliegen, dass wir vermitteln wollen, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten nicht die netten Entwicklungshelfer sind, als die sie sich so gerne darstellen. Gerade die Bundesregierung hat sich in der Vergangenheit oft als Hardliner für Industrieinteressen gezeigt. Wir haben das in der Vergangenheit nicht geschafft, dieses Thema zuzuspitzen und klar zu vermitteln.

Peter Fuchs