Deutschland streitet über den Wert der Arbeit

Mindestlohn, Kombilohn oder gleich ein neues Wirtschaftssystem?

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Im Wahlmanifest der SPD war die Sache schon entschieden. „Die Tarifvertragsparteien sind aufgefordert“, so hieß es da, „bundeseinheitliche tarifliche Mindestlöhne in allen Branchen zu vereinbaren. Soweit dies nicht erfolgt oder nicht erfolgen kann, werden wir Maßnahmen für einen gesetzlichen Mindestlohn ergreifen.“ Noch zackiger brachte es der dritte von insgesamt „10 Gründen für Gerhard Schröder“ auf den roten Punkt: „Kündigungsschutz, Tarifautonomie und Mitbestimmung bleiben erhalten. Wenn tariflich nicht möglich, gesetzlicher Mindestlohn.“ Dass die SPD in absehbarer Zeit genötigt sein würde, dieses Programm in die Tat umzusetzen, war zum Zeitpunkt seiner Abfassung praktisch ausgeschlossen.

Bei der CDU schien es dagegen so, als ob sie sehr bald Gelegenheit bekommen würde, ihr seit vielen Jahren propagiertes Kombilohnmodell am leibhaftigen Arbeitslosen oder Geringverdienenden auszuprobieren. In den Erfurter Leitsätzen hatten sich die Christdemokraten bereits 1999 dafür ausgesprochen, im Niedriglohnsektor die Arbeitseinkommen durch ergänzende Sozialtransfers aufzustocken, weil so vor allem Langzeitarbeitslose „neue und gute Chancen für die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt“ bekämen.

Mit dem Kombilohn steht die CDU alleine da

Die große Koalition will nun eine Arbeitsgruppe einsetzen und hat eine Entscheidung vorerst vertagt, auch wenn es euphorische Gemüter wie Ronald Pofalla noch gar nicht gemerkt haben. Der schnittige CDU-Generalsekretär erklärte dem „Tagesspiegel“ Anfang letzter Woche, wie er seine Partei bei der Bundestagswahl 2009 über 40% hieven will und erläuterte bei der Gelegenheit auch die Machtverhältnisse innerhalb des zwangsweise geschlossenen Regierungsbündnisses.

Nur auf Drängen der Union hat sich die Koalition zur Einführung von Kombilöhnen entschlossen, damit gering qualifizierte Langzeitarbeitslose wieder Arbeit bekommen. Zusammen mit der von uns durchgesetzten Liberalisierung des Kündigungsschutzrechtes können wir die Arbeitslosenzahlen so schon im ersten Jahr strukturell senken. Dann wird die große Koalition ein Erfolgsschlager und das hilft dann auch der Partei der Bundeskanzlerin.

Ronald Pofalla

De facto kann von einer Einigung innerhalb der Regierungskoalition zum jetzigen Zeitpunkt ebenso wenig die Rede sein wie von einer Senkung der Arbeitslosenzahlen oder einem wie auch immer gearteten Erfolgsschlager. Selbst Pofallas Vorvorgänger Laurenz Meyer, der dank RWE persönlich erstklassige Erfahrungen mit Kombilöhnen gemacht hat und aus nicht unmittelbar einleuchtenden Gründen schon wieder Vorsitzender der Arbeitsgruppe Wirtschaft und Technologie der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geworden ist, sieht in der Maßnahme „kein Allheilmittel zur Beseitigung unserer Arbeitsmarktprobleme“.

Die SPD lehnt die Ausweitung des Kombilohnmodells, die für den Koalitionspartner ab dem 1. Januar 2007 denkbar wäre und möglichst aufkommensneutral realisiert werden soll, indem der Zuschuss geringer ausfällt als das jetzige Arbeitslosengeld II, ohnehin ab. Zwar teilt der arbeits- und sozialpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Klaus Brandner, die Unionsansicht, dass der Niedriglohnsektor „noch nicht hinreichend entwickelt“ ist. Die bereits vorhandenen arbeitsmarktpolitischen Instrumente - Hinzuverdienstmöglichkeiten für ALG II-Bezieher, Kinderzuschläge oder die teilweise Befreiung von Steuern und Sozialversicherungen bei Mini-Jobs - sind seiner Meinung nach aber bereits die entscheidenden Voraussetzungen für das finale Rettungsmanöver.

