Auf der Flugbahn bewusster Steine

Tom Wolfe wagt sich aufs Terrain der Neurobiologen und entzaubert ganz nebenbei die heile Welt amerikanischer Elite-Universitäten

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Nicht nur an deutschen Bildungsanstalten, auch an der amerikanischen Ivy League scheint nicht alles Gold, was glänzt. Diesen Eindruck gewinnt, wer Tom Wolfes großartigen Roman „Ich bin Charlotte Simmons“ zur Hand nimmt. Der Autor entwirft darin das Sittengemälde einer moralisch versifften Gemeinschaft, deren Libertinismus zum bloßen Konformismus erstarrt ist. Vom hohen moralischen Anspruch jedenfalls, den diese Institutionen erheben, bleibt am Ende wenig übrig. Nichts in dem Buch erinnert an ein „Refugium alteuropäischer Strenge des Intellekts“, in denen „junge und alte Gelehrte lustwandeln und sinnen können“ und für eine „neue moralischen Ordnung“ ausgebildet werden. Statt spartanische Zucht, Selbstdisziplin und klösterliche Strenge bewegen Suff, Tittengrößen und Bulimie die Köpfe der Kommilitonen. Geachtet wird nicht der Wissende, der immer strebsam sich bemüht, sondern der Obercoole, der Unwissenheit mit gespieltem Desinteresse am besten zu kaschieren weiß. In diesem bildungsfeindlichen Klima, das von Party pur und knappen Höschen diktiert wird, geht es vor allem darum, Seilschaften (Fraternities) zu knüpfen, die im späteren Berufsleben nützliche Dienste leisten.

Ort des Geschehens ist Dupont, ein fiktiver Campus irgendwo an der Ostküste, der von großzügig gestalteten Grünflächen umgeben ist, an dessen altgotischen Gemäuern und Bauten der Efeu wild empor rankt. Daneben unterhält er üppig ausgestattete Bibliotheken und Nobelpreisträger, die den hoffnungsvollen akademischen Nachwuchs in die Geheimnisse des Geistes einweihen sollen. Äußerlich erinnert nichts an jenes hormondurchtränkte Innenleben zickiger Wohlstandsmiezen und muskelbepackter Großkotze, das Wolfe nach und nach entblättert. Doch schon der Prolog, der mit Fellatio und Defloration einsetzt und mit einer handfesten Schlägerei endet, gemahnt den Leser daran, dass es mit dieser Idylle nicht weit her ist.

Aufstieg von unten

An diese Universität verschlägt es Charlotte Simmons. Sie, ganzer Stolz ihrer Familie, hat soeben ihren Abschluss gemacht. So fantastisch, dass sie als allererste Schülerin aus dem Alleghany County ein Vollstipendium erhält. Voller Ambitionen, Tatendrang, aber mit mächtigen Flausen über diesen sagenumwobenen Ort im Kopf macht sich die Achtzehnjährige von Sparta, einem knapp tausendköpfigen Provinznest in North Carolina, auf, um Dupont für sich zu erobern. Bereits die ersten Tage geraten für das Mädchen aus den Blue Ridge Mountains, wo Sittenstrenge, Anstand und Moral noch was gelten, zum persönlichen Fiasko.

Ihr „reines Herz“, ihr ärmlicher Pietismus und ihr Südstaatenslang müssen zwangsläufig mit den sozialen Codes und Konventionen verzogener Großstädter kollidieren, die nichts anderes als coole Jungs, wohlgeformte Körper oder die Jagd nach „Frischfleisch“ im Sinn haben. Erst recht, als sie merkt, dass sie in Kreisen ihrer Geschlechtsgenossinnen zwar als „rückständiger Bauerntrampel“ gilt, ihr Marktwert bei den Jungs, was Intelligenz, Aussehen und Figur angeht, kaum höher sein könnte. Ihr „Leidensweg“ beginnt, als sie diese Vorzüge am männlichen Modell erproben will.

