Das Blutwunder von Neapel

Ein kritischer Blick auf Blut- und Tränenwunder - Teil 2

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So genannte Blutwunder sorgen immer wieder für Schlagzeilen und gelten für manche Gläubige als göttliche Offenbarung. Aber sind solche Phänomene tatsächlich wundersamen Ursprungs? Der Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke, Mitglied der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), hatte Gelegenheit, das weltberühmte "Blutwunder von Neapel" mitzuerleben. Hier ist sein Bericht.

Das "Blut" ist allzeit von Laien von allen Seiten her im Hellen einsehbar. Eine Vertauschung ist nicht möglich, die Verflüssigung findet tatsächlich statt.

Neapel! Stadt des charmanten Chaos, der hügeligen Gassen, des fürchterlich starken Espresso. Neapel ist aber auch Schauplatz eines angeblichen Wunders, bei dem das alljährliche Flüssigwerden von Blut (oder von etwas, was man dafür hält) eine wichtige Rolle spielt. Im April 2004 suchte das ZDF einen Experten, der sich für eine Inspektion vor Ort zur Verfügung stellte und anschließend den scheinbar wunderbaren Vorgang beurteilen wollte. Dabei stießen sie auf mich, den Kriminalbiologen [4].

Der Hintergrund: Im Dom von Neapel wird in zwei Gefäßen eine rötlich-braune, gelartige Substanz aufbewahrt, bei der es sich um das Blut des heiligen Januarius handeln soll. Seit dem Jahr 1389 wird von einer mehrmals pro Jahr auftretenden Verflüssigung dieser Substanz berichtet. Dieses so genannte Blutwunder ereignet sich meist am Samstag vor dem 1. Mai, dem Fest der Überbringung der Reliquie nach Neapel, am 19. September und am 16. Dezember, dem Gedächtnistag der Warnung vor dem Vesuvausbruch im Jahr 1631. In den letzten 400 Jahren wurden zusätzlich noch etwa 80 Verflüssigungen außerhalb der genannten Zeitpunkte gezählt. Eine Nichtverflüssigung zum erwarteten Termin, die es auch schon öfters gegeben hat, gilt als schlimmes Omen.

Auffällig ist, dass man in eines der beiden Gefäße wegen seiner Form und Farbe kaum sehen kann. Nach älteren Quellen italienischer Kollegen soll es fast 200 solcher Fläschchen im Raum Neapel geben [1, 2]. In Italien ist dabei das "Blut" des heiligen Lorenz besonders bekannt, weil es dem Kollegen Garlaschelli von der Universität Pavia schon vor mehr als zehn Jahren gelungen war, mit Erlaubnis von Pater Italo Pisterzi von der Kirche der heiligen Maria in Amaseno, das "Blut" im verschlossenen Original-Fläschchen durch Abkühlen und darauf folgendes, mildes Erhitzen mit einem Fön zu verflüssigen und wieder zu verfestigen [5, 6, 8]. Auch vom heiligen Pantaleon, der unter rheinischen Katholiken sehr bekannt ist, weil sein Schädel in Köln liegt, sind mehrere Blut-Fläschchen im Süden verteilt. Im Augustiner-Konvent von Madrid verflüssigt sich sein "Blut" beispielsweise stets am 27. Juli.

Das Wunder bleibt zunächst aus

Die feierliche Zeremonie, in deren Verlauf sich das angebliche Blut verflüssigen soll, schließt sich stets an eine lange Prozession an, die durch die Straßen um den Dom führt. Nachdem ich im Auftrag des ZDF nach Neapel gereist war, konnte ich alle Rituale miterleben und den entscheidenden Moment sogar aus einem Abstand von wenigen Metern beobachten. Dabei befand ich mich in Gesellschaft zahlreicher Gläubiger, die die Kirche füllten. Da die Zeremonie stets im Hellen stattfindet und von allen Seiten gut einsehbar ist, schließe ich sowohl einen Vertauschungs-Trick als auch eine Wahrnehmungstäuschung aus.

