Das Raster der Krankheit

Portionierung und Bezifferung der Ware Gesundheit - das DRG-Abrechungssystem

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Täglich ist in den Medien von der Praxisgebühr, der Situation Pflegebedürftiger und der elektronischen Gesundheitskarte die Rede. Ein integraler Bestandteil der "Reformen" im Gesundheitswesen, nämlich die Einführung des DRG-Abrechungssystems wird allerdings selten außerhalb der unmittelbar betroffenen Berufsgruppen diskutiert. Das ist nicht überraschend, denn es handelt sich hier um eine abstrakte, schwer in Kurzberichte zu fassende Materie. Andererseits wird damit eine Entwicklung von enormer Tragweite der öffentlichen Aufmerksamkeit entzogen.

Bis Ende der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts galt in den deutschen Krankenhäusern das Prinzip der vollen Kostendeckung, d.h. dass alle Kosten, die im Zusammenhang mit der Behandlung der Kranken standen, von den Krankenkassen übernommen wurden. Dann machte sich die viel beschworene "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen bemerkbar. Die Ursachen dafür sind vielfältig und sicher einer eingehenden Betrachtung wert, hier interessiert im Moment nur, dass diese als krisenhaft wahrgenommene Entwicklung mit einer Reform eingedämmt werden sollte.

Der damalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm wollte die Krankenhäuser 1988 mit Hilfe des Gesundheitsreformgesetzes dazu zwingen, wirtschaftlicher zu arbeiten, indem sie ihre Ausgaben mit den Krankenkassen abzustimmen hatten.

Klinische Kodierer gegen die Kostenexplosion

Bemerkenswerterweise schlug diese Reform fehl, so dass das Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 erstmals eine Möglichkeit zur "harten" Budgetierung von Krankenhausleistungen einführte.

Seitdem ist die Kostenexplosion im Gesundheitswesen fröhlich vor sich hin explodiert, ohne dass das die Reformer von ihrem Reformeifer abbringen konnte. Der neueste Trumpf in diesem Spiel kommt aus den USA und Australien, heißt DRG (Diagnosis Related Groups) und ist zunächst nichts anderes, als ein System zur Klassifizierung von medizinischen Dienstleistungen im Krankenhaus, die von den Krankenkassen beglichen werden.

Anhand eines dicken Katalogs von Diagnoseschlüsseln (sog. Codes) erfassen "Klinische Kodierer" Krankheitsbilder und ihre Behandlung im Nachhinein und leiten sie der Abwicklung durch die Krankenkassen zu. Der Abrechnung liegen Fallpauschalen zugrunde, die sich unmittelbar auf die DRG-Kodierungen beziehen.

Dieses System soll zu einer allgemeinen Standardisierung, Nachvollziehbarkeit und Transparenz der Leistungen und ihrer Abrechnung führen. Es scheint beabsichtigt, die 1993 eingeführten Budgets für Krankenhäuser langfristig völlig durch die "objektiven" Fallpauschalen zu ersetzen.

Eine ganze Branche reibt sich die Hände

Wirtschaftsberater jubeln: Mit den DRGs ziehe zum ersten Mal echter Unternehmergeist in das Krankenhaus ein, der neu ausgeübte ökonomische Druck verlange von den Kliniken ein Controlling nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben wie in der Industrie. Kein Wunder, dass sich eine ganze Branche die Hände reibt: Wenn erst einmal das Gesundheitswesen in dieser Art auf Trab gebracht worden ist, steht der Dauerberatung dieses unverzichtbaren Wirtschaftszweigs nichts entgegen.

Die DRGs und begleitende Instrumente (wie die Clinical Pathways etc.) definieren bei der Erschaffung des neuen Gesundheitsmarkts die Maßeinheiten: Wer die Ware Gesundheit auf den Markt werfen will, muss über "objektive" Möglichkeiten zur Portionierung und Bezifferung verfügen.

Andernorts ist die Freude nicht so groß. So zum Beispiel bei den Hochleistungsmedizinern, die glauben, dass das DRG-System auf besondere Fälle nur unzureichend ausgerichtet ist.

Extrem aufwändige Operationen, die nicht abgerechnet werden können, sind nun einmal in einer durchökonomisierten Krankenhauswelt nichts anderes als ein Klotz am Bein. Die Praktikabilität des Systems wird aber nicht nur von den medizinischen Eliten in Frage gestellt, sondern auch von den Leuten, die tagtäglich Routinefälle mit ihm bearbeiten müssen.