Dem Leser wird bald klar, dass Charlotte in diesem Umfeld, wo unbedingter Lernwille, rasche Auffassungsgabe und Fleiß nichts, soziale Währungen wie attraktives Aussehen, coole Klamotten und modischer Schnickschnack alles sind, ihre Unschuld kaum wird behaupten können. Nicht einmal dann, als Professor Starling, Neurobiologe und einer der Stars unter der Professorenschaft, auf sie aufmerksam wird und ihr einen Platz in einer seiner Labors anbietet.

Die Gruppe und der Zwang, einfach dazuzugehören, sind jedoch stärker. Die Lust zu leben und das Prestige, als Freshman zum Jahresball der coolsten Studentenverbindung eingeladen zu werden und dort an der Seite des begehrtesten aller Frat-Boys von anderen Girlies beneidet zu werden, siegen letztlich über die Aussicht, eine wissenschaftliche Karriere zu starten. Auf dieser Party wirft sie nicht nur alle ihre Prinzipien und Wertvorstellungen über Bord; sie tanzt und trinkt wie all die anderen und verliert in der bierseligen und sexuell aufgeheizten Stimmung ihr Jungfernhäutchen; sie fällt danach auch in eine mehrwöchige tiefe Depression, in der sie etliche Prüfungen versaut.

Reinigendes Feuer

Neben diesem Hauptstrang überzeugen vor allem die genauen Milieuschilderungen und Charakterstudien, die Tom Wolfe meisterhaft ins Werk setzt. Jede der am Campus vertretenen Gruppen wird genau von einem Protagonisten vertreten. Da ist der eitle Hoyt Thorpe, der die Welt der Studentenverbindungen repräsentiert; das ist zum anderen der weiße Basketballstar Jojo Johansson, der nur aufgrund sein sportiven Fähigkeiten auf dem Campus weilt; und da ist schließlich der weinerliche Adam Gellin, der den Intellektuellen mimt und die Welt aus den Angeln heben will.

Wie seinerzeit den Wallstreet-Millionär Sherman McCoy in „Fegefeuer der Eitelkeiten“ von 1987 oder den Immobilien-Milliardär Charlie Croker in „Ein ganzer Kerl“ von 1998 schickt Tom Wolfe auch diesmal seine Helden durch ein wahres Purgatorium, aus dem sie sonderbar geläutert und gestärkt, fast möchte man sagen, als Neu- oder „Wiedergeborene“ hervorgehen: Hoyt, der Impertinenz und Hochmut mit dem Verlust eines hochdotierten Jobs bei einer Investmentbank bezahlen muss, diesen Umstand zwar ungläubig, aber seltsam gleichmütig erträgt; Jojo, der seinen Stammplatz an einen schwarzen Freshman verliert und auf die Ersatzbank muss, dafür aber Sokrates und die Welt der Philosophie schätzen lernt; Adam, der zunächst von allen gehänselt, gedemütigt und erniedrigt wird, danach aber aufgrund eines Scoops zum Starjournalisten aufsteigt; und natürlich Charlotte, die Individualität und Jungfräulichkeit verliert, nach dieser Blamage aber als Person mental reifer, stärker und realistischer wirkt.

Lebenslügen der Institution

Auffallend ist, dass Wolfe wenig angetan ist von den hehren Werten, Sprüchen und Zielen, die Elite-Unis, mithin das „bessere Amerika“, Kunden und Angestellten versprechen. Schonungslos geht er ihrem Wirklichkeitszustand auf den Grund. Er deckt Abgründe und Widersprüche auf, zeigt Verlogenheiten und Lebenslügen, in die sich diese Gemeinschaften verwickeln, räumt mit der Legende auf, dass Intellektualität und Fleiß höher bewertet werden würden als das Vorrecht der Geburt, und seziert genüsslich ein Amerika, das kaum noch es selbst ist und ganz offenbar nach Orientierung lechzt.