Bei der Prozession werden die Fläschchen in einer Art Monstranz gut sichtbar und schwankend durch die Straßen getragen. Die Verflüssigung trat, wie hier in der Vergrößerung erkennbar, zunächst aber nicht ein.

Die Betenden können übrigens nicht erkennen, ob bzw. wann genau sich das "Blut" verflüssigt, weil die beiden Fläschchen recht klein sind. Stattdessen tut ein daneben stehender Laien-Zeuge durch Schwenken eines Taschentuches kund, ob das Wunder bereits eingetreten ist. Umso größer war deshalb die Anspannung der Anwesenden. Wegen der geringen Größe der Fläschchen achteten sie weniger auf das Heiligenblut als auf jede Regung, die im Raum stattfand. So kam es am in der Kirche mehrfach zu kleinen, sofort wieder ersterbenden Jubel-Ausbrüchen der Menge, wenn der ein oder andere das Minen-Spiel des Kardinals missdeutet hatte.

Doch aller freudigen Erwartung zum Trotz - die geplante Verflüssigung blieb aus. Das angebliche Blut in den Händen des Kardinals wollte sich einfach nicht verwandeln. Nachdem der Gottesmann das Gefäß bereits ein Dutzend Mal gedreht und gewendet hatte, verkündete er schließlich verunsichert und sichtlich verstimmt, dass die Welt offenbar in einem derart üblen Zustand sei, dass das Wunder diesmal ausfalle. Das sei ein göttlicher Fingerzeig, sich innerlich zu bessern. Damit entließ er das sprachlose und entsetzte Publikum in den schönen Frühlings-Abend.

Nach Abschluss des Wunder-Rituals stand ich in einem Meer intensiv Betender und teils ernsthaft erschütterter Italiener/-innen, die auf Grund der ausbleibenden Verflüssigung nun Vulkan-Ausbrüche und Erdbeben fürchteten. Die Stimmung war niederdrückend. Ältere Leute packte tiefer Kummer, die Gutgekleideten in den ersten Reihen der Kirche wurden immerhin blass. Zu meinem Erstaunen hörte ich anschließend vor der Kathedrale mehrfach hämische Bemerkungen darüber, dass der Grund des gescheiterten Wunders darin zu sehen sei, dass die anwesenden Kleriker, wie allgemein bekannt sei, korrupte Geschäftemacher seien.

Große Verunsicherung beim Abschluss-Gebet: Das Wunder blieb am ersten Tag aus.

Abgesehen davon passierte nach dem misslungenen Versuch Dreierlei: Die Kirchgänger - praktisch nur über 45-Jährige - verließen zerknirscht die Kirche und bereiteten sich auf eine (für mich zunächst verwunderliche) "Wiederholung" am folgenden Morgen vor. Die jüngeren Menschen in den Straßen um die Kirche herum gaben dagegen auf Befragen an, dass sie überhaupt nicht wüssten, warum wir alle so aufgeregt seien und ob wir von einer 1.-Mai-Feier kämen.

Die ZDF-Journalistin, die mich begleitete, musste sich nun einen Reim auf das Geschehene machen. Sie entschied sich spontan für folgende Geschichte:

Es muss sich hier um ein Wunder handeln. Herr Dr. Benecke kann mit seiner Behauptung nicht Recht haben, dass das Blut eine Mischung von in Neapel und Umgebung besonders leicht erhältlichen Chemikalien ist. Der Beweis dafür ist, dass sich das Blut heute nicht verflüssigt hat. Hätte es sich verflüssigt, so würde ich glauben, dass das Blut im Reagiergefäß hergestellt werden kann. So aber scheinen mir andere Einflüsse vorzuliegen.

Hier klingelte meine skeptische Alarm-Glocke, denn diese Schlussfolgerung erschien mir nicht gerade zwingend. Bei sehr viel Pizza und noch mehr rotem Wein beschlossen das ZDF-Team und ich, uns vorsichtshalber gegenseitig auf den Fersen zu bleiben.

