65 Jahre auf der Suche nach Gerechtigkeit

Vergangenheitsbewältigung in Spanien am Fall von Vicente Muniz, dessen Eltern in einem Schnellprozess während der Franco-Diktatur zu Unrecht zum Tode verurteilt wurden

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Der 71jährige Vicente Muñiz hat 64 Jahre gebraucht, um den spanischen Rechtsweg auszuschöpfen, um nun zum Europäischen Gerichtshof nach Strassburg ziehen zu können. Mit seiner Klage versucht er die Urteile eines Kriegsgericht zu annullieren, das 1941 seine Eltern zum Tod verurteilte. In einem Schnellprozess waren sie von der Diktatur wegen angeblichem dreifachen Mords verurteilt und hingerichtet worden. Dabei wusste das Gericht nicht, wer die Toten sein sollten, es gab weder Leichen noch Zeugen für die Tat. Das zeigte das Urteil, das Muñiz 40 Jahre später in den Händen hielt. Trotzdem weigerten sich alle Instanzen in Spanien das Unrechtsurteil zu annullieren.

Vicente Muñiz war ein noch ein kleiner Junge, als die spanische Republik 1939 endgültig von den Putschisten unter General Franco gestürzt wurde. Mit dem Fall von Barcelona im Januar war das Ende nahe. Am 27. Februar erkannte Großbritannien und Frankreich das Franco-Regime an und am Tag darauf fiel die Hauptstadt Madrid. Als einer der letzten Städte gab am 29. Februar auch Valencia den Kampf gegen die faschistischen Truppen auf, wo die Familie Muñiz lebte.

Plaket der POUM-Partei

Seine Eltern waren Mitglieder der antistalinistischen Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit (POUM). Sie wurden 1939 in dem kleinen Parteilokal der POUM in Pizarro Strasse verhaftet. Die Mutter Águeda arbeitete dort als Haushälterin, der Vater Armando war Fahrer des Parteisekretärs. Eigentlich wurden beide nur wegen Raubs verhaftet. Die Familie wohnte, mangels anderer Unterkunft, in dem Parteilokal, das zuvor von einer Großbürgerfamilie beschlagnahmt worden war. Während man den Vater ins Gefängnis warf, wurde die Mutter und die Kinder zunächst in einem Konvent interniert, erzählt Muñiz seine Geschichte gegenüber Telepolis.

1941 kam es zum Prozess gegen die Eltern. „Die Gefängnisse liefen über, ab und an wurde gesäubert und mit Listen einige Leute abgeholt“, sagt Muñiz. Vielen wurde nie ein Prozess gemacht, sie wurden erschossen und irgendwo „in einem Graben oder Loch wie Hunde verscharrt“. Doch das Schnellgerichtsverfahren wegen Raub nahm eine plötzliche Wendung. Eine Zeuge erklärte vor dem Kriegsgericht, „er habe gehört“, wie die Mutter Águeda einmal erzählt habe, sie habe drei Frauen ermordet. Dafür gab es weder Zeugen der Tat, noch Leichen, noch konnte das Gericht auch nur einen Namen der angeblich Ermordeten feststellen. Das hinderte das Gericht aber nicht daran, die Eltern wegen Mordes und wegen Unterstützung und Aufstachelung zur Rebellion zum Tod zu verurteilen. Am 6. April wurde das Urteil in Paterna vollstreckt, wo die Eltern noch heute in einem Massengrab liegen.

Nach dem Tod des Diktators 1975 begann die Zeit der Hoffnung für Muñiz. „Wir dachten, dass das Unrecht jetzt bereinigt wird.“ Dabei spricht er nicht von der täglichen Dresche, die er als Sohn der „Roten“ täglich von den Nonnen im Waisenhaus erhalten hat. Er wollte mit vielen Franco-Opfern Gerechtigkeit. Bei den Wahlen 1982 setzten sie ihre Hoffnungen auf die Sozialisten (PSOE), also dass die Partei nach dem Wahlsieg die Vergangenheit aufarbeitet und die Massengräber öffnet, in denen bis heute Zehntausende meist unidentifiziert liegen (Die spanische Vergangenheitsbewältigung des Faschismus kommt spät in Gang).

