Seltsame Auferstehung

Impressionen aus New Orleans 4 Monate nach Katrina

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Am 16.12. berichtete die Süddeutsche Zeitung: „Auf der gesamten Einkaufsmeile des Garden Districts hat erst ein einziger Coffeeshop wieder geöffnet.“ Ein Cappucino soll 5 Dollar gekostet haben.

Der leergefegte Jackson Square, 11 Uhr Ortszeit am 21. Dezember 2005. Normalerweise wäre dieser Platz voll mit Touristen, Straßenmusikern, Akrobaten, und „normalsterblichen“ New Orleanians. So leer erlebte man früher den Platz nicht einmal um 5 Uhr morgens am Sonntag. In den vielen Kneipen, Coffeeshops und Restaurants, die geöffnet haben, sitzen fast nur Einheimische und FEMA („THW“)-Kräfte.

Seltsame Auferstehung, denn vier Tage nach Erscheinen des Berichts in der SZ hatten unzählige Coffeeshops ihre Pforten geöffnet, und zwar nicht nur im Garden District. Mehr als $3,25 musste man nirgends zahlen, und das war der Preis für die extragroße Tasse. Überall gab es kostenlosen Internetzugang und Steckdosen für den stromhungrigen Schlepptop.

Im Coffeeshop „Zotz“ im Stadtteil Carrollton wird man zuweilen von einem Transvestiten bedient. Ganz am anderen Ende der unversehrten Stadtteile hat das Clover Grill im French Quarter seit dem 30.12. wieder 24 Stunden geöffnet. Man sitzt auf Barhockern neben Fremden und blickt auf die Küchenzeile hinter dem Tresen, wo die Köche Radkappen als Deckel auf die Pfannen legen – und zwar nicht erst seit Katrina. Der Kellner ist diesmal kein Transvestit, sondern ein ganz normaler Schwuler. Und da er nicht weiß, wer zu wem auf den Barhockern gehört, erklärt er mit ernster Miene: „Damen zuerst! Also, wer von euch ist denn die Dame?“

Der Geist von New Orleans hat überlebt!

In einer Kneipe bekomme ich mein Getränk von einer wildfremden Frau mit einem Lächeln und den Worten serviert: „Here you go, darlin’.“ Musik liegt in der Luft. Drei Frauen stürzen lachend aus einem Geschäft auf die Straße im Vieux Carré, dem französischen Viertel, und singen alle zusammen „You better shape up, ’cause I need a man“ aus dem Film „Grease“. Szenenwechsel: Ein Verkäufer unterbricht seine Verkaufsmasche und singt plötzlich die Soulnummer mit, die im Radio im Hintergrund läuft.

In den Mid-City Lanes wird in einem erhöhten Gebäude mitten in einem zerstörten Gebiet zu Zydeco-Musik gekegelt. Auf einem 4x3m großen Riesenbildschirm läuft eine Sendung zum Angeln. Hinter den 16 Kegelbahnen übertönt eine Liveband die Sendung mit Musik aus den Sümpfen: Rock&Roll auf Gitarre, Akkordeon, Schlagzeug und Waschbrett. Gut hundert Menschen tanzen. Fast ein Zehntel der Paare ist deutlich rassisch gemischt. Alle sehen glücklich aus. Sie haben das Wichtigste nicht verloren.

Allein in der Frenchman Street im Stadtteil Marigny gibt es mehr Livemusik, als man an einem Abend bewältigen könnte. Im Snug Harbor spielt Ellis Marsalis, Altvater des Jazz und Vater des Marsalis-Klans, der ab Ende der 1970er die Jazzszene in den USA komplett umkrempelte. Ellis bedankt sich für die Unterstützung der Einheimischen, die den Laden immer wieder füllen, seitdem keine Touristen mehr da sind. Sein sechster Sohn Jason sitzt am Schlagzeug – der fünfte Sohn, der es zum Weltklasse-Jazzmusiker geschafft hat.

Gegenüber vom Snug Harbor spielen die Jazz Vipers altes Liedgut im Spotted Cat. Alteingesessene tanzen dazu den Lindy Hop aus den 1920ern – laut „Spiegel“ eine Heirat für drei Minuten. Nebenan spielt eine Funk-Band im Club d.b.a., dann noch eine Bluesband in einer vierten Kneipe. Und schließlich wäre noch das Café Brazil an der Ecke – den Block schafft man an einem Abend nicht, auch nicht werktags, und da war man noch gar nicht im French Quarter, Tipitina’s, der Oak Street und der Willow Street im Carrollton.

