Muss Sanaa verlegt werden?

Trinkwasser ist eine strategische Ressource des 21. Jahrhunderts. Auf sämtlichen Kontinenten fallen die Grundwasserspiegel. Im Jemen ist der Prozess besonders weit fortgeschritten

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Als Nabil Al Amry vor 40 Jahren in der Altstadt von Sanaa geboren wurde, befand sich im Haus seiner Eltern ein Brunnen. Daraus schöpften die Bewohner ihr Wasser, der Grundwasserspiegel lag in etwa 30 Metern Tiefe. Heute ist er auf 800 bis 1.000 Meter gefallen, der Brunnen ist längst nicht mehr in Gebrauch.

Die Altstadt von Sanaa. Bild Bert Beyers

Al Amry hat die meiste Zeit seines Lebens in Deutschland verbracht. Derzeit arbeitet er für den Deutschen Entwicklungsdienst wieder in seiner Heimatstadt. Sanaa ist regelrecht explodiert, um die märchenhaft anmutende Altstadt hat sich eine hektische Großstadt gelegt, Betonbauten prägen das Bild, viele im halbfertigen Zustand, dazwischen brandet ein chaotischer Verkehr.

Mit seiner deutschen Familie lebt Al Amry heute in einem komfortablen Haus eher an der Peripherie der Zwei-Millionen-Stadt. Gleich neben dem Wohnhaus steht ein Wasserturm. Die meiste Zeit ist er leer, Wasser spendet er nur etwa zwei Mal pro Woche. Al Amrys Haus verfügt über eigene, große Tanks, um wasserarme Zeiten zu überbrücken. Dennoch, an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen zu sein ist ein Luxus, den nur wenige Einwohner genießen. Tankwagen mit Trinkwasser sind so etwas wie Wahrzeichen der Stadt. Man sieht sie allenthalben, in allen Farben und Größen. Sie versorgen die Mehrheit der Einwohner mit dem wichtigsten aller Lebensmittel.

Noch immer fällt der Grundwasserspiegel im Sanaa-Becken, sechs bis acht Meter pro Jahr, in manchen Teilen noch mehr. Was wird aus Sanaa? Muss die Stadt irgendwann aufgegeben werden?

Die Wasserkrise rührt aus der Landwirtschaft

Sanaa liegt relativ hoch, 2200 Meter über dem Meeresspiegel. Drumherum: eine Geröllwüste, ein zerklüftetes Land, am Horizont Gebirgszüge. Und doch, fährt man aus der Stadt raus, zeigt sich immer wieder Grün, meist Plantagen von jungen Bäumen: Hier wächst die Volksdroge Qat. Die Blätter des Baumes werden gekaut und als tischtennisballgroße Kugeln in eine Backe geschoben. Allein der Qat-Anbau im Jemen verschlingt Unmengen Wasser, die Landwirtschaft insgesamt 90 %, und immer noch wächst dieser Wirtschaftszweig. Die Wasserkrise ist nicht in den Städten entstanden; Trinken, Waschen, Duschen machen nur einen Bruchteil des Gesamtverbrauchs aus.

Man sieht es auf Satellitenaufnahmen des Sanaa-Beckens sehr deutlich: Die Qat-Felder, die Obst- und Gemüseplantagen rund um die Stadt saugen das Wasser ab. Grundsätzlich gilt: Alles, was nur ein wenig grün erscheint, lebt von der Bewässerung, von geborgtem Wasser; Dieselpumpen plündern Jahrtausende alte Vorräte im Boden. Längst hat ein Rennen unter den Bauern begonnen: Wer bohrt den tiefsten Brunnen? Wer hat die stärksten Pumpen? Immer wieder werden Kämpfe um Wasservorräte mit Waffengewalt zwischen verschiedenen Grundeigentümern und Dörfern ausgetragen; die Kontrolle des Staates ist schwach. In jüngster Zeit sieht man riesige Löcher in der Landschaft. Kleinbauern haben den Kampf verloren und verscherbeln, was ihnen geblieben ist, den nackten Boden.