Deutlich steigt dem 71-Jährigen noch heute die Wut in die Stimme, wenn er von den Vorgängen spricht. „Meine Eltern wurden für ein Verbrechen bestraft, das sie nie begangen haben.“ Fast noch mehr schmerzt ihn aber die „historische Lüge“, die mit dem Urteil verbunden ist. „Sie wurden wegen Unterstützung zum Aufstand verurteilt, doch der Aufstand ging von den Putschisten gegen die legitime Republik aus“, empört er sich.

„Dass meine Eltern von den Faschisten erschossen wurden, wäre eine Ehre für mich.“ Sie aber über einen Mord zu Kriminellen zu stempeln, um ihre Verbrechen zu verdecken, dagegen richtet sich er sich seit vielen Jahren und will das Unrechtsurteil annullieren. So machte er sich nach dem Wahlsieg der PSOE 1982 daran, Dokumente zu suchen. Er schrieb an den neuen sozialistischen Verteidigungsminister Eduardo Serra. Der blieb ihm drei Jahre eine Antwort schuldig. Auf weitere Nachfrage wies Serra ihn ab. Er müsse den Rechtsweg bestreiten, sagte er, obwohl bis dahin nie ein Verfahren zur Prüfung eines Kriegsgerichtsurteils aus der Diktatur angenommen worden war.

Massengrab aus der Franco-Zeit bei Burgos

"Noch heute gilt in Spanien faschistisches Recht"

Beim Generalkapitanat der Armee in Valencia erreichte es der Stahlarbeiter durch dauerndes Vorsprechen, an einige Dokumente zu kommen. Darunter war auch das Urteil, das er dann mehr als 40 Jahre nach der Ermordung der Eltern in den Händen hielt. Damit konnte er belegen, dass es weder Leichen, noch Zeugen, noch Namen der angeblich von seiner Mutter ermordeten drei Frauen gab. Es wurde auch klar, dass der „Zeuge“ seine Meinung änderte und plötzlich den Vater beschuldigt hatte.

„Mit den Dokumenten wollten sie mich beim Generalkapitanat abspeisen, weil sie glaubten, es ginge mir darum, an eine Rente zu kommen.“ Der Generalkapitän sei aber der einzige gewesen, der sich um seinen Fall bemüht habe. Er bot ihm sogar eine Amnestie für die Eltern an, um die Rente zu erhalten. Doch darum ging es ihm nicht: „Was soll ich mit einer Amnestie? Ich will, dass die Urteile auf Basis der Dokumente der Faschisten geprüft werden, damit das Unrecht festgestellt wird.“ Die Beteiligten an den Vorgängen seien längst gestorben und Geld wolle er ohnehin nicht.

Mit den Dokumenten gelang ihm in Spanien ein historischer Erfolg Vor zwei Jahren, 28 Jahre nach dem Tod des Diktators, nahm erstmals der Oberste Gerichtshof einen Revisionsfall zur Prüfung an. Doch den Richtern der Militärkammer sei schnell in die Parade gefahren worden, meint Muñiz. Der Fall wirbelte Staub auf und weitere Angehörige begannen die Revision der Urteile zu fordern. Es sollte verhindert werden, dass wenigstens die vielen Militärgerichtsurteile einer Revision unterzogen und eine juristische Abrechnung mit Diktatur beginnt. Denn es gibt sogar eine Rechtsgrundlage. „Das Militärprozessrecht gibt den Kindern die unbegrenzte Möglichkeit zur Revision des Urteils.“ Die Frist läuft erst mit deren Tod ab. Diese Möglichkeit ist den Angehörigen von Zehntausenden verwehrt, die ohne jedes Verfahren an die Wand gestellt und in Massengräbern verscharrt wurden (Spanische Regierung zeigt erneut, wo sie steht).

Genützt hat dem Valencianer dieser Rechtsanspruch nichts. Die Richter verschanzten sich dahinter, dass die Urteile auf Basis „geltenden Rechts“ gesprochen worden seien. Die Politiker müssten die Gesetze ändern. Die „professionellen Betrüger“, wie Muñiz Politiker nennt, „müssten vor Scham darüber im Boden versinken, dass noch heute in Spanien faschistisches Recht gilt.“ Man müsse sich das in Deutschland oder Italien einmal vorstellen. Bis heute habe es keine Säuberung gegeben. Die Faschisten, deren Richter, Militärs, Polizei, Nachkommen oder Begünstigte säßen bis heute überall auch auf hohen Posten.