Von daher sind Schnellschüsse mit neuen Instrumenten fehl am Platze. Wir brauchen keine neuen Instrumente, sondern werden die bestehenden Programme zur Lohnergänzung bündeln und zu einem erfolgreichen Förderansatz zusammenfassen. (...) Was wir auf jeden Fall vermeiden müssen, ist eine Dauersubventionierung durch ein zusätzliches Instrument. Dies ist arbeitsmarktpolitisch nicht effizient und finanzpolitisch ein Irrweg.

Klaus Brandner

Letzteres sieht auch die CSU so, die der Schwesterpartei auf der traditionellen Klausurtagung in Wildbad Kreuth Mitte letzter Woche medienwirksam in die Parade fuhr. Verbraucherschutzminister Horst Seehofer warnte die Kollegen vor einem „Milliardengrab“ und verlangte, die Einführung von Kombilöhnen allenfalls mit einer Kürzung des ALG II zu verbinden. Unerfreuliche Mitnahmeeffekte befürchtet auch der Bundesverband der Deutschen Industrie, während sich Gewerkschaftsvertreter vor allem um die Stabilität der Tarifverträge sorgen, wenn staatliche Zuschüsse die Arbeitgeber zum Lohndumping animieren.

Tatsächlich lassen die Ergebnisse der bisherigen Tests nichts Gutes ahnen. Das sogenannte „Mainzer Modell“, das Geringverdienenden mit einer Wochenarbeitszeit von mindestens 15 Stunden einen Zuschuss zu den Sozialversicherungsbeiträgen und eine Erhöhung des Kindergeldes von bis zu 77 € je Kind in Aussicht stellte, hat das eigentliche Ziel, mit dem Lohn-Abstand zur Arbeitslosenhilfe auch die Arbeitsmotivation wachsen zu lassen, weit verfehlt. Zwischen dem 1. März 2002 und dem 1. März 2003 wurden lediglich 9.600 Arbeitslose gefördert, woraufhin ein über 250 Seiten starker, vom damaligen Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit in Auftrag gegebener Zwischenbericht zu dem kleinlauten Fazit gelangte:

Das Mainzer Modell ist auch nach seiner bundesweiten Ausdehnung bezogen auf die Zahl der realisierten Förderfälle deutlich hinter den Erwartungen zurück geblieben.

Drei Jahre Mainzer Modell – Eine Zwischenbilanz (August 2003)

Das Autorenteam um den Wirtschaftsforscher und Politikberater Bruno Kaltenborn bemängelte seinerzeit unklare politische Zielvorstellungen, personelle Defizite bei den Arbeitsämtern sowie anhaltende Kommunikationsprobleme.

Hinzu kam als ganz wesentliches Hemmnis für eine höhere Inanspruchnahme, dass gering bezahlte offene Stellen tatsächlich nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung standen, was in der Konzeption (ebenso wie bei vergleichbaren Vorschlägen) überhaupt nicht als Problem thematisiert worden war. Dies ist aus unserer Sicht ein zentrales Ergebnis, das sich in erheblichem Maße auf den Erfolg des Programms ausgewirkt hat. Eine wichtige Voraussetzung der Konzeption hat sich in der Praxis als nicht zutreffend erwiesen.

Drei Jahre Mainzer Modell – Eine Zwischenbilanz (August 2003)

Unter diesen Umständen dürfte auch der von Hans-Werner Sinn und seinem Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung präferierten Kombilohn-Variante einer „aktiven Sozialleistungs-Strategie“ wenig Erfolg beschieden sein. 2,3 Millionen neue Jobs und jährliche Einsparungen in Höhe von 9 Milliarden Euro verspricht sich Sinn, wenn Deutschland dem ifo-Slogan „Nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeit subventionieren“ folgt. Doch was in den USA und Großbritannien ansatzweise funktioniert hat und von der Grundidee – die Entlohnung für geleistete Arbeit deutlich attraktiver zu gestalten als den Empfang von Arbeitslosengeld – durchaus überzeugt, ist zum Scheitern verurteilt, wenn nicht genügend offene Stellen zur Verfügung stehen.