Um Sanaa ist eine trockene Geröllwüste. Bild: Bert Beyers

Rund 20 Millionen Jemeniten leben über ihre Verhältnisse, ein Drittel des landesweiten Wasserverbrauchs stammt aus nicht erneuerbaren Quellen – Leben von der Substanz. Hinzu kommt: Der Jemen ist eines der ärmsten Länder der Welt. Noch immer wächst die Bevölkerung rapide, in 20 Jahren wird sie sich verdoppeln. Der Druck im Kessel steigt.

Kein vernünftiger Mensch im Jemen spricht mehr von Nachhaltigkeit, das wird beim Wasser besonders deutlich. Das oberste Ziel heißt: Zeit gewinnen. Ein ausgeglichenes Verhältnis von Angebot (der Natur) und Nachfrage (des Menschen) ist nicht in Sicht. Dabei war dieser unschuldige Zustand über Jahrhunderte und Jahrtausende die Regel. Verschiedene Regionen des Landes sind sogar relativ reich an Niederschlägen. Der Mocca, wie er im 19. Jahrhundert in den europäischen Kaffeehäusern getrunken wurde, kam aus dem Jemen.

Ende der 60er, Anfang der 70er begann eine neue Epoche. Die Dieselpumpen wurden angeworfen. Die Wassertresore der Natur wurden geknackt. Seitdem sind die Anbauflächen regelrecht explodiert. Nicht nur im Jemen fallen die Wasserspiegel, sondern weltweit. Der Norden Chinas trocknet buchstäblich aus. Die Psychologie dahinter ist immer dieselbe: Toll, wenn man neue Wasserressourcen gefunden hat; so lange oben, am Bohrloch noch etwas rauskommt, ist alles okay.

Im Jemen ist die Wasserkrise sehr weit fortgeschritten. Deswegen kann man hier genau studieren: Was passiert, wenn die Knappheiten zunehmen? Welche sozialen Spannungen ergeben sich daraus? Wie hängt die Wasserproblematik mit anderen Entwicklungsfeldern zusammen? Und: Was bleibt zu tun?

Wadi Hadhramaut: ein wenig Wasser in der Wüste. Bild: Bert Beyers

Einfache Lösungen gibt es nicht

Ein Pkw in Sanaa: hinter dem Lenkrad vergraben ein Mann. Im Auto sitzen acht schwarz gekleidete Frauen mit Kopftuch und Gesichtsschleier, sie halten Kinder auf dem Schoß. Der Kofferraumdeckel steht offen, daraus winken noch einmal sieben Kinder. Die Stimmung ist ausgezeichnet. Autofahren im Jemen ist Luxus. Die Motorisierung im Lande wächst rapide.

Im Sommer 2005 stiegen die Benzinpreise um 100 %. Ein Liter Benzin kostet derzeit 60 Rial, rund 30 Euro-Cent, Diesel die Hälfte. Vor der Preisanhebung wurde der Sprit LKW-weise nach Saudi Arabien, den reichen Nachbarn im Norden, verschoben. Die Preispolitik der jemenitischen Regierung ist der Versuch, die massive Subventionierung der Treibstoffe zurück zu fahren. Immer noch beträgt sie rund 50 %. Der Preissprung im letzten Sommer hat mehrere Dutzend Menschenleben gefordert – Tote im Kampf um Ressourcen.

Steigt der Dieselpreis, verteuert sich auch das Wasser. Bei der Bewässerung zahlen die Bauern nur für das Equipment und den Treibstoff. Führt der sinnvollste Weg aus der Wasserkrise deshalb über eine weitere Verteuerung des Diesels?

„Einfache Lösungen gibt es nicht“, sagt Qahtan al-Asbahy vom jemenitischen Wasserministerium. „Das Wasser für die Bauern zu bepreisen, das erfordert viel Überzeugungsarbeit, auch bei den kommunalen Körperschaften. Das wäre der nächste Schritt.“

Im kommunalen Bereich arbeitet Jochen Renger von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Es geht darum, eine funktionierende Wasserinfrastruktur zu schaffen. Das beginnt mit einem sinnvollen Betriebsmanagement der städtischen Wasserversorger und endet mit regionalen Wasser-Komitees. Knappheiten erzeugen Spannungen: zwischen Groß- und Kleinbauern, zwischen verschiedenen Dörfern mit Ressourcenansprüchen auf dieselbe Quelle, zwischen Stadt und Land. Je tiefer die Wasserkrise, desto schwerer werden die Konflikte. Hier liegt der Schlüssel zum Problem: Lösungen sind nur miteinander, nicht gegeneinander möglich. In einem Staat wie dem Jemen, in dem die Zentralregierung schwach ist, das Recht der Stämme im Land dagegen relativ stark, eine besondere Herausforderung.

