Hongkonger Krokodilstränen

Die WTO-Ministerkonferenz hat den Industriestaaten mehr gebracht, als sie zugeben wollen

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In letzter Minute haben sich die 149 Mitgliedsstaaten der Welthandelsorganisation WTO doch noch auf ein Abschlussdokument einigen können. Dieser diplomatische Kraftakt ist zweifellos ein Sieg der wirtschaftlich starken Staaten. Sie konnten trotz der verstärkten Zusammenarbeit der Entwicklungsländer ein Scheitern der Konferenz verhindern und die Richtung für die zukünftige Verhandlungsschritte vorgeben. Das Scheitern hätte die Zukunft der WTO ernsthaft in Frage gestellt und die globalen Expansionswünsche westlicher Konzerne ins Stocken gebracht. Derzeit wird in der Öffentlichkeit viel über das Zugeständnis der EU bei der Abschaffung ihrer Exportsubventionen gesprochen. Kaum im Blick ist, dass schon ab April mit den Entwicklungsländer über die Senkung ihrer Zölle verhandelt wird. Auch die Hilfs-Versprechen, die man den ärmsten Länder im Vorfeld von Hongkong gemacht hat, blieben weitgehend uneingelöst.

Der deutsche Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Michael Glos präsentiert sich vor internationaler Kulisse. Bild: BMWi

Michael Glos ist unzufrieden. Dem deutschen Wirtschaftsminister geht die Hongkonger Abschlusserklärung längst nicht weit genug. Dagegen drängt er auf zügiges Weiterverhandeln und lässt sich in einer Presserklärung mit deutlichen Worten zitieren:

Im neuen Jahr kommt es darauf an, dass wir in den Folgeverhandlungen in Genf die Marktöffnungs-Interessen unserer Industrie mit allem Nachdruck vertreten.

Der forsche Ton entspricht dem insgesamt überraschend forschen Auftreten der deutschen Delegation in Hongkong, die sich mit weitgehenden Forderungen gegenüber den Entwicklungsländern als Hardliner präsentiert hat. Dass es aus deutscher Sicht in Hongkong vor allem um das Wohl der Industrie gehen würde, zeigte schon ein Blick auf die Teilnehmerliste der deutschen Delegation. Sie verzeichnet unter der Rubrik „Repräsentanten NGO“ ganze zwei Organisationen auf: den Bundesverband der deutschen Industrie und den deutschen Gewerkschaftsbund. Die Liste offenbart auch, dass die Bundesregierung einen recht eigenwilligen Umgang mit dem Begriff „Nichtregierungsorganisation“ pflegt.

Im Zentrum der westlichen Begehrlichkeiten stehen derzeit vor allem staatliche Zölle, die viele ärmere Staaten als Schutz ihrer Wirtschaft vor der ausländischen Konkurrenz erheben. Die Eignung dieses Wirtschaftsinstrumentes für den Schutz schwacher und junger Industrien ist bekannt und wurde vor 200 Jahren vom deutschen Ökonomen Friedrich List theoretisch fundiert. Auch ohne den Griff in die Ökonomiegeschichte liegt auf der Hand, dass durch den Freihandel die heimische Produktion in den meisten Entwicklungsstaaten zum Erliegen käme und die westlichen Produkte den Markt im Handstreich übernehmen würden. Trotzdem konnte in Hongkong der Beginn von Verhandlungen zum Zollabbau beschlossen werden. Mehr als das, es wurde auch festgeschrieben, nach welchem Prinzip dabei vorgegangen wird: die höchsten Zolltarife sollen am stärksten fallen. Genau davon sind die Entwicklungsländer betroffen, die ihre Produktion im Vergleich mit den Industriestaaten mit weitaus höheren Zöllen schützen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Bild: WTO