Auch der von der SPD geforderte Mindestlohn gilt nicht als Erfolgsmodell

Ob der Mindestlohn, dessen Einführung für die SPD die entscheidende Voraussetzung für weitere Diskussionen über Kombimodelle zu sein scheint, in dieser Situation weiterhelfen kann, ist nicht weniger umstritten. Da es in den Vereinigten Staaten und in den meisten europäischen Ländern längst einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die deutsche Wirtschaft durch ihn vollständig ruiniert würde, gering, auch wenn negative beschäftigungspolitische Effekte nicht ausgeschlossen werden können. Allerdings bestehen in der Höhe zwischen Luxemburg (1.467 €) oder den Niederlanden (1.265 €) und designierten EU-Mitgliedern wie Bulgarien und Rumänien (77 und 72 €) beträchtliche Unterschiede, und der Anteil der betroffenen Arbeitnehmer schwankt ebenfalls zwischen gut 1% in Spanien und über 16% in Luxemburg.

Wo Deutschland sich da positionieren will, ist bislang unklar, denn mit Ausnahme der Linkspartei, die zur Bundestagswahl einen Mindestlohn von 1.400 € in die Diskussion warf und dann fleißig über brutto und netto stritt, traut sich keine linke Fraktion an konkrete Zahlen heran. Es sei denn, sie dienen der Parteifolklore.

Aber dann lese ich das: Angestellter im Gartenbau: Stundenlohn 2,74 Euro; Friseur: Stundenlohn 3,18 Euro; Wachmann: Stundenlohn 3,91 Euro. Oder in Anzeigen: 173 Stunden im Monat, kein Weihnachts- und kein Urlaubsgeld - 800 Euro brutto im Monat. Wenn so etwas im Lande einreißt, dann macht das den Menschen Angst. Die Menschen haben das Gefühl, dass der Deckel obendrauf und der freie Fall nach unten eingeleitet ist. Das darf nicht sein. Wer Sicherheit in diesem Lande will, der muss an dieser Stelle auch klare Worte sprechen und sagen, was er will.

Franz Müntefering

Doch genau das tat auch Franz Müntefering nicht, der Anfang Dezember nach einer kurzen Besichtigung des Labyrinths aus Mindest- und Kombilöhnen, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftswachstum, Entsendegesetz und europäischer Dienstleistungsrichtlinie einigermaßen erschöpft zu Protokoll gab:

Ich sage ausdrücklich: In der Koalition ist die Meinungsbildung dazu noch nicht abgeschlossen. Das wird keine leichte Diskussion sein.

Franz Müntefering

Zumal sie nicht nur innerhalb der großen Koalition geführt wird. Mecklenburg-Vorpommerns Arbeitsminister Helmut Holter (PDS/Linkspartei), der sich grundsätzlich für die Kombi-Idee staatlicher Lohnkostenzuschüsse erwärmen kann, ließ verlauten, dass in seinem Bundesland weitergehende Anstrengungen nötig seien, um die katastrophale Lage am Arbeitsmarkt langfristig in den Griff zu bekommen. Holter warf deshalb das böse Wort vom öffentlichen Beschäftigungssektor in die Runde.

Selbst bei günstiger konjunktureller Entwicklung werden im Osten eine halbe bis eine Million Menschen keinen Job auf dem regulären Arbeitsmarkt finden. Denen müssen wir eine Chance geben, mit staatlicher Förderung gemeinnützige Aufgaben zu erfüllen, die für Unternehmen nicht Gewinn bringend genug sind.

Helmut Holter

Auch wenn Holters Vorschlag den dezenten Verwesungsgeruch eines bereits gescheiterten Wirtschaftssystems verströmt, ist seine Ausgangsthese offensichtlich nicht ganz falsch. Die Zahl und Qualität der offenen Stellen sind weder in der Lage, die unmittelbaren Arbeitsmarktprobleme zu lösen, noch können sie den Ansprüchen vieler Menschen an eine sinnvolle, befriedigende Tätigkeit gerecht werden.

Bedingungsloses Grundeinkommen

Außerparlamentarische Denkanstöße, wie sie beispielsweise von der Initiative Freiheit statt Vollbeschäftigung verbreitet werden, fordern deshalb eine radikale Umstrukturierung unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems.

Arbeitsleistung zur Grundlage der Teilhabe am Wohlstand zu machen, ist gerecht, solange Wohlstand überwiegend durch menschliche Arbeitskraft erzeugt wird. Heute aber wird menschliche Arbeitskraft mehr und mehr durch „Maschinen“ (Automaten, Computersoftware) ersetzt. Halten wir dennoch an der ausschließlichen Verteilung von Einkommen über Arbeitsleistung fest, führt das entweder zu steigender Arbeitslosigkeit oder zu sinkenden Einkommen.