Des Rätsels Lösung

Am folgenden Tag gab es dann den zweiten Versuch, das Wunder stattfinden zu lassen. Die Zeremonie wurde dieses Mal von einem in Weiß gewandeten Mann, wohl dem Diakon der Gemeinde, begleitet, nachdem der Kardinal am Vortag abgereist war. Als die Anwesenden an diesem zweiten Tag erneut allen Mut sinken ließen und die Zeremonie erfolglos abgebrochen werden sollte, tat der Diakon etwas Interessantes: Er verließ den Chor-Raum und forderte die in ersten Reihe betenden sechs älteren Frauen, die schon am Vortag ihren altertümlichen Singsang unermüdlich wiederholt hatten, auf, unbedingt weiter zu singen. Mit Erfolg: Zur großen Erleichterung aller Beteiligten brachte der zweite Versuch schließlich die ersehnte Verflüssigung.

Ich leite daraus ab, dass der besagte Mann, der im Gegensatz zu den deutlich erregten Priestern und Laien keine Mine verzog, wohl weiß, warum sich die Substanz wirklich verflüssigt. Die Begründung ist aus meiner Sicht auch relativ einfach: Das angebliche Blut muss nur genügend bewegt werden, und schon wird es flüssig. Solche Stoffe, die durch Bewegung ihren Aggregatszustand ändern, sind in der Chemie nichts Ungewöhnliches und werden als thixotrop bezeichnet. Eine thixotrope Substanz, die wie Blut aussieht, ist mit in Neapel problemlos erhältlichen Chemikalien schon seit Jahrhunderten herstellbar.

Der Kardinal verkündet, dass das Ausbleiben des Wunders ein Zeichen für den schlechten Zustand der Welt sei.

Da die Priester die Dreh-Bewegung an beiden Tagen nur recht zaghaft ausführten, blieb das "Wunder" offenbar beim ersten Versuch aus. Ungewöhnlich war dabei allenfalls, dass selbst die lange Prozession durch Neapel am Vortag nicht die nötige Energie ins thixotrope Material gebracht hatte. Immerhin bewegen sich die Träger in einem zeremoniell sehr eigentümlichen Gleichschritt, der das höchstmögliche Schwanken der Reliquie bewirkt.

Meine Erklärung teilte ich natürlich auch dem ZDF mit. Die zuständige Redakteurin organisierte daraufhin einen aufwendigen Drehtermin, bei dem ich im Labor "Blut" herstellte und eine Verflüssigung vorführte. Zu meiner großen Enttäuschung wurde diese meiner Meinung nach wichtigste Sequenz jedoch vollständig aus dem Beitrag herausgeschnitten. Beim Zuschauen konnte so der Eindruck entstehen, dass es sich vielleicht doch um ein echtes Wunder handelte, das auch ein skeptischer Kriminalbiologe nicht erklären konnte.

Ähnlich verfuhr die "Bild"-Zeitung, die zwar an sehr prominenter Stelle inhaltlich völlig korrekt über das Ereignis berichtete, aber ebenfalls das (ein zweites Mal im Labor nachgestellte) Experiment verschwieg und stattdessen "Vatikan-Experten kontern" ließ:

Der Experte: ,Es ist eine einfache chemische Reaktion aus Eisen-Drei-Chlorid, Eierschalenkalk und Wasser. Alle Zutaten gibt es seit Jahrhunderten.' Der Trick: ,Durch das Bewegen der Ampulle verflüssigt sich der feste Stoff.' ,Unsinn', kontern Vatikan-Experten: ,Schon öfter verflüssigte sich das Blut nicht.'

Skeptiker sollten sich dennoch nicht über die etwas verbogene Berichterstattung ärgern. Eine Prise übersinnlicher Ungewissheit lässt nun einmal jede Geschichte spannender erscheinen, und die Medien verkaufen nun einmal nichts anderes als schöne Geschichten. Pure, kritische und rein inhaltsbezogene Aufklärung ist für das breite Publikum dagegen nicht spannend, was offenbar selbst einen auf Seriosität bedachten Sender wie das ZDF zu einem kreativen Umgang mit der Wahrheit verleitet.

Die Zutaten zur Herstellung des thixotropen "Blutes": Eisen(III)-chlorid, Kalk und Wasser.