So gibt es zwar detaillierte Kodierrichtlinien für die zentral wichtige Festlegung von Aufnahme-, Haupt- und Nebendiagnosen, aber für Deutschland sind die australischen und amerikanischen DRGs auf eine Weise angepasst worden, dass die ohnehin existierenden Klassifizierungsgrauzonen noch ausgedehnt wurden und wackelige Ermessensentscheidungen gefördert werden.

Ob die Krankenkassen mit dem bereits jetzt feststellbaren Phänomen des Upcodings glücklich werden, kann man bezweifeln. Da das System sowohl eine untere, als auch eine obere "Grenzverweildauer" kennt, bei deren Unter-, bzw. Überschreitung Abschläge auf den Erlös fällig werden, steigt die Versuchung, Bagatellfälle durch die künstliche Ausdehnung des Aufenthalts "in den grünen Bereich" zu zerren, und schwerere Fälle früher als sinnvoll zu entlassen ( sog. "blutige Entlassung").

Die Hinweise mehren sich, dass durch die erzwungene Aufenthaltsverkürzung bei schwereren Fällen keineswegs Spareffekte erzielt werden, weil die Patienten zur Nachbehandlung zurückkehren müssen. Das heißt, dass ein einziger Krankenhausaufenthalt in verschiedene aufgeteilt wird, die alle ihren eigenen Behandlungs- und damit auch Verwaltungsaufwand nach sich ziehen.

Umständliche Änderungen an den Kodierungskatalogen

Die Modifizierung und Anpassung des Systems aus der Praxis heraus ist schwierig und kompliziert. Das ganze Regelwerk wird einmal im Jahr von zwei Zentralinstituten, dem InEK und dem DIMDI neu aufgelegt und erreicht die Kliniken in der Form von EDV-Programmen (den sogenannten "Groupern"),aber eben auch als papierene Handbücher.

Das ist möglicherweise aufgrund einer heterogenen IT-Landschaft im deutschen Krankenhauswesen notwendig, führt aber zu der absurden Situation, dass Informationen, die eigentlich jederzeit am Bildschirm abrufbar sein müssten, umständlich in den Handbüchern nachgeschlagen werden. Änderungen an den Kodierungskatalogen im laufenden Jahr sind zwar möglich, aber der Prozess ist umständlich, weil er verschiedene Hierarchiestufen durchläuft. Bis die Zentralen geschaltet haben und die aktualisierten Codes zurückfließen, vergeht naturgemäß eine ganze Zeit.

Insgesamt ist schwer zu übersehen, dass mit der Einführung der DRGs ein enormer bürokratischer Kontrollapparat mit den typischen Schwächen einer schlecht implementierten Planwirtschaft entstanden ist. Die Klinischen Kodierer müssen Arztbriefe und Krankenakten in DRG-Kodierungen umsetzen. Dabei werden sie vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen ständig überwacht. Der MDK existiert in der jetzigen Form schon seit 1989, avanciert aber mit der Einführung der DRGs praktisch zu einer Art Finanzpolizei im Krankenhauswesen.

Datenschutzalptraum der Extraklasse

Hauptinstrument bei Beanstandungen ist die sogenannte "MDK-Anfrage", aber Hausbesuche durch MDK-Mitarbeiter sind durchaus an der Tagesordnung. Dass bei der ganzen Datensammelei und -verwaltung das Grundmaterial für einen möglichen Datenschutzalptraum der Extraklasse geschaffen wird, versteht sich fast von selbst.

Wo kommen all die Klinischen Kodierer her? Zu einem ganz beträchtlichen Anteil handelt es sich bei ihnen um ehemalige Pflegekräfte, die entweder aus den Krankenzimmern wegrationalisiert wurden, oder den ständig steigenden Arbeitsdruck nicht mehr ausgehalten und sich nach anderen Möglichkeiten umgesehen haben. Die "Verschlankung" in der Pflege führt so unmittelbar zum Anschwellen eines Kontrollapparats, der die Energien bindet, die in den Krankenzimmern dringend gebraucht würden.

Bei dem jüngsten, erfolgreichen Streik an den baden-württembergischen Universitätskliniken waren nicht nur die Versuche der Klinikleitungen Thema, die Arbeitszeiten zu erhöhen, sondern auch die unmittelbaren Folgen für die Patienten, die sich einem immer gehetzteren und schlechter bezahlten Personal gegenüber sehen. Sie bekommen dabei auf Punkt und Komma nur die Leistungen, die vom DRG-System für angemessen gehalten werden.