Francos monumentales Grab Santa Cruz del Valle de los Caídos

Dass die Volkspartei (PP), in der sich die Ex-Franquisten weitgehend sammelten, nichts geändert hat, verwundert Muñiz nicht (Im Bett mit Franco). Seit Monaten versucht die PP zum Beispiel zu verhindern, dass den Katalanen die Dokumente zurückgegeben werden, welche die Putschtruppen nach dem Fall Kataloniens geraubt hatten. Die würden den Opfern dort bei der Suche ihrer Angehörigen oder von Nachweisen über die Verfahren unterstützen. 499 Kisten lagerten bisher im Zentralarchiv von Salamanca. Die sozialistische Regierung hatte mit Hinweis auf das Gutachten einer Expertenkommission die Forderung der Katalanen als berechtigt bezeichnet. Die Kulturministerin Carmen Calvo betonte, es entspreche der Linie der Vereinten Nationen, Kriegsbeute zurückzugeben.

So hatte die PP im vergangenen Juni Zehntausende Menschen nach Salamanca mobilisiert, um gegen die Rückgabe zu protestieren und auf Transparenten wurde dabei unter anderem gefordert, die Kultusministerin an die „Wand zu stellen“. Am Mittwoch gab der PP-Bürgermeister Julián Lanzarote dann die Parole aus: „Kein Papier aus den Archiven wird diese Stadt verlassen.“ Er verhängte ein Ladeverbot um das Nationalarchiv, um den Abtransport zu boykottieren und wies die Lokalpolizei an, das Archiv zu bewachen. Unter dem Schutz der Nationalpolizei wurden die Kisten schließlich abgeholt und befinden sich nun in Madrid.

Trotz der zaghaften Schritte der Sozialisten ist Muñiz aber auch enttäuscht von der PSOE. Felipe Gonzales habe schließlich 14 Jahre bis 1996 regiert, dessen Großvater ebenfalls an die Wand gestellt worden sei. Doch auch vom neuen sozialistischen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero, der vor knapp zwei Jahren ins Amt gewählt wurde, erwartet er nicht viel: „Wenn Politiker auf ein bestimmte Stufe erreichen, werden sie alle gleich.“

Da seit dem Wahlsieg keine Gesetze geändert wurden, wunderte es Muñiz nicht, dass das Verfassungsgericht seine Klage im Juni zurückgewiesen hat. Mehrfach schrieb er Zapatero persönlich an und hat ihm zuletzt auch eine Kopie des Verfassungsgerichtsurteils geschickt. Auf eine Antwort wartet er noch immer. Dessen Wahlversprechen, die Opfer der Diktatur zu rehabilitieren, habe er nicht eingehalten, einen vorliegenden Gesetzesentwurf nie verabschiedet.

Doch nach der erneuten Absage kann der kämpferische Alte vor den Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg ziehen. 64 Jahre nach der Ermordung seiner Eltern ist der Rechtsweg in Spanien ausgeschöpft. „Ich bin die Skala in Spanien von unten bis oben abgelaufen und das ist notwendig, um nach Strassburg zu ziehen.“ Die Frist, innerhalb eines halben Jahres Klage einzureichen, hat er eingehalten. Deshalb rechnet er sich gute Chancen aus, dass der Fall angenommen wird, auch wenn viele abgelehnt werden. In die übergeordnete Instanz hat er die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Er erwartet vor allem, dass er die Rehabilitierung seiner Eltern noch erlebt und die vielen Franco-Opfer endlich eine moralische Wiedergutmachung erfahren.

Das fordern auch die Opfervereinigungen für 2006. Das Jahr soll zum Jahr der Erinnerung an die Republik werden. Im April wird der 75. Jahrestag von deren Ausrufung begangen und im Juli wird dem beginnenden Aufstand faschistischer Truppen gegen die Republik erinnert. Die Opfer haben erneut die Regierung aufgefordert, endlich das versprochene Gesetz zur Verurteilung des Franquismus und für die Wiedergutmachung der Opfer zu beschließen.