Characters, not people

Dabei hat New Orleans im Moment nur 70.000 – 80.000 Einwohner. „Nein“, korrigiert mich mein verzauberter Besuch aus Deutschland, „New Orleans hat gar keine Einwohner, sondern nur romanreife Typen.“ Ein alter Mann betritt den Spotted Cat mit einer lebenden Katze um den Hals, die ihn den ganzen Abend nicht verlassen wird. In einem Café beginnt ein am ganzen Körper tätowierter Biker ein Gespräch mit mir über die Literatur und Buchhandlungen in San Franscisco; der Rocker empfiehlt mir außerdem einen ruhigen Spaziergang unter den Redwoods in einem Wäldchen nahe San Francisco. In einem anderen Café bricht ein spontanes Gespräch unter Fremden über das Zehnte Gebot aus: Ist es wirklich sündhaft, jemanden nur zu begehren, ohne die Lust in die Tat umzusetzen? Ist es möglich, niemanden außer dem den eigenen Partner ein Leben lang zu begehren?

Wahrscheinlich gibt es keinen besseren Zeitpunkt, um New Orleans zu besuchen. Fast alle Attraktionen haben den Sturm und die Flut heil überstanden, und die Stadt hat ausnahmsweise wenige besoffene Touristen. Wer jetzt kommt, taucht tief in die Kultur ein, denn alle Einheimischen rücken zusammen und demonstrieren, was die Stadt einzigartig macht.

Überall wird nur von Katrina gesprochen. Wer hat was abgekriegt? Eine Sängerin von den Pfister Sisters erklärt lachend zwischen den Stücken, dass man mit dem Trinkgeld - man zahlt keinen Eintritt, sondern die Musiker lassen den Hut rumgehen - ruhig großzügig sein darf, denn sie hat keine Stelle mehr als Lehrerin: Erst im Frühjahr machen die ersten Schulen langsam auf. New Orleans hat (außer im Westbank auf der anderen Seite des Mississippi) im Augenblick keine Kinder im Schulalter. Gemeckert wird aber selten, eher gefeiert. Auf Anfrage erklärte der Bassist von Walter Wolfman Washington in der Pause, die Band sei glimpflich davon gekommen: Nur der Schlagzeuger habe alles verloren. Dann wird nach der Pause weiter gespielt, was das Zeug hält.

7 Stunden mit Winden bei rund 150 km/h haben ihre Spuren hinterlassen, wo die Bausubstanz nicht mehr ideal war. Hier ein Gebäude, in dem der Film „Down by Law“ zum Teil gefilmt wurde. Ein Foto von diesem Gebäude vor einem Jahr kann man hier finden. Ansonsten sieht man auch in den Stadtteilen, die nicht überflutet wurden, viele abgebrannte Häuser, denn als der Strom in der Stadt nach 4-5 Wochen wieder zugeschaltet wurde, gingen manche Häuser sofort in Flammen auf. Ironischerweise mussten zugereiste New Yorker Feuerwehrleute einen Brand in einem Gebäude mit der Hausnummer 911 im French Quarter löschen.

Fährt man den ganzen Streifen von der Marigny bis zum Riverbend am Mississippi entlang („the sliver on the river“, wie einer es sagte), ahnt man wenig vom Ausmaß der Katastrophe. Komisch fällt vor allem auf, dass überall in Restaurants und Läden nach Arbeitskräften gesucht wird. Die Arbeitslosigkeit liegt wohl bei Null. In Restaurants wird eine Einstellungsprämie von $2.000-6.500 Dollar angeboten. Der Mangel an Arbeitskräften macht sich deutlich am Geschirr bemerkbar: Vielerorts wird auf Styroportellern mit Plastikbesteck serviert, und zwar nicht nur in Fast-Food-Ketten. Eine Kellnerin erklärte, man habe einfach niemanden zum Spülen.

Bis auf die offensichtlichen Windschäden würde man im Sliver on the River nicht vermuten, dass die Stadt rund 5 Straßen nördlich von St. Charles Avenue (auf der See-Seite, der die Stadt überflutete) mehr oder weniger endet, besonders wenn man die liebevoll verkommene Stadt vorher kannte. Man fragt sich vielerorts, welche Schäden Katrina zuzumuten sind, und was schon immer so war.