Immer wieder mokiert er sich über die Auswahlkriterien, die den Zugang zu diesen Superinstitutionen regeln. Beispielsweise wie mit Ausleseverfahren, Punktesystemen und Anforderungsprofilen Schindluder getrieben wird. Der Zwang, „ein Profil auf nationaler Ebene aufweisen“ oder „sich aus der Masse irgendwie herauszuheben“, um überhaupt in den Pool intelligenter oder ambitionierter Kandidaten zu gelangen, scheint laut Wolfe manche Bewerber zu höchst kreativen Lösungen anzuregen. Sie „frisierten Vergangenheiten“ oder „bastelten sich Herkünfte zurecht.“

Verdammt wenig scheint Wolfe auch vom College-Sport zu halten. Warum wird nicht immer ganz klar. Vielleicht hat sich Wolfe, als er seinen Abschluss in Yale gemacht hat, über diese Vorgaben besonders geärgert. Nicht zufällig wird Holden Caulfield, der feinsinnige Held aus J. D. Salingers „Der Fänger im Roggen“, von einem der Athleten als „quengeliger, neurotischer Schlappschwanz“ zitiert. Er muss als Gegenbild und Anti-Held zu den mit Kreatin aufgepeppten Muskelprotzen und mit Gorillatestosteron hochgetunten Sportskanonen herhalten, die zu den am meisten geachteten Personen auf dem Campus zählen und aufgrund ihrer Hünenhaftigkeit und sportiven Manneskraft von nuttigen Mädels förmlich gejagt werden. Mal bezeichnet er Sportler als „Söldner“, die mit Geld und Ruhm bezahlt werden und mit ordentlichen Stundenten kaum in Berührung kommen, mal tituliert er sie als „Sklaven“, die ausschließlich wegen ihres sportlichen Talents eingekauft werden und in deren Pflege die Athletic Departements und Sponsoren der Universität Millionen von Dollars investieren.

Nichts entspricht hier dem hehren Ideal des mens sana in corpore sane. Stattdessen wird der College-Sport als Geldmaschine für abgebrühte Trainer dargestellt, die als Halbgötter gelten, und offenbar mehr Macht und Prominenz besitzen als Unipräsident und Nobelpreisträger. In diesem Millionengeschäft, das meist schwarze Athleten ausbeutet, die aber Prestige und Einfluss der Universität sichern, stören akademischer Ehrgeiz und akademische Brillanz nur. Damit dies nicht nach außen dringt, die Mär der Einheit von Körper und Geist erhalten bleibt, bieten Hochschullehrer für diese „Studenten“ eigene Dummy-Veranstaltungen an und honorieren schwache Leistungen oder geringes Leistungsvermögen mit guten Noten.

Doch auch all diejenigen, die sich für die moralisch Besseren halten, die Liberalen, die sich für Minderheitenprogramme, ethnische und sexuelle Diversität ins Zeug legen, bekommen ihr Fett ab. So vielfältig dieser akademische Teil Amerikas auch ist, so uniform, moralisch rigide und totalitär reagiert er, wenn jemand eine politische Meinung kundtut, die dem liberalen Lager missfällt oder von ihm abweicht. Besonders deutlich wird das in der Szene, wo eine Sportlergruppe so lange von diesen Gutmenschen provoziert wird, bis einen Athleten das Wort „Schlitzaugen“ über die Lippen fährt. Diese Bemerkung wird, als die Situation in eine handfeste Schlägerei zu münden droht, von der asiatischstämmigen Wortführerin rasch zur Waffe umgeformt. Sie deutet sie als rassistische Äußerung und kündigt an, sie zur Anzeige zu bringen, was wiederum einer Suspendierung des Sportlers vom Campus gleichkäme.