Dabei wollte die WTO doch eigentlich einen ganz anderen Weg einschlagen, als 2001 bei der Konferenz in Dohar (Katar) die aktuelle Verhandlungsrunde startete. Laut Fahrplan soll sie im nächsten Jahr mit einem umfassenden Vertragswerk enden, das den globalen Handel mit Agrar- und Industriegütern, nicht-industriellen Produkten sowie Dienstleistungen regelt. Dieses vielschichtige und weitreichende Verhandlungspakt wurde damals gegen den Widerstand vieler Entwicklungsländer geschnürt. Sie hatten bereits negative Erfahrungen mit WTO-Verträgen gemacht und wollten ihre eigenen Belange stärker in den Blickpunkt der internationalen Verhandlungen rücken. Tatsächlich wird offiziell von der „Entwicklungsrunde“ gesprochen, was die damalige Ministererklärung zum Verhandlungsstart an prominenter Stelle bekräftigt. Schon Punkt zwei und drei der Präambel konstatieren die Benachteiligung der Entwicklungsländer und versprechen substanzielle Verbesserungen:

Wir erkennen die Notwendigkeit an, dass alle Völker von den zunehmenden Möglichkeiten und Wohlfahrtsgewinnen profitieren, die das Welthandelssystem schafft. Die Mehrheit der WTO-Mitgliedstaaten sind Entwicklungsländer. Wir sind bestrebt, ihre Bedürfnisse und Interessen in den Mittelpunkt des in dieser Deklaration angenommenen Arbeitsprogramms zu stellen. [...] Wir erkennen die besondere Verwundbarkeit der LDCs [Least developed Countries – die 50 ärmste Staaten ] und die besonderen strukturellen Schwierigkeiten, denen sie in der globalen Wirtschaft begegnen, an. Wir bekennen uns dazu, die Marginalisierung der LDCs im internationalen Handelssystem anzusprechen und ihre effektive Teilnahme am multilateralen Handelssystem zu verbessern. Wir wiederholen die [...] gemachten Zusagen, den LDC zu helfen, eine für sie günstige und bedeutsame Integration in das multilaterale Handelssystem und die globale Wirtschaft sicherzustellen.

Aus der Abschlusserklärung der WTO-Ministerkonferenz 2001 in Doha

Doch die schönen Worte verwandeln sich bis jetzt nicht in substanzielle Zugeständnisse. Das ökonomische Ungleichgewicht wird durch keinen Beschluss substanziell in Frage gestellt. So erlauben die jetzt getroffenen Vereinbarungen, dass die ärmsten Staaten fast alle Produkte zollfrei und ohne Quotierung auf die westlichen Märkte bringen können – allerdings ab 2009. Zudem begrenzen die USA und Japan die Produktpalette: Nur 97 Prozent aller Waren dürfen zu diesen Bedingungen ins Land und unter die ausgeschlossenen drei Prozent fallen genau die Produkte, die eine ernsthafte Konkurrenz mit einheimischen Erzeugnissen bedeuten würden.

Es liegt natürlich auch an den Entwicklungsländern selbst, sich gegen die wirtschaftliche Übermacht der Industriestaaten und deren Experten-Übermacht an den Verhandlungstischen zur Wehr zu setzen. In Hongkong wurde dazu erstmals in der Geschichte der WTO von 110 Schwellen- und Entwicklungsländern eine gemeinsame Erklärung abgegeben. Doch ihrer Forderung, bis 2010 alle Agrar-Exportsubventionen der Industriestaaten einzustellen, wurde nur zum Teil entsprochen. Allein die EU ließ sich auf konkrete Zusage ein, verschob den Zeitpunkt jedoch auf 2013.

Bis dahin wird also weiterhin Praxis bleiben, was beispielsweise Indien zwischen 1999 und 2000 widerfuhr: Damals überschwemmten 130.000 Tonnen Milchpulver aus der EU den Markt, zu einem sagenhaft günstigen Preis. Schließlich subventionierte die EU das Geschäft mit insgesamt fünf Millionen Euro – auf Kosten der indischen Milchbauern.

Diese westlichen Zugeständnisse im Agrarhandel, zumal die der EU, verkaufen sich in der Öffentlichkeit gut als entwicklungspolisches Engagement. Sie sollen demonstrieren, wie weit man geht, um die Entwicklungsländer mit ins Boot zu holen. Dahinter steckt allerdings wenig mehr als kalkulierte Verhandlungstaktik. Zugespitzt heißt der aufgezwungene Deal der Industriestaaten: Wir öffnen unseren Markt für eure Agrarprodukte, ihr öffnet dafür in absehbarer Zeit sämtliche Industrie- und Dienstleistungssektoren. Schließlich warten dort jede Menge Euros, Dollars und Yen.