Erdbeben in palästinensischer Politik

Fatah spaltet sich, Hamas gewinnt Lokalwahlen

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Als Fadia Barguti, die Frau des in Israel inhaftierten Parlamentsabgeordneten und Fatah-Kaders Marwan Barguti, am Mittwoch kurz vor Mitternacht mit Papieren in der Hand am Büro des unabhängigen Wahlkomitees eintraf, war die Überraschung perfekt. Wenige Minuten vor Abgabefrist der Listen für die Parlamentswahl am 25. Januar war nun endlich klar, welchen Kurs die Fatah-Bewegung nehmen würde, die unter Jassir Arafat die Autonomiebehörde seit ihrer Gründung 1994 dominierte. Es heißt, Präsident Mahmud Abbas habe noch am Abend drei Stunden lang mit Barguti telefoniert, um das Schlimmste zu verhindern, aber vergeblich. Barguti, dem die Organisation von Anschlägen gegen israelische Siedler und Soldaten vorgeworfen wird, hat sich mit seinen Anhängern von der Organisationslinie abgespalten und tritt jetzt mit der „Liste Zukunft“ zu den Wahlen an.

Dem voraus gingen monatelange, teilweise bewaffnet ausgetragene Streitereien um den künftigen Kurs der Bewegung. Das jetzige Zentralkomitee hält die Macht seit 17 Jahren. Jüngere Mitglieder wollen aber die Transformation zur Partei, personelle und infrastrukturelle Reformen. Zu diesem Zweck setzten die Reformer die Abhaltung von internen Vorwahlen zur Bestimmung der Kandidaten für die Parlamentswahl durch. Barguti vereinigte in Ramallah glatt um die 90 Prozent der Stimmen auf sich. In anderen Städten klappte das Prozedere schlechter. Das Zentralkomitee wollte mehr Einfluss auf die Zusammensetzung der Kandidatenliste. Einige wurden von Präsident Abbas annulliert. Die mit den Reformern verbundenen Fatah-Milizen verbrannten mancherorts Wahlurnen. In anderen stahlen sie die Computer des Wahlkomitees und ließen sich damit provozierend für die Lokalpresse ablichten.

„Das Zentralkomitee schaltete sich immer mehr ein“, kommentiert Ahmad Ghunaim, ein enger Verbündeter Bargutis. „Und das kennen wir schon alles. Eben weil die alten Kader alle einflussreichen Stellen besetzen, hat sich seit Jahren nichts mehr bei uns verändert. Wir (die Reformer) haben schlicht kein Geld und leider auch wenig Erfahrung, weil wir an der großen Politik nicht beteiligt sind. Das muss sich ändern.“ Ghunaim ist jetzt auf Listenplatz zehn der „Zukunft“ und ab dem nächsten Jahr sicherlich ein wichtiger Mann. Direkt hinter Barguti folgt Muhammad Dahlan aus Gaza auf Listenplatz zwei. Andere bekannte Namen sind der Geheimdienstchef Dschibril Radschub und Qadura Fares, einer der Organisatoren der Genfer Initiative. Palästinensische Journalisten schätzen, dass die Liste Zukunft etwa 60 Prozent der Fatah-Stimmen gewinnen wird. Die vom ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmad Qurei geführte soll den Rest erhalten. Qurei trat am Mittwoch zurück, um sich auf den Wahlkampf vorzubereiten. Nun steht sein Stellvertreter Nabil Schaath dem Kabinett vor.

Allerdings wird in den Medien nur oberflächlich über das Grunddilemma der Fatah diskutiert: die Korruption und die Untätigkeit vieler ihrer Amtsträger. Beispielsweise steht ein wichtiger Fatah-Reformer nicht auf der Liste Zukunft. Ahmad Diek aus dem Örtchen Salfit wurde bereits 1996 ins Parlament gewählt und hat sich seither nicht mehr zu Hause blicken lassen. Von Ramallah aus hat er zwar Familienmitglieder gefördert, aber alle anderen vergessen. „Die Fatah kann uns insgesamt gestohlen bleiben, die haben nichts für uns getan“, beschwerte sich ein Bewohner Salfits gegenüber Telepolis.

Die Konsequenz der verbreiteten Vetternwirtschaft spürte die Fatah bei Lokalwahlen am Donnerstag. Ihre ehemaligen Hochburgen des Westjordanlands, Nablus und Dschenin, wurden von der islamistischen Hamas gewonnen, ebenso wie Al-Bireh, die Schwesterstadt Ramallahs. In Ramallah selbst erreichte überraschenderweise eine linke Liste sechs Sitze, ebenso viele wie die Fatah. Die Hamas kam auf drei. Nun rechnen viele mit einer Koalition aus Linken und Hamas. Diese nach außen hin absurde Kombination gibt es bereits in Bethlehem, zu erklären nur als Opposition gegen das Fatah-System, das nach Arafats Tod in sich zusammenfiel. Zwei Umfragen aus der zweiten Dezemberwoche ermittelten zwar noch einen Gewinn der Fatah bei den Wahlen im Januar. Zum Zeitpunkt der Befragung war die Bewegung aber auch noch nicht gespalten.

Neben Fatah und Hamas werden bei den Parlamentswahlen sicherlich auch zwei weitere Listen Mandate erringen. So tritt die „Palästinensische Nationale Initiative“ von Mustafa Barguti – nicht zu verwechseln mit seinem Namensvetter Marwan – mit einer eigenen Liste „Unabhängiges Palästina“ an. Der Arzt erreichte bei den Präsidentschaftswahlen Anfang dieses Jahres mit 19,8 Prozent die zweite Stelle hinter Abbas. Darüber hinaus hat Salam Fayyad, Finanzminister bis vor kurzem, eine eigene Liste „Freiheit“ gebildet. Dabei sind auch die Parlamentsabgeordnete Hanan Aschrawi und der ehemalige Informationsminister Jassir Abed Rabbo. Fayyad hat große Erfolgsaussichten in von der israelischen Besatzung besonders betroffenen Gebieten. Der ehemalige Weltbankmanager genießt große internationale Unterstützung.

In vielen Gegenden des Westjordanlands ist es nicht mehr so wichtig, wer in der Autonomiebehörde das Sagen hat. Die Bewohner kämpfen vielmehr darum, die Öffnungszeiten eines Tores in der israelischen Sperranlage um eine halbe Stunde zu verlängern, um den Zugang zu Schulen, Arbeitsstellen und Feldern zu erleichtern. Hierbei erhofft man sich Druck von der internationalen Gemeinschaft, zu der Fayyad einen guten Draht hat.