Ethnologe der eigenen Kultur

Gewiss handelt es sich hier auch um Fiktion, die mit Sprachwitz, aber auch mit Mitteln der Übertreibung und Zuspitzung gekonnt in Szene gesetzt wird. Andererseits gilt Tom Wolfe aber auch als Erfinder des „New Journalismus“, der Reportagen mit literarischem Stil paart und Literatur in Reportagen übersetzt. Er ist ein Realist, der jahrelang über ein Thema recherchiert und das umfangreich gehortete Material genau sondiert und gewichtet, bevor er es zu einem Roman verarbeitet. Weswegen er von vielen Beobachtern auch als legitimer Nachfahre so großer Autoren wie Dickens, Balzac oder Zola hofiert wird.

Für „Charlotte Simmons“ hat er beispielsweise mehrere Jahre auf den Campi in Stanford und Michigan ermittelt und auch an diversen Partys mit lauter Rapmusik teilgenommen. Eine so genannte Parkplatzparty, bei der Collegestudenten sich sinnlos besaufen, Mädchen auf Pick-ups landen und sich von Jungs befingern lassen, schildert er dermaßen realistisch, dass man sicher ist, hier einem Ehemaligen zuzuhören. Glaubwürdig wird das Ganze auch dadurch, dass Frat-Boy George W. Bush, der wie sein Rivale John Kerry einst in Yale derselben Fraternity angehörte, den Roman sogleich nach dem Erscheinen zu seinem Lieblingsbuch erklärt und es Freunden zur Lektüre empfohlen hat, Leuten, die gewiss nicht dem Leitbild des frommen Amerikaners entsprechen oder gar aus dem Milieu des Bible Belt stammen.

Die Tücken des freien Willens

Trotz akribischer Beobachtung, die ihn erneut als großen Kenner der Sprachen, Stile und moralischen Wirklichkeiten Amerikas ausweist, kann der Autor eine Schwäche des Romans nicht verdecken. Warum Charlotte Simmons ihre Begabung und intellektuelle Überlegenheit wegwirft und sie gegen die Anerkennung durch Leute eintauscht, die sie tief im Herzen eigentlich verachtet, wirkt nicht immer glaubhaft und überzeugend. Darüber scheint sich Wolfe auch klar gewesen zu sein. Weshalb auch ein neurobiologisches Experiment herhalten muss, das dem Roman vorangestellt wird.

Victor Ransom Starling entfernt als junger Forscher bei Katzen jenen Teil, der im Gehirn die Gefühle steuert. In der Folge geraten nicht nur die manipulierten Tiere, sondern auch noch die der Kontrollgruppe in Kopulationswahn. Der spätere Nobelpreisträger der Biologie zog aus dieser Entdeckung Konsequenzen für das Verständnis menschlichen Verhaltens: Intensive kulturelle oder soziale Erfahrungen, so genannte "Parastimuli", können dazu führen, dass „genetisch determinierte Reaktionen absolut normaler, gesunder Tiere“ nach einer gewissen Zeit außer Kraft gesetzt werden. Dies nährt den Verdacht, dass der Mensch vielleicht doch nur ein geworfener Stein ist, der seine „Geworfenheit“ (Heidegger) bewusst und sehenden Auges vollzieht.

Genau auf dieser Flugbahn, den Neurobiologen, Kybernetiker und Medienarchäologen seit einiger Zeit skizzieren, scheint sich Charlotte Simmons zu befinden. Sie agiert auf dem Campus wie eine Cruise Missile, die ihr Ziel zwar autonom ansteuert, deren Aufschlagspunkt ihr aber vor dem Start einprogrammiert worden ist. In solchen Umgebungen hat der Mythos vom freien Willen, den unsere Gesellschaften hegen und pflegen, keine Chance.

Tom Wolfe: "Ich bin Charlotte Simmons". Aus dem Englischen von Walter Ahlers, Karl Blessing Verlag, München 2005, ca. 800 Seiten, 24,90 €