„40 % der Wasserressourcen werden gekaut“, sagt Jochen Renger mit Blick auf den Qat-Konsum. Er plädiert für ein beherztes Eingreifen des Staats. Al-Asbahy vom Wasserministerium dagegen hält von einer Angebotsverknappung gar nichts. Die Reduzierung sollte von der Konsumentenseite kommen. Tatsächlich steigt der Qat-Verbrauch im Jemen ständig. Vor einiger Zeit wurde überwiegend im Norden gekaut, mittlerweile sieht man auch im Süden des Landes allenthalben verwehte Plastiktüten in den Straßen oder im Gestrüpp: die Verpackung.

Qat hat eine große Bedeutung im sozialen Leben der Jemeniten; die nachmittäglichen Qat-Runden, nicht nur unter Männern, sind eine feste Institution; bei der hohen Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen, nicht zu unterschätzen. Außerdem ist der Qat-Anbau für die Bauern sehr lukrativ.

shibam: das Manhattan aus Lehm in der Wüste. Bild: Bert Beyers

Sanaa 2020: verlassen oder übervölkert?

Die Wasserkrise ist nicht gelöst. Mit jedem Tag wird sie schärfer. Muss Sanaa, mit Abstand die größte Stadt im Jemen, irgendwann verlegt werden? Die Regierung lässt ausdrücklich alle Optionen für die Zukunft offen.

Wird die Stadt 2020 halb verlassen sein? Die Reichen eingebunkert in ihren Villen? Streng bewacht von Militär? Soldaten eskortieren die Wassertanker?

Das gegenteilige Szenario ist ebenfalls denkbar: Die Wasserkrise entsteht ja auf dem Land. Heute schon müssen viele Bauern aufgeben und ihr Land verlassen. Sie wandern in die Stadt, zuerst vereinzelt, in Zukunft möglicherweise massenhaft. In der Stadt wird die Trinkwasserversorgung mit Notprogrammen aufrecht erhalten. Fragt sich nur: Wovon sollen die vielen Menschen in der Stadt leben?

Technisch ist es durchaus möglich, Meerwasser zu entsalzen und nach Sanaa zu pumpen; viele arabische Länder verfahren so. In Sanaa liegt die Sache aber noch etwas anders: Das Wasser müsste über eine 3.000 Meter hohe Bergkette gepumpt werden – das kostet! Nach einer Weltbankstudie mehr als 6 USD pro Kubikmeter. Eine andere Hoffnung: Nordöstlich der Hauptstadt sollen sich, tief unter der Wüste, große Wasservorkommen befinden. Möglicherweise kann man sie anzapfen. In den kommenden Monaten werden die Ergebnisse der geologischen Expertisen erwartet.

Die erfolgversprechendsten Ansätze, die Wasserkrise zu lindern, zielen in Richtung Effizienzsteigerung. Die Wasserverschwendung in einem der wasserärmsten Länder der Welt ist enorm: angefangen bei den Leitungsverlusten der Versorger in den Ballungsräumen, über vorsintflutliche Bewässerungssysteme in der Landwirtschaft, bis hin zu den traditionellen Terrassenfeldern, die das Regenwasser auffangen, und die dringend instand gesetzt werden müssten. All dies ist in einem Regierungspapier niedergelegt, dem National Water Sector Strategy and Investment Program. Die Analyse stimmt, die Vorschläge klingen plausibel. Verglichen mit anderen Schwierigkeiten des Landes, z.B. im Gesundheitssystem, weiß man beim Wasser immerhin, was man will. Das Problem ist die Umsetzung.

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