Ich sehe es immerhin als positiv an, dass sich gerade die beiden konservativsten deutschen Massenmedien entschieden haben, das ohne chemisches Fachwissen nicht begreifliche neapolitanische Blutwunder im Kern korrekt darzustellen: als eine emotional aufgeladene, kirchliche Inszenierung für katholische Menschen. Angenehm war vor Ort übrigens, dass keinerlei Geschäft aus dem "Wunder" geschlagen wird. Es gibt nur einen winzigen Stand in der Kirche, der kleine Souvenirs für wenig Geld verkauft, ansonsten fanden sich weder eine Kirmes noch Pommes-Buden, T-Shirt-, Devotionalien- oder Buch-Verkäufer - nichts. Die religiöse Veranstaltung wird also nicht, wie es in Zentraleuropa so oft geschieht, profanisiert, indem man den Glauben vorschiebt, um einen freien Arbeits-Tag herauszuschinden oder eben auf einer Kirmes Zuckerwatte zu schlecken.

Obwohl es sich regelmäßig wiederholt, berichten die italienischen Zeitungen allerdings landesweit über das Ereignis. Insgesamt habe ich das Blutwunder von Neapel als etwas im Grunde Schönes wahrgenommen, das den vorwiegend älteren Katholiken helfen soll, ihren Glauben aufrecht zu erhalten. Ob das wünschenswert ist oder nicht, geht mich nichts an. Der örtliche Priester war jedenfalls so froh, als die Verflüssigung endlich eintrat, dass er seine Tränen nicht mehr zurück halten konnte und ohne jede Schauspielerei weinte.

Auch einen bösartigen Betrug der Kleriker kann ich nicht erkennen, da mehrere Theologen heute argumentieren, dass Wunder oder Reliquien nicht deshalb so bedeutsam sind, weil sie echt seien, sondern weil sie als subjektiver Glaubensbeweis dienten. Hierdurch ist eine skeptische Entlarvung verunmöglicht, da die Echtheit des Wunders gar nicht mehr behauptet wird. Das ist eine zwar freche, aber aufrichtige katholische Interpretation. Das spirituelle Erleben der Kirchgänger/-innen wird dabei nicht auf die Sachebene gezwungen, sondern bleibt im Bereich des Glaubens. Der Glaube soll aber meinetwegen gerne frei bleiben - so lange kein Dogma daraus wird und niemand dadurch in Bedrängnis kommt.

Literatur

  1. Alfano, GB.; Amitrano, A. (1924): Il miracolo di S. Gennaro: documentazione storica e scientifica. Scarpati,Napoli
  2. Alfano, GB.; Amitrano, A. (1951): Notizie storiche ed osservazioni sulle reliquie di sangue dei martiri e dei santi confessori ed asceti che si conservano in Italia e particolarmente in Napoli. Arti grafiche, Adriana, Napoli
  3. Begass, B.; Ley, J. (2004): Blut-Wunder nur fauler Zauber? Bild (Mantel-Teil), 5. Mai 2004, S. 20
  4. Benecke, M. (2004): Selige DNS-Analyse. Rechtsmediziner überprüfen ein christliches Wunder. Süddeutsche Zeitung Nr. 33/2004 (10. Februar 2004), S. 9
  5. Garlaschelli, L.; Ramaccini, F.;- Della Sala, S. (1991): Working bloody miracles. Nature 353:507
  6. Garlaschelli, L. (1999): Chemie der Wunder. Chemie in unserer Zeit 33, S. 152-157
  7. Harder, B. (2003): Pater Pio und die Wunder des Glaubens. Pattloch, München
  8. Polidoro, M. (2004): What a bloody miracle! - Notes On A Strange World. Skeptical Inquirer 28,1, S.18-20
  9. Storch, K. (2004): Das Blut-Wunder von Neapel. ZDF-Auslands-Journal, 6. Mai 2004 (1)

Dr. Mark Benecke arbeitet international als Kriminalbiologe. Er ist Mitglied der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP). Der Text erschien in ähnlicher Form unter dem Titel "Blut und Tränen" in der Zeitschrift Skeptiker (3-2004). Bearbeitung: Inge Hüsgen und Klaus Schmeh