Darüber wachen die Klinischen Kodierer, denen wiederum der MDK über die Schulter sieht. Dieses Wechselspiel von Rationalisierung, Normierung, Druck und Kontrolle erinnert fatal an die Frühzeit des Industriesystems, als ganze Gesellschaften mit Hilfe des Dreischichtbetriebs, der Stechuhr und normierter Bewegungsabläufe am Fließband zurechtgestutzt wurden. Der Taylorismus setzt sich im Gesundheitssystem durch, während er in der herkömmlichen Industrie scheinbar auf dem Rückzug ist. Ein Akt der nachholenden Modernisierung in der weißen Fabrik.

Ärzte: ausführende Organe eines Leistungskatalogs?

Manche Pflegekräfte möchten in diesen modernen Zeiten Chancen für sich und die Patienten sehen. Sie halten die neue Einzäunung ihrer Tätigkeiten für eine Aufwertung ihres Berufs im Sinne einer Professionalisierung. Das ist eine Sichtweise, die ihnen im Vorlauf zu den jetzigen Entwicklungen schmackhaft gemacht wurde, als sie Anfang/Mitte der Neunziger in sogenannten "Standardisierungsarbeitsgruppen" eigenverantwortlich Möglichkeiten finden sollten, in kürzerer Zeit mehr zu arbeiten.

Wer beim optimierten Workflow heute dauerhaft außer Puste gerät, sieht oft in den neuen Kontroll- und Verwaltungstätigkeiten eine Perspektive, die ihn vor den Segnungen des ebenfalls kaputtreformierten Sozialsystems bewahren kann.

Die Klinikärzte hingegen gehören zu den härtesten Gegnern des DRG-Systems.

Das ist kaum verwunderlich, denn mit den DRGs kommt auf die Ärzte nicht nur Mehrarbeit zu, sondern auch ein Machtverlust. Während sie zum Ausgleich für die ständig härteren Arbeitsbedingungen bisher am Krankenbett das Sagen hatten, sehen sie sich jetzt zu den ausführenden Organen eines Leistungskatalogs degradiert, der ihnen im Namen der betriebswirtschaftlichen Rentabilität sehr genau vorschreibt, was sie zu tun und zu lassen haben.

Natürlich gibt es auch sachliche Gründe für die Opposition gegen die DRGs. Es sind ja nicht nur die experimentellen Hochleistungen am Rande des Machbaren, die nicht in das DRG-Raster passen. Der schlechte Arzt mag durch die DRGs an die Standards seines Berufs und an die Transparenz seiner Buchführung erinnert werden, der gute wird sich noch mehr als bisher von einem System gegängelt fühlen, das ihm die Zeit und die Möglichkeiten nimmt, sich um die Patienten wirklich zu kümmern. Auch das steht hinter der wachsenden Unzufriedenheit der deutschen Klinikärzte.

Turbogeladene Mangelverwaltung

Standardisierung und Normierung könnten ja von Nutzen sein. Sie stellen gleiche Start- und Rahmenbedingungen für Routineprozeduren her. Unter anderen Vorzeichen könnten DRGs unabdingbare Voraussetzung der Vergleichbarkeit von Leistungen sein, ein nachgelagertes Instrument zur Diagnosenprüfung, eine Hilfe bei der Vermeidung von Doppelarbeit und Leerlauf, sowie ein mächtiges Mittel gegen Korruption und Täuschung.

In unserer Gesellschaft ist viel wahrscheinlicher, dass sie zum Instrument einer turbogeladenen Mangelverwaltung werden, die mit einem enormen bürokratischen Aufwand Ein- und Ausschlusskriterien für das festlegt, was als behandlungswürdig und bezahlbar gilt und was nicht. Die Interessen der Patienten und der Klinikmitarbeiter spielen dabei die geringste Rolle, sie werden die Hauptlast der kommenden Rationalisierungswellen zu tragen haben.

Vielleicht wäre ja sogar eine allgemeine freie medizinische Versorgung, die von einem unveräußerlichen Recht auf Unterstützung im Krankheitsfall ausgeht, letztendlich billiger als der Neubau riesiger Verwaltungstrakte neben der weißen Fabrik. Aber so etwas ist in der öffentlichen Debatte natürlich kein Thema. Zunächst einmal übernimmt die Schweiz in aller Eile das deutsche DRG-System, dessen Langzeitwirkungen noch unbekannt sind. Geht man nach den Reformerfahrungen der Vergangenheit, sollte man in Deutschland die Reform, die mit diesen Langzeitwirkungen zurechtkommen muss, für das Jahr 2015 gleich mitplanen.