Viele Ampeln funktionieren immer noch nicht. Die Einheimischen halten an den Kreuzungen und geben sich gegenseitig mehrmals die Vorfahrt, bis einer endlich fährt. Keiner hat es eilig. Auf der Speisekarte im Clover Grill steht: „Wenn Sie nicht innerhalb von 5 Minuten bedient werden, beruhigen Sie sich, es könnte noch 5 Minuten dauern. Das hier ist nicht New York City.“

„Tent City“ – die Zeltstadt auf dem größten Parkplatz am French Quarter neben Jax Brewery. Hier halten sich die FEMA-Mitarbeiter auf, wenn sie nicht im Einsatz oder in den Striptease-Kaschemmen der Stadt sind. Gerne bleiben sie unter sich, denn die Stadt fühlt sich wohl von der FEMA im Stich gelassen – zu lange hat man auf Hilfe warten müssen. Der Betreiber eines Bed & Breakfast erklärte, er nehme lieber gar niemanden auf als FEMA-Mitarbeiter.

Um so seltsamer die Abservierung im K-Paul’s, einem der besten Nobelrestaurants der Stadt. In Frankreich bestellt man einen Tisch im Restaurant für den ganzen Abend. In den USA wird dagegen am Fließband gespeist, und die Rechnung bekommt man ohne Bitte auf den Tisch geknallt, besonders wenn noch Gäste auf einen freien Tisch warten.

New Orleans war schon immer mehr französisch drauf - oder vielleicht war es die hispanische „mañana“-Mentalität. Jedenfalls erwartet man bei $60 pro Nase keine Hetze, zumal andere Tische frei sind. Um so absurder die Situation, als der Kellner mit dem Hauptgericht erschien, bevor die Vorspeise aufgegessen worden war. Der Kellner stand aber tatsächlich solange neben dem Tisch, bis wir uns den letzten Bissen feinsten Creole-Essens in den Mund gelöffelt hatten, damit er schleunigst abräumen und weiter servieren konnte. Wurde in der Not jeder als Kellner eingestellt? Oder herrschten im K-Paul’s schon immer amerikanische Essgewohnheiten?

Im Court of Two Sisters bestimmt man dagegen selbst das Tempo, denn dort herrscht die heiße Schlacht am heißen Buffet: Für rund $25 bekommt man in einem Innenhof im französischen Viertel (Sonnenschutzcreme bei 20° und Sonnenschein im Dezember nicht vergessen!) einen Brunch mit vielen lokalen Spezialitäten – ideal als Einstieg in die kreolische Küche. Doch auch dort sind die Spuren von Katrina unübersehbar: Statt der üblichen Jazzkombo spielt ein Einziger Banjo, und die „bus boys“ fehlen gänzlich – die Schwarzen, die die Getränke nachfüllten. Überall mangelt es an Menschen, die die Drecksarbeit gemacht haben, denn die Armen der Stadt sind größtenteils noch durch die ganzen Vereinigten Staaten verstreut. Die Dächer reparieren meist Mexikaner, die des Englischen nicht immer mächtig sind. Der Verdacht auf Ausbeutung drängt sich auf.

Probleme gibt es also genug, aber immerhin: Große Teile von New Orleans haben überlebt, und der Geist der Stadt lebt fort. Das kann auch als Problem angesehen werden, denn Menschen, die alles mit der Ruhe nehmen und lieber tanzen und gut essen statt zu arbeiten, können keine Deiche bauen: Die Flut war vorhersehbar und abwendbar. Katrina war nicht nur eine Naturkatastrophe, sondern von Menschen gemacht. Außerdem nahm New Orleans die Kluft zwischen Klassen und Rassen schon immer zu leichtfertig hin.

Es gibt also beim Aufbau vieles zu verbessern, aber zunächst muss mit Erleichterung festgestellt werden, dass es noch genug aufzubauen gibt. Kriegen wir das vor dem nächsten Orkan hin?

Diese Zeilen wurden mit Internetanschluss im Café Rue de la Course in der Magazine Street, Uptown, geschrieben, aber sie hätten genauso gut im Cafè Puccino gegenüber verfasst werden können.