Neoliberalismus abgewählt

In Bolivien gewinnt der Sozialist Evo Morales die Präsidentschaftswahl

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Mit einem so überwältigenden Sieg hatte Evo Morales wohl selbst nicht gerechnet. Nach dem Endergebnis wurde der 46-jährige Aymara-Indio am Sonntag mit 51 Prozent der Stimmen zum künftigen Präsidenten Boliviens gewählt. Wahlvorhersagen hatten weder ihm noch dem neoliberalen Herausforderer Jorge Quiroga den Sprung über die 50-Prozent-Marke zugetraut. Mit der absoluten Mehrheit bleibt dem Land nun eine undemokratische Prozedur erspart. Dem bolivianischen Wahlrecht zufolge wird der Präsident vom Parlament bestimmt, sofern keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht. Eine Stichwahl ist nicht vorgesehen. Die Regelung hatte in der Vergangenheit ein beispielloses Geschacher um Einfluss und Posten zwischen den Parteien ebenso gefördert wie direkte Korruption und Stimmkauf.

Evo Morales

Der Präsident der Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS) verdankt seinen Sieg maßgeblich zwei Entwicklungen. Zum einen hat seine Partei in den vergangenen Monaten systematisch um ein Bündnis mit der bürgerlichen Mitte geworben. Während der sozialen Unruhen, die am 6. Juni zum Rücktritt von Präsident Carlos Mesa führten und damit den Weg zu Neuwahlen ebneten (Krise in Bolivien vertagt), verhandelte die MAS im Parlament mit Rechtsparteien, während Evo Morales die Demonstranten kraft seiner Popularität zum Abbruch der Proteste bewegte. Dieses Vorgehen hatte Morales das Vertrauen von Teilen der Oberschicht gesichert. Zum anderen ist die MAS seit ihrer Gründung 1987 in dem Maße aufgestiegen, wie sich die alten Parteien durch Korruption, Vetternwirtschaft und Missmanagement selbst demontiert haben. Ein ähnlicher Prozess hat auch in Venezuela 1998 zum Wahlsieg von Hugo Chávez und seiner Bewegung Fünfte Republik geführt.

Die in Bolivien 1941 gegründete Nationale Revolutionäre Bewegung (Movimiento Nacional Revolucionario, MNR) konnte am Sonntag gerade noch 6,7 Prozent auf sich vereinigen. Auch die beiden Kandidaten neben Evo Morales, Jorge Quiroga und Samuel Doria Medina, hatten offensichtlich kein Vertrauen in die alte Parteienordnung mehr. Sie gründeten mit PODEMOS (Wir können) und der Unidad Nacional (Nationale Einheit, UN) zwei neuen Gruppierungen. Auf Quiroga entfielen 31,9 Prozent der Stimmen, Doria Medina erhielt 8,2 Prozent.

Streitpunkt und soziales Problem: Die Koka-Frage

Evo Morales hatte seinen politischen Einfluss vor allem mit der Forderung nach einer Legalisierung des Anbaus von Koka ausbauen können. Rund 80 Prozent der bolivianischen Bevölkerung gehört einer der indigenen Gruppen an. Der Koka-Anbau hat in dieser Bevölkerungsmehrheit zum einen hohen traditionellen Wert. Viele Familien hängen wirtschaftlich vom Anbau der Koka-Pflanze ab. Die MAS unter Evo Morales hatte sich daher vor allem gegen die US-Regierung positioniert. Washington verteidigt seit Jahren kompromisslos die Vernichtung von Koka-Feldern in Südamerika, um so vorgeblich den Drogenhandel in den Griff zu bekommen.

Vor allem in Kolumbien, aber auch in Bolivien und Ecuador hatte diese Politik verheerende soziale Auswirkungen. Durch die Ausbringung von Herbiziden wurden in diesen Ländern fruchtbare Böden vergiftet. Organisationen von Landarbeitern und Menschenrechtsgruppen beklagen gesundheitliche Folgen für die Bewohner der betroffenen Gegenden.

Die MAS wendet sich entschieden gegen eine Fortführung dieser aggressiven Bekämpfung des Koka-Anbaus. Das Drogenproblem, so fordert Morales seit Jahren, müsse in den Konsumentenstaaten bekämpft werden. Der Streit hat konkrete politische Auswirkungen. Die Bekämpfung des Koka-Anbaus obliegt in den USA der Drug Enforcement Administration (Drogenbekämpfungsbehörde, DEA), die in Südamerika eng mit den Außenposten der US-Armee zusammenarbeitet. Der DEA wurde daher wiederholt vorgehalten, die Militarisierung der Region durch die USA zu befördern. Tatsächlich wurde der Vorwurf des „Drogenterrorismus“ aus den USA auch schon gegen die MAS erhoben.

Umkehr der Wirtschaftspolitik erwartet

Die ablehnende Haltung Washingtons erklärt sich zudem aus dem wirtschaftspolitischen Programm der MAS. Evo Morales gilt als Widersacher der neoliberalen Politik der vergangenen Jahre. Vor allem aber tritt er für die Rückverstaatlichung der Erdgasvorkommen ein, die 1996 privatisiert worden waren. Die darauf folgenden Proteste hatten das Land seither nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Bolivien verfügt über derzeit 1,5 Billionen Kubikmeter bestätigter Erdgasvorkommen. Zugleich ist es der ärmste Staat Südamerikas.

Außenpolitisch wendet sich Morales entschieden gegen die US-amerikanischen Freihandelspläne. Washington will mit der Free Trade Area of the Americas (Gesamtamerikanische Freihandelszone, FTAA/ALCA) die Zollschranken von Alaska bis Feuerland beseitigen. In Lateinamerika trifft das Projekt jedoch auf zunehmenden Widerstand (Kluft zwischen Amerika und den USA). Auch Evo Morales, der dem kubanischen Staatschef Fidel Castro und dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez nahe steht, lehnt eine Unterstützung dieses Vorhabens ab. Wie Argentinien, Brasilien, Kuba, Paraguay, Uruguay und Venezuela spricht er sich für eine regionale Wirtschaftsintegration aus. Sein designierter Vizepräsident Alvaro García Linera propagiert einen „andinen Kapitalismus“. Ziel der Politik müsse zunächst die Entwicklung der Binnenökonomie sein. Immerhin arbeiteten 70 Prozent der Menschen in den Städten in Familienunternehmen, auf dem Land seien 95 von der Landwirtschaft abhängig. García Linera will an das soziale Entwicklungsprojekt der Revolution von 1952 anknüpfen und einen „starken Staatskapitalismus“ fördern.

Revolutionär ist das zwar keineswegs. Aber sein Prinzip bricht mit dem neoliberalen Dogma der vergangenen Jahre. Die kommenden Monate werden zeigen, ob die US-Regierung das zulässt.