Der Normalbürger in der Krise

"Sommer vorm Balkon" von Andreas Dresen erforscht die Poesie der Pilsstuben

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Die beiden Décolletés auf dem Plakat samt dem schlafenden Hauptdarsteller versprechen Gaudihaftes. Doch "Sommer vorm Balkon", der neue Film von Andreas Dresen, ist keine liebliche Sommerposse. Schon die Kompromisslosigkeit der Musikauswahl erschreckt den Schöngeist: Deutscher Schlager der 70er dudelt aus den Pilsstuben-Lautsprechern. Die Menschen tragen offene Jeanswesten, Neonfarben oder Jogginggeschlabber. Deutschland sieht frustriert aus in "Sommer vor dem Balkon", ist arbeitslos, alt oder Alkoholiker, und spricht so, wie die Schnabel zumindest in Berlin so wachsen.

Dass der deutsche Film so kräftig bestöhnt wird, liegt auch daran, dass man die Schauspieler zu gut kennt. Den Pitt Bratt oder die Bulldog Sandra muss man nicht auch noch bei Kerner ertragen, Frau Ferres oder Herrn Ochsenknecht indessen in der Werbung, in der Klatschspalte und in diversen Talk-Shows. Die heimischen nennenwirsiemal Stars werden daher oft inniger gehasst. So rennen sich kritisch wähnende Geister zwar in Filme mit Tom Cruise, aber grundsätzlich nicht in solche mit Till Schweiger, obwohl der Ekligkeitsquotient ungefähr gleich hoch sein dürfte. Aber Tom war halt schon mal der Sohn von Jason Robards, und Till nur in der Lindenstrasse.

Und ab einem gewissen Bekanntheitsgrad machen sich deutschsprachige Darsteller eben schon aufgrund der größenwahnsinnigen Stoffe lächerlich: Klaus Maria Brandauer chargiert als Julius Caesar in einem Euro-Schrott namens "Vercingetorix", Frau Ferres ist in diversem Historien-Krempel ergriffen von sich selbst, und alle anderen spielen Hitler, Goebbels, Dietrich, Speer, Brandt, Mann oder mindestens Genscher, außer Götz George, der - wahrscheinlich beleidigt, weil er nicht Hitler spielen durfte - neuerdings in TV-Bergfilmen herumknattert.

Wie wohl tun da im Vergleich die Filme von Andreas Dresen, in denen keine ausgeleierten TV-Gesichter herumschmieren. Wie wohl tut es ausserdem darin Dialoge zu hören, die nicht voll jener Phrasen sind, die schon jeder Frühstücksmoderator seit dem jungen Gottschalk selig im Repertoire hat. Mit "Sommer vorm Balkon" untersucht Dresen wieder sein schon bei "Nachtgestalten", "Halbe Treppe" und "Die Polizistin" bevorzugtes Forschungsobjekt: Den Normalbürger in der Krise.

"Guten Morgen, Sonnenschein" Mit glockenheller, höchst unschuldiger Stimme singt da Nana Mouskouri vom kurzen heimlichen Glück im Dunkeln, einer nächtlichen Kopulation nämlich. "Diese Nacht blieb dir verborgen, doch du darfst nicht traurig sein." Das perfekte Lied für die tapfere Altenpflegerin Nike, die am Vorabend einen seltsamen Lulatsch abgeschleppt hat. Der Kraftfahrer Ronald ist in etwa so zweifelhaft wie die Getränke- und Musikauswahl in Nikes Wohnung. Sie hat durchaus ihre Freude an ihm, aber sie tut gut daran, dem Typen erstmal keinen Wohnungsschlüssel zu überlassen.

Auch bei ihrer Arbeit mit diversen Käuzen beweist Nike eine Mischung aus Menschenliebe und Hausverstand, die ihrer Nachbarin Katrin derzeit abgeht. Arbeitslos und frustriert wohnt diese mit ihrem Sohn Max im Erdgeschoss. Tags bewirbt sie sich vergebens und abends sitzt sie auf Nikes Balkon, wo die beiden Frauen ihre Freundschaft zelebrieren. Man schüttet seine Sorgen ordnungsgemäß zu und belästigt dann den Apotheker gegenüber mit backfischhaften Anrufen.

Unschicke Welt

Natürlich kommt auch der Filmemacher Dresen bei seinen Kleinbürgern nicht um die Klischees rum. Zum Beispiel glaubt ihm keiner, dass moderne Maiden, und seien sie noch so unterschichtig, wirklich dauernd derart beknackte Schlager laufen lassen. Anonsten verzichtet der Film aber weitgehend auf jene billigen Schnörkel, mit der der deutsche Film gern sein dünnes Unterhaltungsprogramm garniert, sondern ist eben nur ein bisschen trivial, ein bisschen kummervoll und ein bisschen niedlich, streckenweise aber ziemlich wahrhaftig. Durch die gewohnt gute Schauspielerführung, ein Gespür für Details, sowie die knappen, präzisen Dialoge von Wolfgang Kohlhaase sind Laien wie Profis wieder ungemein lebensecht. Mitunter wähnt man sich in einem Dokumentarfilm, wenn etwa im Bewerbungskurs diskutiert wird oder eine Agenturangestellte freundlich daherbayerlt. Selbst bei den Teenie-Darstellern entstehen keinerlei Peinlichkeiten.

Die Speichertreffen von Jungs und Mädels sind so krampfig und pseudocool wie eh und je. Die Profis wirken daneben kein bisschen wie jene verkleideten Scharlatane aus den Sat1- oder RTL-Krimis, sondern fügen sich bestens in Dresens Realismus. Nadja Uhl spielt die anproletete Vorstadtblondine so patent und herzlich, dass jede Oma bei ihr bestens aufgehoben wäre. Die Frustrolle der Katrin übernahm die mutige Inka Friedrich, und nach dem Film will man schon fast bei ihr Klingeln, um bei einer Tasse Tee rauszukriegen, ob wieder alles in Ordnung ist. Andreas Schmidt hat bisher viel zu unbejubelt in den Filmen von Eoin Moore mitgewirkt. Nun spielt er einen aufgeräumten Knallkopf, der seine Abgründe weitgehend verbergen kann, aber eben nicht immer. Schmidt wirkt wie hineingeboren in die Dresens unschicke Welt.

Schade, dass diejenigen, deren Leben hier porträtiert wird, den Film wohl nicht ansehen werden. "Sommer vorm Balkon" ist für den Samstags-Videoabend nicht quadratisch-praktisch genug, nicht sexy, nicht turbulent und nur bei genauer Betrachtung romantisch. Er spielt in grintigen Eckkneipen und irgendwelchen Wohnzimmern und im Speicher, und der Berliner Sommer holpert dort halt so dahin, mal anstrengend, mal tröstlich. Mit dem alten Oskar, der sich anbieselt. Mit Helene, die nochmal Akordeon spielt, bevor sie tot umfällt. Und dem freundlichen Apotheker, mit dem es vielleicht doch noch was wird, wahrscheinlich aber eher nicht. Und bei allem eigenen Kummer ist es für Katrin und Nike zuallererst mal "wunderschön", wenn der pubertierende Max seine ersten Liebeskummertränen vergießt. Genauso wunderschön, wie ein doofer Schlager, der einen morgens weitermachen lässt.