Freiheit statt Vollbeschäftigung

Ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ für alle Bürgerinnen und Bürger soll die soziale Balance in Deutschland wiederherstellen und durch die Befreiung von jeglicher ökonomischer Zweckbindung Verantwortungsgefühl und Gemeinsinn schärfen. Helmut Pelzer und Ute Fischer von den Universitäten Ulm und Dortmund haben die Finanzierbarkeit des eigenwilligen Vorschlag bereits durchgerechnet und sind zu dem Schluss gekommen, dass er sich mit einem „leicht veränderten Einkommensteuertarif“ umsetzen lassen könnte.

In einer Pressemitteilung der Universität Dortmund erklärte der Soziologe Sascha Liebermann Anfang des Jahres:

"Wir bedürften keiner Arbeitslosen- und keiner Rentenversicherung mehr. Bafög-Zahlungen wären ebenso überflüssig wie Kindergeld." Da jedes ihrer Mitglieder ein Grundeinkommen erhielte, wären Familien besser abgesichert als heute. Die Sozialadministration, die den alten Systemen diene, könne abgebaut werden. Nicht das Schaffen von Arbeitsplätzen werde angestrebt, sondern radikale Automatisierung, wo immer möglich und vernünftig. Arbeitslosigkeit gäbe es nicht mehr, denn ein jeder Bürger wäre abgesichert und könne frei Initiativen entfalten. Damit verschwänden, so Liebermann, stigmatisierende Folgen gegenwärtiger Transferleistungen: denn das Grundeinkommen wäre ein Bürgereinkommen und keine Versorgung für den Notfall. Weder müsse ein Anspruch erworben, noch Erwerbsarbeit angestrebt werden. Sie wäre nur eine Möglichkeit unter anderen, zum Wohl des Gemeinwesens beizutragen.

Universität Dortmund

Fixierung auf die Erwerbsarbeit lösen?

Die psychologischen Folgen dieses Vorschlags können bislang ebenso wenig abgeschätzt werden wie seine Auswirkungen auf Steuereinnahmen, Wirtschaftswachstum, Kaufkraft, Teuerungsrate, Geschäftsklimaindex oder Sozialsysteme. Allerdings hat er den parteipolitischen Planspielen eines voraus: Durch die exzentrische Nicht-Berücksichtigung der real existierenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erzwingt die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens eine völlig neue Beschäftigung mit dem Wert und der Funktion von Arbeit in einer modernen Gesellschaft. Beides kann sich schließlich nicht dauerhaft in einer Aufblähung des Niedriglohnsektors erschöpfen, die im Wesentlichen dazu dient, an der Arbeitslosenstatistik kosmetische Korrekturen vorzunehmen.

Der Jenaer Philosophie-Professor Klaus-Michael Kodalle, der sich bereits Ende der 80er Jahre der „Eroberung des Nutzlosen“ widmete und später einen Sammelband zum Thema „Arbeit und Lebenssinn“ nachlegte, plädierte mit Verve gegen die „Vergötzung der Arbeit“ im europäischen Bewusstsein.

In der Antike und noch im Mittelalter wurde Arbeit keineswegs als sinnstiftend, sondern eher als notwendiges Übel betrachtet. Das Mittel zur Selbstverwirklichung hieß Müßiggang. Unser heutiges Verständnis von Arbeit ist also noch sehr jung, und nun wird es radikal in Frage gestellt, da immer leistungsfähigere Maschinen uns zunehmend vom Joch der Arbeit befreien.

Klaus-Michael Kodalle

Unter diesen Umständen sei nach der industriellen und digitalen nun endlich eine mentale Revolution nötig:

Viele Menschen müssen lernen, ihre zunehmende Freizeit wieder kreativ zu gestalten und sich nicht auf die Anerkennung in der bezahlten Erwerbsarbeit zu fixieren.

Klaus-Michael Kodalle

Konkrete Alternativen haben weder der Philosoph aus Thüringen noch die kecken Initiatoren von „Freiheit statt Vollbeschäftigung“ auf Lager. Doch da geht es ihnen nicht viel schlechter als den politischen Entscheidungsträgern. Auch denen fehlt eine Vision für die Gesellschaft des 21. Jahrhundert und eine Vorstellung davon, welchen Stellenwert die Arbeit als finanzieller sowie als sozialer, kultureller und persönlichkeitsbildender Faktor bekommen soll. Die Frage, welche Wertschöpfung diese oder jene Arbeit erzielt und wie der potenzielle Ertrag gerecht verteilt werden kann, lässt sich aber aller Wahrscheinlichkeit nach erst anschließend beantworten.